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Eine Umfrage des rbb unter den Landeskriminalämtern zeigt: Durch Betrug mit Corona-Hilfen und Corona-Tests ist ein potenzieller Schaden von mindestens einer halben Milliarde Euro entstanden. Hotspot der Betrugsermittlungen: Berlin. Von Ute Barthel
Auf diesen Ansturm war der Internetserver der Investitionsbank Berlin (IBB) nicht vorbereitet. Kurz nach dem Start des Programms für Corona-Soforthilfen brach das Computersystem am 27. März 2020 zusammen: Zehntausende Soloselbständige und Kleinunternehmer versuchten, so schnell wie möglich die Zuschüsse über das Onlineportal zu beantragen.
Schnell und unbürokratisch sollte das Geld an diejenigen fließen, die durch den ersten Lockdown in wirtschaftliche Not geraten waren. Doch auch unter potenziellen Betrügern sprach sich die Nachricht herum. "Das verbreitete sich das wie ein Lauffeuer. Es hieß dann: Hast du dir dein Geld schon geholt?", berichtet Jochen Sindberg, Abteilungsleiter für Wirtschaftskriminalität beim Berliner Landeskriminalamt (LKA). Den Betrügern wurde es sehr einfach gemacht. "Es fehlten einfache Kontrollmechanismen. Und deshalb sind schon in der frühen Phase innerhalb von wenigen Wochen große Schadenssummen entstanden."
Drei Jahre später liegt der potenzielle Schaden bei mindestens 211 Millionen Euro. Inzwischen wurde beim Berliner LKA eine eigene Ermittlungsgruppe, die EG Corona, gegründet. 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ermitteln in mehr als 13.000 Verfahren gegen die mutmaßlichen Betrüger. Damit liegt Berlin bundesweit an der Spitze. Das geht aus einer Umfrage von rbb24 Recherche bei allen Landeskriminalämtern Deutschlands hervor.
An zweiter Stelle steht Nordrhein-Westfalen mit rund 5.400 Ermittlungsverfahren und einem potenziellen Schaden von 79 Millionen Euro. In Brandenburg wurden bisher 530 Verfahren eingeleitet und der bisherige Schaden mit 5 Millionen Euro angegeben. Insgesamt summiert sich der Schaden deutschlandweit auf ca. 400 Millionen Euro. Allerdings waren einige Landeskriminalämter nicht in der Lage, konkrete Angaben zu machen, da es keine spezielle Auswertung zu Betrugshandlungen mit Corona-Bezug gibt.
Dennoch scheint es so, dass es nirgendwo in Deutschland für Kriminelle so leicht war, an das Steuergeld aus den verschiedenen Hilfsprogrammen heranzukommen, wie in Berlin. "Mitunter hat es von der Antragsstellung bis zur Auszahlung des Geldes nicht einmal 24 Stunden gedauert", berichtet Christian Eggert, der in der EG Corona die Betrugsfälle bei Sofort-Hilfen bearbeitet.
Weder die Identität noch die Steuer-ID seien in dem Antragsverfahren überprüft worden. "Sehr häufig haben wir das Phänomen des Identitätsdiebstahls. Also die Tatverdächtigen haben sich zum Beispiel einfach im Internet Firmen oder natürliche Personen gesucht und haben mit deren Daten dann Anträge gestellt. Dabei haben sie aber dann natürlich das eigene Konto angegeben und auf diese Art und Weise dann entsprechend die Gelder erlangt."
Schon frühzeitig fiel dem LKA auf, dass es massenhaft Betrugsversuche gab. Denn von den Banken gab es eine Vielzahl von Geldwäscheverdachtsanzeigen. "Wir haben dann zu der Senatsverwaltung und der IBB Kontakt aufgenommen, um hier Abhilfe zu schaffen. Das hat allerdings nicht in dem Maße funktioniert, wie wir uns das gewünscht haben", erinnert sich Abteilungsleiter Jochen Sindberg.
Die Kritik der Kriminalbeamten an der "schnellen und unbürokratischen Hilfe" sei als Störung empfunden worden. Erst bei den späteren Wirtschaftshilfen, wie zum Beispiel den Überbrückungshilfen, gab es Verbesserungen. Aber bis dahin sei dann schon sehr viel passiert. Die IBB teilte dem rbb schriftlich mit: "Die Annahme, die Prüfungen der IBB seien weniger geeignet gewesen, ist falsch. Die Staatsanwaltschaft hat bestätigt, dass seitens der IBB keine Pflichtverletzung oder Fehlverhalten im Zusammenhang mit der Gewährung der Corona-Hilfen festgestellt wurde."
