#Wiegehtesuns? | Die Psychotherapeutin
Silvia L. hat als Psychotherapeutin viel mit Menschen zu tun, die wegen Corona in familiäre Konflikte geraten. Und überhaupt nimmt die Pandemie immer mehr Raum in den Therapiesitzungen ein. Dabei geht es auch um Impfangst. Ein Gesprächsprotokoll
Das Coronavirus stellt unser Leben auf den Kopf. In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Silvia L. arbeitet seit 1999 als KV-zugelassene Psychotherapeutin. Sie ist zusammen mit zwei anderen Therapeuten in einer Praxis in Berlin-Kreuzberg tätig. Wir haben mit ihr bereits im April 2020 gesprochen. Seitdem hat sich einiges verändert. So geht es Silvia:
Im Frühjahr 2020 war ich der Meinung: Im Sommer haben wir es überwunden. Aber das kam ja völlig anders. Ich habe dann eine zertifizierte Videosprechstunde installiert, als klar wurde, dass Menschen in Quarantäne gehen müssen und trotzdem eine therapeutische Sprechstunde haben möchten. Das ging jetzt auch wieder los mit der vierten Welle, da habe ich vermehrt Anfragen.
Die meisten Patienten kommen aber weiterhin in die Praxis. Onlinesprechstunde ist nach wie vor überhaupt nicht mein Ding, es ist wahnsinnig anstrengend und es fehlen auch viele Informationen wie Körpersprache und Mimik. Es ist anders, als sich persönlich zu treffen.
In den Therapiesitzungen nimmt Corona jetzt viel mehr Raum ein. Es ist nicht nur Einstiegsthema, es ist auch Beschwerdethema: Patienten regen sich über andere Menschen auf, die rücksichtslos sind, über Querdenkerdemos, über Fake News, die verbreitet werden. Corona nimmt ja einen beträchtlichen Teil unseres Alltags ein und verändert ihn, macht uns inzwischen vielleicht auch etwas müde.
Das Corona-Thema selbst als Anlass für eine Therapie kommt ein bisschen später, vermute ich. Das kommt immer ein bisschen verzögert. Ich glaube aber schon, dass die virale Belastung in der Bevölkerung und diese Bilder aus den Intensivstationen dazu beitragen, den inneren Leidensdruck durch weitere Ängste, Niedergeschlagenheit und Bedrückung zu steigern.
Was in der Therapie vielfach eine Rolle spielt, sind familiäre Zerwürfnisse wegen Corona - die Zerstrittenheit aufgrund dieser Spaltung in "das Impfen befürworten" oder "dagegen sein". Das Virus zu akzeptieren oder so zu tun, als gäbe es das gar nicht. Das geht quer durch die Familien. Es sind eigene Söhne, die das alles absolut ablehnen und sich auch nicht impfen lassen. Da gibt es schwerste Stimmungsabfälle bei einzelnen Patienten, bei denen in der Familie Impfgegner sind, die mit solch kruden Erklärungen kommen wie zum Beispiel, dass Vitamine gegen das Coronavirus helfen. Wir brauchen manchmal eine ganze Stunde, um die Hilflosigkeit und Ratlosigkeit zu besprechen, die dadurch bei den Patienten entsteht.
Es gibt auch Kontaktunterbrechungen: Da wird das eine Kind dann eben zu den Feiertagen nicht eingeladen. Das fällt den Vätern und Müttern wahnsinnig schwer, solche Brüche vorzunehmen. Damit beschäftigen wir uns manchmal eine ganze Therapiesitzung lang: Dass es auch sinnvoll ist, das mal sein zu lassen und konsequent zu sein.
Ich rate niemandem, Kontakte völlig abzubrechen. Aber ich rate Patienten, konsequent zu sagen: Solange Du nicht geimpft bist, geht es nicht, dass wir zusammen die Feiertage verbringen. Weil ich denke: Wie sollen solche Leute zum Nachdenken angeregt werden, wenn Freunde oder Eltern sich weiter so verhalten wie bislang?
Natürlich ist da immer die große Angst, dass die Leute komplett entgleiten, und die Gefahr besteht ja auch. Aber ich vertraue da auf Familienbande: So ganz aus der Welt wird man nicht geraten, das glaube ich nicht. Ich denke, dass, wenn so eine Pandemie dann mal vorübergeht, sich diese Wogen auch wieder glätten und man über die Gräben wieder zusammenkommen kann.
Regelrechte Impfgegner habe ich zum Glück nicht in meiner Praxis. Es gab eine Impfängstliche, bei der es in der Kindheit allergische Schocks nach Impfungen gegeben hat. Darüber haben wir sehr viel gesprochen, und ich habe sie immer gebeten, noch einmal mit dem Hausarzt darüber zu reden. Sie hat sich dann impfen lassen und ist jetzt sehr stolz, dass sie ihre Ängste überwunden hat und glücklich und froh, dass sie sich in Sicherheit fühlen kann.
Mir ist es übrigens sehr wichtig, bei Ungeimpften zu unterscheiden. Es gibt ja Menschen, die überhaupt nicht geimpft werden können. Die müssen gesehen und gewürdigt werden, denn sie leben in großer Angst und die kommen bei der ganzen Debatte gerade unter die Räder.
Und es gibt eben diese kleine Gruppe Ungeimpfter, die meinen, sie wüssten alles besser. Die immer von Immunsystem reden und dabei ganz vergessen, dass es Menschen gibt, die eben kein gutes Immunsystem haben und deshalb geschützt werden müssen. Das sind wenige, die sehr lautstark auftreten – und die tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei.
Es wird oft die Frage gestellt, ob die Gesellschaft wieder zusammenfindet. Ich frage mich ja, wie die Gesellschaft vorher war. Gab es nicht vorher schon Menschen, die glaubten, die Erde sei eine Scheibe, dass uns irgendwelche Eidechsen regieren oder dass Bill Gates die ganze Welt beeinflussen will? Diese Pandemie macht doch eigentlich nichts anderes als eine Gesellschaft nackt: Wir sehen jetzt, wie unsere Gesellschaft beschaffen ist.
Gesprächsprotokoll: Nele Haring
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