Hier drohen in Berlin Fahrverbote - Diesel-Fahrverbote für Senatsverwaltung "unausweichlich"
Die Berliner Verwaltung prüft nach rbb-Recherchen für 20 Straßen Fahrverbote für Diesel-Autos – und hält sie teilweise sogar für "unausweichlich". rbb|24 zeigt auf einer interaktiven Karte, wo Fahrverbote kommen könnten. Von Dominik Wurnig und Robin Avram
Wenn sich der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), vom Roten Rathaus zum Bundesrat bringen lässt, steht er auf der Leipziger Straße oft im Stau. Wenn es nach dem Willen seiner Umweltsenatorin Regine Günther (parteilos, für Bündnis 90/Die Grünen) geht, könnte Müller aber 2019 schneller vorankommen – denn zu seinem Glück schluckt seine gepanzerte Mercedes-Benz-Limousine Benzin – und keinen Diesel.
Platz machen für den Regierenden und die anderen Benziner müssten dagegen 218.000 Berliner Autofahrer mit Diesel-Pkw unterhalb der Schadstoffklasse Euro Norm 6. Für sie könnte die Leipziger Straße ab September 2019 tabu sein. Ab dann könnte laut noch unveröffentlichten Senatsplänen dort sowie an 19 weiteren Straßen ein streckenbezogenes Fahrverbot für alle Diesel-Pkw der Schadstoffklassen Euro 0 bis Euro 5 gelten.
Betroffen wäre fast jeder sechste Berliner Autofahrer. Das geht aus internen Dokumenten zum neuen Luftreinhalteplan der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz hervor, die dem rbb exklusiv vorliegen.
Fahrverbote auf 20 Straßen innerhalb und außerhalb der Umweltzone
Die Fachleute für Luftreinhaltung in der Senatsverwaltung wissen inzwischen nach aufwändigen Prognoserechnungen: Trotz der bisherigen Bemühungen des Senats wird der gesetzliche NO2-Grenzwert auf der Leipziger Straße auch im Jahr 2020 abermals überschritten. Die Leipziger ist dabei als schmutzigste Straße Berlins nur die Spitze des Eisbergs: Für insgesamt 20 Berliner Straßen prüft die Verwaltung wegen Grenzwert-Überschreitungen derzeit Fahrverbote für schmutzige Dieselautos.
In einem Dokument vom September 2018 heißt es klipp und klar: Fahrverbote seien an einigen dieser 20 Straßen "unausweichlich". Auf der interaktiven Karte sehen Sie, welche Straßen betroffen sind.
Unter den 20 Straßen - beziehungsweise 30 Streckenabschnitten – für die Fahrverbote drohen könnten, sind wichtige Verkehrsachsen wie die Hermannstraße, der Spandauer Damm, der Mariendorfer Damm oder die Sonnenallee. Auch das Nadelöhr Brückenstraße, auf dem man von Kreuzberg Richtung Mitte gelangt, könnte bald manchem Autofahrer versperrt bleiben. Sogar Straßen außerhalb der Umweltzone wie den Kapweg in Reinickendorf erwägt die Verwaltung, für Diesel-Autos zu sperren.
Die Senatsverwaltung nimmt an, dass jedes fünfte betroffene Fahrzeug eine Ausnahmegenehmigung erhalten wird. Wer genau Anrecht darauf haben wird, ist noch offen.
Senat will noch alternative Maßnahmen prüfen
Auf Nachfrage hat die Berliner Senatsumweltverwaltung die rbb-Recherchen weder bestätigt noch dementiert. Sprecher Matthias Tang teilte mit: "Ob und in welchem Umfang Fahrverbote eingeführt werden, hängt (…) von umfassenden Untersuchungen ab, die sich nicht allein auf Fahrverbote beschränken, sondern alle sonstigen geeigneten Maßnahmen zur Einhaltung der Immissionsgrenzwerte mit einschließen. Die Prüfung alternativer Maßnahmen ist aber noch nicht abgeschlossen." Immission ist das Einwirken von Verunreinigungen zum Beispiel der Luft auf Menschen.
