#Wiegehtesuns? | Familie mit Pflegekind
Wutanfälle, Angst, Verunsicherung: Durch Corona sind Alltag und Psyche eines achtjährigen Mädchens völlig aus den Fugen geraten. Pflegemutter Karin L. und ihr Mann sind im Dauerstress. Von der Politik fühlen sie sich alleine gelassen. Protokoll einer Familienkrise.
Das Coronavirus stellt unser Leben auf den Kopf. In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Karin L. [Name von der Redaktion geändert), 44, und ihr Mann haben eine achtjährige Pflegetochter. Die Situation rund um Corona belastet die gesamte Familie. So geht es Karin:
Mein Kind ist acht Jahre alt und ein Pflegekind. Dieser Status hat vor Corona in unserem Alltag eine sehr untergeordnete Rolle gespielt. Natürlich weiß unsere Tochter, dass sie mit zwei Jahren zu uns in Dauerpflege kam und unter welchen Umständen das geschah. Damit kommt sie im Alltag eigentlich gut klar.
Auch schon vor Corona war uns klar, dass einige der emotionalen Schwierigkeiten unserer Tochter sicherlich mit den Erfahrungen, die sie als Kleinkind gemacht hat, zusammenhängen. Womit wir als Eltern nicht gerechnet haben, ist die Wucht, mit der die Corona-bedingten Änderungen in ihrem Leben sie treffen und aus ihrer Stabilität hebeln würden.
Auch wenn wir beruhigend auf sie einwirken und präsent sind, ist sie so tief verunsichert und verängstigt, dass sie ständig zwischen Aggression und tiefer Verzweiflung hin- und herschwankt. Wutanfälle gibt es täglich. Manchmal mehrere.Mein Mann und ich arbeiten im Regelfall beide im Home-Office – vielmehr eigentlich alle drei. Denn unser Kind soll ja auch Schule machen. Aber davon sind wir weit entfernt. Alleine geht bei ihr gar nichts mehr seit Corona. Und mit uns zusammen auch nur, wenn sie überhaupt gerade auf der Vernunft-Ebene ansprechbar ist. Seit Anfang Mai arbeite ich an einigen Tagen wieder im Büro, das ist eine große Erleichterung für mich.
Unsere Tochter geht an diesen Tagen in die Notbetreuung ihrer Schule – allerdings nur unter großem Protest. Wirklich wohl fühlt sie sich dort nicht, zumal sie wegen der Notbetreuung vom Präsenzunterricht ihrer Klasse ausgeschlossen ist. Der findet zwar nur einmal pro Woche statt, aber das hat sie trotzdem nur sehr schwer verdaut. Ihre Klasse fehlt ihr sehr.
Während ich dann noch arbeite, holt mein Mann unser Kind aus der Notbetreuung oder verbringt den Vormittag mit ihr in unserer Wohnung, macht dann Essen und beaufsichtigt sie weiter. Dann komme ich am Nachmittag nach Hause und "übernehme". Mein Mann kommt erst danach wieder zum Arbeiten. Ich wiederum versuche, mit unserem Kind einen Nachmittag zu verbringen, der nicht in andauernden Auseinsetzungen endet.
Die Wohnung will sie am liebsten gar nicht verlassen. Das neue Draußen macht ihr nämlich Angst. Von den ganzen Lockerungen bekommt sie daher relativ wenig mit. Die besten Tage sind die, wenn eine der beiden Freundinnen unserer Tochter, die sie treffen darf, Zeit hat. Dann löst sie sich etwas und lacht auch mal wieder.
Ich bin heilfroh, dass ich in einer stabilen Partnerschaft mit meinem Mann lebe. Auch wenn für Zweisamkeit natürlich keinen Raum bleibt derzeit.
Ich kriege mit, wie viele Familien zwar gestresst, aber doch relativ gut durch diese Krise kommen. Ich sehe aber auch, dass überall dort, wo es schon vorher aus irgendeinem Grund nicht rund lief oder Belastungen gab, die Probleme durch die Krise eher verstärkt wurden. Ich kenne mehrere Paare, die sich jetzt getrennt haben und einige Kinder, die nicht mehr hinter dem Computer hervorkommen. So eine Krise scheint alles zu verstärken.
Was eine Krise mit einem macht, findet man wohl erst heraus, wenn man eine durchlebt. Ich habe für mich selbst festgestellt, dass ich leider nicht so krisenfest und stabil bin, wie ich es vorher gedacht hätte.
Als Elternteil fühle ich mich natürlich allein gelassen von "der Politik". Ich hätte niemals gedacht, dass Deutschland die Schulen dicht machen würde (ich will gar nicht in Abrede stellen, dass das virologisch gesehen vielleicht das Richtige ist) und uns Familien – berufstätige Eltern, die produktiv und gut ausgebildet dazu beitragen, dass dieses Land trotz Krise weiter läuft – derart in der Luft hängen lässt. Dass Autohäuser und Biergärten vor den Schulen öffnen würden.
Zuletzt geweint habe ich, als gemeldet wurde, dass die Notbetreuung endet, in den Sommerferien der ganz normale Hort stattfinden soll und eine Chance auf halbwegs normale Schulbetreuung nach den Ferien besteht. Denn die (ganz normale) Schule ist für mein Kind und uns tatsächlich zum Sehnsuchtsort geworden.
Gesprächsprotokoll: Ula Brunner
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