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Video: rbb24 Abendschau | 03.10.2022 | Quelle: privat

#Wiegehtesuns? | Multiple Sklerose

"Mich hat keiner gefragt, wie es mir geht"

Caro Mehr bekam mit 26 Jahren die Diagnose: Multiple Sklerose. Das gängige Bild ist, MS-Erkrankte sitzen im Rollstuhl. Doch ihr sieht man die Krankheit nicht direkt an. Im Alltag kann das oft schwierig sein. Ein Gesprächsprotokoll

In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht - persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Der 3. Dezember ist der internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Der Sozialverband VdK geht davon aus, dass die Mehrzahl der Behinderungen nicht sichtbar sind, genaue Zahlen über Betroffene mit sogenannten unsichtbaren Behinderungen gibt es allerdings nicht. Caro Mehr bekam mit 26 Jahren die Diagnose Multiple Sklerose (MS). Die 49-Jährige hat als Physiotherapeutin gearbeitet, ist inzwischen aber in Erwerbsminderungsrente.

Wenn die Leute hören, dass ich Multiple Sklerose habe, kommt von verschiedensten Seiten - Familie, Freunde, Arbeitsplatz – oft der Satz: “Du kannst aber noch gut laufen!” Das ist das gängige Bild: MS und Rollstuhl. Dass da so viele andere Sachen dahinter sind, merkt keiner: chronisches Erschöpfungssyndrom, Konzentrationsstörungen, Depression, Schmerzen, Koordinationsstörungen, Blasenstörungen und so weiter. Die Liste ist lang. Und man sieht sie nicht.

Als ich 26 Jahre alt war, war es, als würden mir Blitze die Beine hinunterschießen. Da habe ich gemerkt, da ist etwas komplett nicht in Ordnung. Erst der vierte Arzt gab mir die Diagnose Multiple Sklerose. Ich war wie in einer Art Schockstarre. Man sieht direkt den E-Rolli vor sich. Ich wusste, dass es völlig unvorhersehbar ist, was mit mir passiert oder nicht passiert oder wann es passiert oder ob überhaupt irgendwas passiert. Die Diagnose MS heißt eigentlich erstmal warten. Man wartet irgendwie auf den nächsten Schub.

Tatsächlich hatte ich zwischendrin sechs Jahre keinen Schub. Dann gibt es Phasen, da kommt ein Schub nach dem anderen. Als meine Tochter anderthalb Jahre alt war, konnte ich sie nicht mehr tragen, habe den Jeansknopf nicht mehr richtig zu bekommen, den Autoschlüssel nicht mehr umdrehen können. Dann hatte ich Gangschwierigkeiten, Koordinationsstörungen, bin häufig gestürzt. Mit 37 kam dann die Depression dazu. Ich wachte dann eines Morgens auf und die Welt versank in so einem grauen Brei. Das war der totale Horror.

Ich habe früher gedacht: Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist, wenn man nicht mehr gehen kann. Aber was noch schlimmer ist: Wenn man nicht mehr denken kann; und das ist in dieser absolut schweren Depression passiert. Da hängt eine furchtbare, graue Blase über einem mit Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Angst.

Ich habe einen Schwerbehindertenausweis. Es gibt Leute, die sprechen von Vorteilen. Der offizielle Begriff ist Nachteilsausgleich. Man bekommt fünf Tage Sonderurlaub. Wobei ich das Wort Urlaub da auch nicht so gerne in den Mund nehme, denn mit den ganzen Arztterminen sind die fünf Tage relativ schnell weg. Man bekommt zum Beispiel noch vergünstigten Eintritt in Museen und ins Freibad Weißensee kommt man mit dem Ausweis gratis rein.

Den Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis habe ich erst mit der Depression gestellt. Bis dahin war ich bei 30 Prozent eingestuft und ich musste einen sogenannten Verschlechterungsantrag stellen. Aber nach drei Wochen kam die Ablehnung. Da habe ich kurz gedacht: "Seid ihr bescheuert? Mir geht es wirklich schlecht." Ich habe Widerspruch eingelegt und dann kam tatsächlich die Nachricht, dass ich meinen Schwerbehindertenausweis abholen soll – und dann stand da drauf: unbefristet. Da musste ich mich erstmal setzen. Wenn mir eine amtliche Stelle sagt, dass sie nicht davon ausgehen, dass es jemals wieder besser wird.