Im Juli 2022 wurden die Ermittlungen gegen die Verantwortlichen der IBB wegen des Vorwurfs Untreue bzw. Beihilfe zur Untreue, die im Juni 2020 eingeleitet worden waren, eingestellt. In der coronabedingten Ausnahmesituation sei die bewusste Grundsatzentscheidung auf eine vertiefte Prüfung der Anträge vor der Auszahlung der Soforthilfen zu verzichten, strafrechtlich nicht zu beanstanden, hieß es in der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft. Auch der Sprecher der Senatsverwaltung für Wirtschaft verteidigte die Entscheidung mit dem "schnellen und intensiven Stabilisierungseffekt, der durch die gewährten Hilfen erreicht wurde. Dieser hätte nicht erzielt und die Hilfen nicht bereits zum Ende März ausgezahlt werden können, wenn das Antragsverfahren und die dort tatsächlich vorhandenen Prüfmechanismen um weitere Prüfbestandteile ergänzt worden wären."
Während der Pandemie wurden in Berlin rund 7 Milliarden Euro an Wirtschaftshilfen ausgezahlt, wie die IBB mitteilte. Insgesamt flossen in Deutschland mehr als 76 Milliarden Euro, wie es in der Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage des rbb heißt. Einen aktuellen Überblick über die Betrugsfälle und valide Zahlen über die Höhe des Schadens hat das Ministerium aber nicht. "Da die Ermittlungsverfahren, die in der Regel aufgrund von Hinweisen auf missbräuchliche Antragstellung eingeleitet werden, oftmals noch nicht abgeschlossen sind, kann eine Aussage zu einer potenziellen Schadenssumme derzeit nicht getroffen werden", heißt es aus der Pressestelle des Ministeriums.
Frühestens Ende 2025 sei damit zu rechnen, dann müssen die Schlussberichte der Länder zu den Corona-Wirtschaftshilfen vorliegen.
Im zweiten Pandemiejahr wurden die kostenfreien Bürgertests eingeführt. Und auch hier hatten Betrüger wieder ein leichtes Spiel. "Das war für mich erschütternd zu sehen, dass wir nach den Erfahrungen, die wir mit den Soforthilfen hatten, eine neue Spielwiese gesehen haben", sagt Jochen Sindberg vom Berliner LKA.
Denn auch hier habe es an einer wirksamen Kontrolle gemangelt. Laut der bundesweiten Umfrage unter allen Landeskriminalämtern von rbb24 Recherche summiert sich der Schaden aus dem Abrechnungsbetrug mit Corona-Tests auf mehr als 134 Millionen Euro. Allerdings haben hier nur Berlin, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Sachsen und Baden-Württemberg aktuelle Zahlen angegeben. Baden-Württemberg liegt mit 76 Millionen Euro an der Spitze, gefolgt von Berlin mit 32 Millionen Euro. Auch hier wurden die Warnungen des Berliner LKA nicht ernst genug genommen. Auf das Angebot der Amtshilfe der Polizei, die Testcenter zu kontrollieren, wurde von Seiten der Senatsverwaltung für Gesundheit und der Kassenärztlichen Vereinigung, die für die Prüfung zuständig war, nicht eingegangen.
Im Sommer vergangenen Jahres stellte das LKA sogar Strafanzeige gegen die Vorstände der Kassenärztlichen Vereinigung wegen des Verdachts der Untreue. Wegen des Abrechnungsbetrugs bei Corona-Tests ermitteln im Berliner LKA zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aus Sicht ihres Abteilungsleiters wäre ihnen viel Arbeit erspart geblieben, wenn es vorher bessere Prüfungen gegeben hätte. "Es ist für uns bitter, dass wir diese Arbeit hier haben mit dem Gefühl, wenigstens ein großer Teil davon wäre vermeidbar gewesen, von dem Schaden einmal ganz abgesehen. Aber es bindet eben eine Menge hochqualifiziertes Personal, das wir in diesem Landeskriminalamt an anderen Stellen benötigen."
Allerdings motiviert die Ermittler, dass viele Betrüger doch zur Verantwortung gezogen werden können. So wird am Mittwoch vor dem Landgericht Berlin das Urteil gegen den Betreiber von mehreren Testcentern erwartet, der insgesamt mehr als 9 Millionen Euro ergaunert haben soll – mehr als 6 Millionen wurden bislang nicht wieder aufgefunden.
Sendung: rbb24 Abendschau, 22.03.2023, 19:30 Uhr
Beitrag von Ute Barthel
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