Die Wirkung von Tempo 30 und des 10-Punkte-Programms für saubere Luft sei bei der Berechnung der 30 Streckenabschnitte noch nicht berücksichtigt worden, so der Sprecher von Senatorin Günther. Die Wirkung dieser Maßnahmen werde noch mit eingerechnet. "Wenn sich bei der Prüfung die Unvermeidbarkeit von Fahrverboten für einzelne Straßenabschnitte herausstellen sollte, werden diese vorbehaltlich der Beschlussfassung des Senats in den Luftreinhalteplan integriert werden", führte Tang aus.
Dem rbb liegt dazu eine zweite senatsinterne Tabelle vor. In dieser ist die Wirkung von Tempo 30 und dem 10-Punkte-Programm bereits berücksichtigt. Diese Maßnahmen führen demnach lediglich dazu, dass vier der 20 NO2-Hotspots unter den Grenzwert gedrückt werden können. Es verbleiben immer noch 16 Straßen mit Streckenabschnitten über dem erlaubten Grenzwert, für die Fahrverbote infrage kommen.
Verwaltungsgericht verhandelt am Dienstag
Die Pläne der Senatsverwaltung zur Luftreinhaltung haben natürlich auch die Richter der 10. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts aufmerksam studiert. Sie werden am kommenden Dienstag im größten Verhandlungssaal des Gerichts mit hoher Wahrscheinlichkeit Fahrverbote anordnen. Geklagt hatte – wie schon in zahlreichen anderen deutschen Städten – die Deutsche Umwelthilfe (DUH).
“Ich habe den Eindruck dass man in Berlin das Problem der Luftreinhaltung sehr ernst nimmt. Ich sehe auch, dass die Verwaltung sich auf Diesel-Fahrverbote vorbereitet”, sagt DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch zufrieden. In anderen Städten seien die Verwaltungen nicht so gut vorbereitet gewesen.
Noch im April 2018 hatte Umweltsenatorin Günther in einer Pressemeldung verkündet: Sie führe Tempo 30 auf der Leipziger Straße ein, um Fahrverbote zu vermeiden. Ihre Fachleute wussten laut den Unterlagen, die dem rbb vorliegen, jedoch schon längst: Tempo 30 wird nie und nimmer reichen, um den Grenzwert an der Leipziger Straße zeitnah einzuhalten.
Umwelthilfe will schmutzige Diesel aus der Umweltzone aussperren
In Berlin liegt - wie in 64 anderen deutschen Städten - die Stickstoffdioxid-Belastung an vielen Straßen über dem gesetzlichen Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft. Deshalb hat die Deutsche Umwelthilfe gegen die Umweltsenatsverwaltung vor dem Verwaltungsgericht geklagt: Die Umweltschutzorganisation fordert strengere Maßnahmen - allen voran ein Fahrverbot für schmutzige Diesel – und zwar nicht nur auf einigen Strecken, sondern in der gesamten Umweltzone.
"Wir möchten ein großflächiges Fahrverbot haben, das dann auch die Nebenstraßen umfasst. Wir halten wenig davon, nur einzelne Straßenabschnitte zu sperren. Das führt dazu, dass die Autofahrer dann in Wohnstraßen ausweichen“, argumentiert Resch. Er sieht eine solche großflächige Regelung sogar als Schlüssel dazu, "um die Automobilindustrie zu zwingen, dass die betroffenen Fahrzeuge nachgerüstet werden". Die DUH hat ihre eigene Karte mit rund 100 Straßen vorgelegt, an denen aus ihrer Sicht Fahrverbote angeordnet werden müssten. Da teilweise Fahrverbote auf zahlreichen Straßen nicht zu kontrollieren seien, mache nur eine Umweltzonen-Regelung Sinn.
Hier fordert die DUH Fahrverbote
Berlin profitiert bislang nicht vom Dieselkompromiss der Bundesregierung
Dass Fahrverbote am Dienstag wahrscheinlich angeordnet werden, wird auch nicht durch die Ergebnisse des "Dieselgipfels" der Bundesregierung verhindert. Denn Berliner sollen nach derzeitigem Stand weder in den Genuss von Umtauschprämien noch von Hardware-Nachrüstungen kommen.