Ich versuche nach vielen Jahren Verhaltenstherapie das Beste aus jedem Tag zu machen. Ich überlege mir abends, was ich heute Gutes erlebt habe. Es gibt fast immer irgendwas. Eine lustige Whatsapp-Nachricht oder schönes Wetter. Wir machen hier auch häufiger Witze darüber, wenn ich die Hälfte vom Einkauf vergesse. Dann heißt es halt: "Mama ist halt behindert, ne?" Ich glaube, das ist ein selbstverständlicher Teil von mir geworden. Für mich ist behindert und krank so was wie groß, klein, dick und dünn. Das ist halt so. Für andere nicht.

Info

Ich war mal in einem Teammeeting, als ich parallel mit einer Kollegin, die sich etwas gebrochen hatte, aus der Krankheit zurückkam. Meine Kollegin wurde mit großem Bohei begrüßt. Ich würde mir jetzt auch nicht so gerne ein Bein brechen, das ist schmerzhaft und ist nicht schön. Und ich finde es schön, dass Sie dann erzählen konnte, wie es ihr ergangen ist. Aber mich hat keiner gefragt, wie es mir geht, wie es mir ergangen ist. Da hätte ich mir eine Nachfrage gewünscht, etwas mehr Empathie.

Ich kann auch verstehen, dass Arbeitgeber, die in dem Bereich überhaupt nicht geschult sind, nicht wissen, was Multiple Sklerose bedeutet. Die hören "MS" und das wars. Die wissen dann nicht, wie sie mit mir sprechen sollen. Also sagen sie lieber gar nichts, als was Falsches zu sagen. Wie wenn ein Mensch im Bekanntenkreis oder in der Nachbarschaft stirbt. Es fällt einem nicht so leicht, hinzugehen, herzliches Beileid zu sagen. Aber allein angesprochen zu werden und zu hören, dass sich jemand Gedanken macht, wäre schon mal wirklich schön.

Wir haben hier in Mitteleuropa eine sehr offene, sehr freie Gesellschaft. Ich finde, alle Diversitäten, die es gibt, sollten ein integraler Bestandteil der Gesellschaft sein. Ich möchte ja nichts Besseres sein oder anders. Ich möchte einfach genauso da sein, wie alle anderen auch. Warum können wir über Migräne sprechen, über Rückenschmerzen. Ich habe Depressionen und finde, gerade bei psychischen Erkrankungen ist das ein Nimbus von "die sind ein bisschen komisch".

Im Urlaub in London wird es Menschen mit unsichtbaren Behinderungen leichter gemacht. Da sind wunderschöne, hellblaue Aufkleber auf denen steht: "Bedenke: Nicht alle Behinderungen sind sichtbar." Und darunter ein Kleberchen: "Bitte räumen Sie den Platz für Menschen, die nicht so gut stehen können." Da muss ich mich gar nicht erklären oder meinen Ausweis zeigen, wenn es mir schwer fällt, länger als 15 oder 20 Minuten zu stehen. So wie in der Berliner S-Bahn, wenn sie voll ist.

Ich rate allen mit einer unsichtbaren Behinderung: Geht offensiv damit um, sprecht darüber! Auch wenn man aneckt oder man Leute brüskiert, weil vielleicht jemand nicht damit umgehen kann. Nur wenn darüber gesprochen wird, wird es irgendwann mal normal.

Was ich mir wünsche? Wenn ich weiß, es ist jemand so krank, dass er einen Schwerbehindertenausweis hat, dass man einfach mal ehrlich fragt, wie geht es dir, was fehlt dir eigentlich? Wir wollen als Menschen mit Behinderung einfach teilhaben. Das ist der Grundgedanke der Inklusion wir sind mitten im Leben und würden gerne auch so behandelt werden als ob.

Gesprächsprotokoll: Christina Rubarth

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