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Audio: rbb|24 | 21.02.2023 | O-Ton aus dem Interview mit Duygun Güll | Quelle: Duygun Güll/privat

#Wiegehtesuns? | Berliner Ärztin mit türkischen Wurzeln

"Ich möchte vor Ort sehen, was gebraucht wird und helfen"

Die Berliner Ärztin Duygun Gül hat in ihrem Umfeld Geld für die Erdbebenopfer in der Türkei gesammelt. Im März will sie in das betroffene Gebiet, die Heimatregion ihrer Mutter, fahren und helfen. Den staatlichen Hilfsorganisationen vertraut sie nicht. Ein Gesprächsprotokoll

In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht - persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Duygun Gül ist Berlinerin türkischer Herkunft und arbeitet in der Notfallmedizin in Berlin. Die 43-Jährige ist Mutter von drei Kindern und hat viele Verwandte im Erdbebengebiet in der Türkei. Sie hat Geld in ihrem Umfeld gesammelt, mit dem sie Mitte März in die Türkei fliegt, um vor Ort humanitäre Hilfe zu leisten.

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Ich bin in Berlin geboren und habe türkische Wurzeln. Meine Eltern gehören zu der jüngsten türkischen Gastarbeitergeneration und kamen beide unabhängig voneinander Anfang der 70er Jahre nach Deutschland. Das Erdbeben jetzt war für uns alle eine Überraschung. Zwar weiß man, dass die Türkei Erdbebengebiet ist, doch man rechnet trotzdem nicht damit. Insbesondere die jetzt betroffene Region war fast 900 Jahre stumm. Dass es die Menschen dann so verheerend und in der Nacht trifft, war ein Schock.

Ich habe von dem Erdbeben kurz nachdem es passierte über den Familien-Chat (Istanbul-Izmir-Hatay-Mersin-Berlin) erfahren. Ich wurde durch die vielen hintereinander eintreffenden Messages wach. Alle machten sich Sorgen, was mit unseren Verwandten in Hatay ist. Meine Mutter war außer sich. Sie stand kurz vor 5 Uhr bei mir in der Tür. Ich habe vor etwa zwölf Jahren meine Eltern zu mir geholt und wir leben in einem Mehrgenerationenhaus. Meine Eltern sind also meine Nachbarn. Wir haben dann im Schlafanzug angefangen in die Türkei zu telefonieren. Die Angst und das Bangen kamen sehr schnell. Keiner war erreichbar. Ich kann kaum in Worte fassen, was ich in dem Moment empfunden habe.

Die Gegend, in der das Beben stattfand, ist die Heimatregion meiner Mutter. Sie ist damals als jüngstes von sieben Geschwistern mit 18 Jahren nach Deutschland gegangen – der Rest ist geblieben. Da lebten und leben also Onkel, Tanten, viele Cousins und Cousinen samt Kindern.

Wir haben später erst erfahren, dass viele meiner Verwandten ums Leben gekommen sind. Ein Cousin hat seinen zehnjährigen Sohn verloren. Seine Frau hat er am zweiten Tag lebend aus den Trümmern retten können. Von seinem Sohn konnte er nur noch den leblosen Körper bergen. Aus dem Familien-Chat wussten wir von ihnen auch als erstes, dass sie verschüttet sind. Von allen anderen haben wir dann im Laufe des Tages gehört.

Das, was meine Verwandten an Hilfsaktionen schilderten, klang sehr chaotisch. Mein Cousin hat beschrieben, dass er auf der Straße vor diesem verschütteten Haus stand und ewig nichts passierte. Er wusste gar nicht, was er machen sollte und ob jemand kommt, der hilft. Die Menschen waren absolut verzweifelt. Viele fingen selbst an, in den Trümmern zu suchen. Ich glaube also nicht, dass die Hilfe von Anfang an gut und koordiniert lief. Das kann aber natürlich auch ein subjektives Empfinden der Betroffenen widerspiegeln. Es ist sicher auch schwierig, Hilfen zu koordinieren, wenn eine Region fast so groß wie Deutschland betroffen ist.

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Für mich stellte sich natürlich gleich die Frage ob und wie ich als Ärztin helfen kann. Doch es hieß schnell, dass genügend Ärzte vor Ort sind. Dann habe ich geschaut, was ich und wir – als türkische Community aus Deutschland - sonst machen können. Im türkischsprachigen Berliner Radio Metropol FM und in den sozialen Netzwerken gingen im großen Stil berlin- und deutschlandweit Sachspenden-Aktionen los, wie ich sie in der Geschwindigkeit, der Hingabe und mit so viel Hilfsbereitschaft noch nicht erlebt habe. Von da an musste man nicht mehr untätig zusehen. Alle packten an. Alle halfen. Alle weinten zusammen.

Aber die Missstände in der Türkei werden insgesamt immer größer. Zu der Ein-Mann-Regierung in der Türkei habe ich kein Vertrauen. Ich vertraue auch keiner staatlich subventionierten oder kontrollierten Hilfsorganisation. Selbst wenn sie tatsächlich helfen. Als dann im Fernsehen zu sehen war, wie schlecht koordinierte Hilfsgüter sinnlos abgekippt wurden, wo man sie nicht verteilen kann, hat mich das sauer und wahnsinnig traurig zugleich gemacht. Also habe ich beschlossen, eine eigene private Spendenkampagne zu starten und mit den gespendeten Geldern von Freunden meine Hilfe vor Ort zu leisten. Ich fliege Mitte März hin.

Ich werde mich keiner Hilfsorganisation anschließen. Und ich bin– auch wenn ich bestimmt ein paar Medikamente einpacke – nicht in erster Linie als Ärztin vor Ort. Ich möchte humanitäre Grundhilfe leisten, denn noch immer fehlen die grundlegenden Dinge.

Die private Spendenaktion habe ich nicht zuletzt auch deswegen in Gang gebracht, weil ich gesehen habe, dass sowohl die Anteilnahme als auch der Wunsch zu helfen in meinem beruflichen Umfeld und im Freundeskreis - der sich nicht auf die türkische Community beschränkt - sehr groß ist. Für viele meiner Freunde und Kollegen bin ich der einzige Kontakt in die Türkei. Das gesammelte Geld ist für niemand bestimmten gedacht. Ich möchte wirklich vor Ort sehen, was gebraucht wird und helfen. Das kann jemand sein, bei dem ich zufällig mitbekomme, dass es ihm nicht gut geht. Das können auch Kleinigkeiten sein, die den Alltag der Menschen ein wenig erleichtern. Ich möchte situativ sehen, wie ich wem womit helfen kann.

Das neue, zweite Erdbeben hat wieder Leben gefordert und weitere Zerstörungen angerichtet. Besonders bitter ist, dass es so kalt ist. Normalerweise kennt man in der Gegend derart kalte Winter nicht. Die Menschen sind daher gleich mehrfach gestraft. Ich fürchte, sie werden lange Zeit brauchen, um das verarbeiten zu können.

Das Gespräch führte Sabine Priess, rbb|24

Sendung: rbb24 Inforadio, 26.02.2023, 10:30 Uhr

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