ADAC warnt vor massivem Wertverlust bei Umweltzonen-Regelung
"Käme es tatsächlich zu Fahrverboten, dann wäre es aus Sicht der Fahrzeughalter ganz sicher nicht gerecht" kritistiert Jörg Kirst vom ADAC. "Hier gilt auch das Verursacherprinzip einfach nicht. Die Leute, die den Schaden verursacht haben - nämlich die Hersteller - sind nicht die Betroffenen. Sondern betroffen sind die Fahrzeughalter." Falls die Hardware-Nachrüstung auf Kosten der Hersteller nicht kommen sollte, müssten betroffene Euro 5-Dieselfahrer laut ADAC-Berechnungen einen Wertverlust ihres Fahrzeugs in Höhe von durchschnittlich 3.000 Euro hinnehmen – zumindest wenn das Gericht der Argumentation der DUH folgt und die ganze Umweltzone zur dieselfreien Zone erklärt.
Kritik am Stickstoffdioxid-Modell der Senatsverwaltung
Inhaltlich argumentiert die DUH: Die Berechnung der Senatsverwaltung für die zukünftige Luftqualität enthalte einige ungedeckte Schecks. So lasse sich zum Beispiel nicht genau vorhersagen, wie viele Taxifahrer wegen des Förderprogramms des Senats auf E-Taxis umsteigen und damit die Belastung senken. Behördlich erzwingen lasse sich dieser Umstieg jedenfalls nicht.
Außerdem hinterfragt die Umwelthilfe das Abgasmodell IMMIS, mit dem die Senatsverwaltung die Luftbelastung berechnet. "Wir stellen fest, dass es eine systematische Verschiebung der Werte gibt”, sagt Jürgen Resch von der DUH. “Man hat sich seitens der Senatsverwaltung schön gerechnet, das finden wir doch ein bisschen unfair den vielen hunderttausend Menschen gegenüber."
DUH beruft sich auf abgasalarm-Messungen
Die DUH beruft sich dabei auch auf die "Abgasalarm"-Messungen durch TU Berlin und rbb im November 2017. Die real gemessenen Werte seien in dem Messmonat im Schnitt um 40 Prozent höher gewesen als jene Werte, die das IMMIS-Modell für die Standorte errechnet, argumentiert die DUH. "Wir haben jetzt den Senat beim Tricksen ertappt", behauptet Resch. "Und wir möchten vom Senat haben, dass er auch unsere Messungen und im Übrigen auch die Messungen der TU und des rbb in seine entsprechende Luftreinhalteplanung miteinbezieht."
Der Umweltchemiker Wolfgang Frenzel führte bei der TU Berlin in Kooperation mit dem rbb die abgasalarm-Messungen durch. Auf Bitten des rbb hat er den von der DUH in Eigenregie durchgeführten Vergleich der abgasalarm-Messungen mit dem Senatsmodell nachgeprüft. Sein Fazit: "Der Vergleich der Daten ist sicher prinzipiell interessant, aber nur bedingt sinnvoll." Es gebe zwar Unterschiede zwischen dem Rechenmodell und realen Messungen, diese seien aber nicht so gravierend wie von der DUH dargestellt.
Auch externe Gutachter deckten Unstimmigkeiten auf
Fakt ist in jedem Fall: Externe Gutachter des Ingenieurbüros IVU Umwelt fanden ebenfalls Unstimmigkeiten in den Senats-Prognosen. Im Auftrag der Senatsverwaltung prüften sie im August 2017 das IMMIS-Modell nach. Der Validierungsbericht liegt dem rbb vor. Ergebnis: Teilweise hatte das Modell 30 Prozent niedrigere Werte errechnet, als die Senatsverwaltung in der Realität gemessen hat. Über alle Messstellen hinweg ergab das Rechenmodell um durchschnittlich 13 Prozent niedrigere Werte, so die Analyse der Experten von IVU Umwelt.
Der Senat hat das allerdings berücksichtigt: Um den Modellfehler zu korrigieren, rechnet die Senatsverwaltung laut Unterlagen, die dem rbb vorliegen, in ihrer Prognose für das Jahr 2020 pauschal mit um 4 Mikrogramm erhöhten Werten - egal wie hoch die Belastung inzwischen tatsächlich ist.
Viele wichtige Verkehrsachsen könnten betroffen sein
Am schlimmsten ist die Berliner Luft in der Leipziger Straße dort, wo der Regierende häufiger aussteigt - auf Höhe des Bundesrates. Über 40.000 Kraftfahrzeuge täglich werden in der engen Straßenschlucht im Jahr 2020 voraussichtlich durchschnittlich 60,6 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft verursachen. Das sind 20 Mikrogramm über dem Grenzwert. Im Jahr 2017 wurden 63 Mikrogramm in der nahe gelegenen Messstelle Leipziger Straße 32 gemessen.
Ausweichverkehr über Nebenstraßen
Berechnungen von rbb|24 zeigen: An den von der Senatsverwaltung ermittelten 20 Straßen sind täglich rund 530.000 Kraftfahrzeuge unterwegs. Jeden Tag müssten sich über 57.000 davon eine Ausweichroute suchen. Wie die aussehen könnte, hat sich die Verwaltung auch näher angesehen.
Am Beispiel der Leipziger Straße hat die Siemens-Tochter VMZ im Auftrag der Senatsverwaltung den Ausweichverkehr berechnet. Auf der Leipziger Straße sollen dann jeden Tag rund 1.000 Kfz weniger durchrollen (in der Grafik in blau eingezeichnet). Diese würden aber großteils südlich über die Niederkirchnerstraße, die Zimmerstraße und den Checkpoint Charlie ausweichen.
Aber auch die Voßstraße sowie die Hannah-Arendt-Straße im Norden würden mehr Verkehr abbekommen (in der Grafik in rot eingezeichnet). Die DUH sieht das Beleg dafür, dass streckenbezogene Fahrverbote die Stickoxid-Belastung nur umverteilen, und nicht signifikant verringern. "Wir halten wenig davon, nur einzelne Straßenabschnitte zu sperren. Das wird ein Flickenteppich und führt dazu, dass die Menschen dann in Wohnstraßen ausweichen und dort auch Menschen gefährden", sagt Resch.
Verwaltungsrichter müssen entscheiden
Offen ist nun, ob das Gericht eine allgemeine Nachbesserung der Luftreinhaltungsmaßnahmen anordnet und keine konkreten Fahrverbote verlangt. Dann müsste die Verwaltung lediglich den Luftreinhalteplan überarbeiten, könnte ohne Druck in aller Ruhe nach eigenen Vorstellungen weiter arbeiten. Ob die Fachleute in der Umweltverwaltung auch in diesem Fall die von ihnen favorisierten streckenbezogenen Fahrverbote umsetzen können - oder ob die Koalitionspartner SPD und Linke im Senat dagegen ihr Veto einlegen - ist unsicher.
Sollte das Gericht der Umwelthilfe Recht geben, könnten Fahrverbote jedoch sogar noch schneller oder weitreichender kommen. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung Anfang des Jahres geurteilt, dass Autofahrer prinzipiell streckenbezogene Fahrverbote in Kauf nehmen müssen und diese auch ohne Übergangsfristen verhängt werden können. Bloß zonale Fahrverbote - etwa in der Umweltzone - dürfen für Euro-4-Diesel nicht vor Januar 2019 und für Euro-5-Diesel nicht vor September 2019 eingeführt werden.
Der Sprecher des Verwaltungsgerichts teilt auf Nachfrage mit: Vermutlich fällt am Dienstag, den 9. Oktober das Urteil.
Sendung: Abendschau, 05.10.2018, 19.30 Uhr
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikel war von 21 Straßen die Rede, an denen der Senat Fahrverbote prüft. Es sind jedoch 20 Straßen. In Senatsunterlagen, die dem rbb vorliegen, sind 30 Streckenabschnitte aufgelistet. Da an manchen Straßen mehrere Streckenabschnitte aufgeführt sind, haben wir die Liste der besseren Verständlichkeit halber zu Straßen zusammengefasst. Dabei haben wir die Sonnenallee doppelt gezählt, weil wir zwei auf dieser Straße betroffene Streckenabschnitte irrtümlicherweise nicht zu einer Straße zusammengefasst haben. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.