Berliner Hostienschändungsprozess
Judenhass und Verfolgung hat es auch in Berlin und Brandenburg schon vor 500 Jahren gegeben. Wie nach dem Novemberterror 1938 stand am Ende der Massenmord. Chronik eines Berliner Justizverbrechens. Von Mirjam Banz und Maximilian Horn
Der Berliner Richtplatz im Jahr 1510: Mehrere Stockwerke hoch ist der Scheiterhaufen aufgetürmt. Die Berliner scharen sich um das makabre Bauwerk. Viele von ihnen haben bei dessen Errichtung tatkräftig mitgeholfen. Henker stehen mit Fackeln bereit, um die Hinrichtung zu vollstrecken. Die Verurteilten: 38 Berliner Juden. Einer von ihnen ist Salomon von Spandau. Gemeinsam mit seinen Glaubensbrüdern steht er auf dem Scheiterhaufen. Sie sind mit Eisenringen ans Holz geschmiedet. Während die Verurteilten ein letztes Gebet sprechen, senken ihre christlichen Henker die Fackeln. Rauch steigt auf über dem Berliner Richtplatz - dort, wo heute der Strausberger Platz ist.
Was ist geschehen? Es beginnt mit einem Diebstahl. Der Kesselflicker Paul Fromm, ein Christ, stiehlt im Februar 1510 in einer Dorfkirche eine Monstranz und zwei geweihte Hostien. Der Dieb wird geschnappt. Vermutlich unter Folter sagt er aus, dass er eine der Hostien an den Juden Salomon von Spandau verkauft habe. Dieser habe die Hostie "schänden" wollen, ein Ritual, das den Juden dieser Zeit von der christlichen Bevölkerung unterstellt wird. Die Behörden reagieren sofort. Salomon wird verhaftet – und mit ihm gleich hundert weitere Juden der Mark Brandenburg. Sie werden gefoltert und zu Geständnissen gezwungen. Zehn jüdische Verdächtigte sterben an den Folgen der Folter während dieser Verhöre.
Um möglichst vielen Juden den Prozess machen zu können, kommt zur "Hostienschändung" noch einer weiterer Anklagepunkt: "Kindstötung zwecks Christenblutgewinnung". Dem christlichen Aberglauben zufolge bräuchten die Juden christliches Kinderblut, um damit ihr Brot für das Pessach-Fest zu weihen. Die Verdächtigten sollen insgesamt sieben unbekannte Kinder an anonyme Durchreisende verkauft haben. In einem Schauprozess werden 41 Juden aus der Mark Brandenburg angeklagt, darunter auch Salomon von Spandau.
Doch die Vorwürfe, die Salomon und den anderen Berliner Juden gemacht werden, sind völlig haltlos. Außer den erfolterten "Geständnissen" der Beteiligten gibt es keine Beweise. Doch das genügt. Nur einer der angeklagten Juden kommt mit dem Leben davon: ein bekannter Augenarzt, der in ein Kloster gesteckt wird, um von dort aus weiter zu praktizieren. 38 Angeklagte werden wegen "Hostienschändung" und "Kindstötung zur Christenblutgewinnung" zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Auch Salomon von Spandau ist unter den Opfern. Weil sie sich taufen lassen, erhalten zwei der Angeklagten eine "Strafmilderung" – sie werden geköpft. Der christliche Kesselflicker Paul Fromm, dessen mutmaßlicher Hostiendiebstahl überhaupt erst die Verfolgungen auslöste, wird auf einem separaten Scheiterhaufen verbrannt.
Die Massenhinrichtung im Juli 1510 hat Folgen für die gesamte Mark Brandenburg. Die überlebenden Juden werden vom Kurfürsten des Landes verwiesen. Erst 30 Jahre später dürfen sich Juden wieder in der Mark ansiedeln. Doch warum hat sich die brandenburgische Justiz unter dem Zuspruch der Bevölkerung an einer religiösen Minderheit vergriffen? Der Hostiendiebstahl ist der Anlass des Pogroms. Aber was sind seine Hintergründe?
Einerseits hatte der Staat Grund genug, sich am Eigentum der reichen jüdischen Minderheit zu bedienen. "Diese Angeklagten machten neun Zehntel des jüdischen Steueraufkommens auf", sagt Stephen Tree. Der Autor schreibt über jüdische Themen und hat eine Ausstellung über den Hostienschändungsprozess im Museum der Zitadelle Spandau initiiert. "Ihr Vermögen verfiel nach der Verurteilung der Staatskasse.“ Zwar seien die jüdischen Geldverleiher mit ihren staatlich begrenzten Zinssätzen weniger verhasst gewesen als christliche Geldgeber. Dennoch: "Schuldner nehmen es selten übel, wenn ihr Gläubiger Schaden erleidet". Als der Vorwurf der Hostienschändung gegenüber Salomon von Spandau und seine Glaubensbrüder aufkommt, entlädt sich der Hass der Christen auf die jüdische Gemeinde. Die Kombination aus finanzieller Abhängigkeit und wilden Spekulationen über den jüdischen Ritus führt in die zivilisatorische Katastrophe.
Der Ort des justizförmigen Massenmordes von 1510 ist der Berliner "Rabenstein". Der Richtplatz vor der Stadtmauer Berlins hat diesen Namen erhalten, weil sich hier bevorzugt die schwarzen Vögel zum Leichenschmaus niederlassen. Was heute kaum jemand weiß: Die Blutstätte befand sich wahrscheinlich genau dort, wo sich heute die stalinistischen Monumentalbauten des Strausberger Platzes erheben.
Hier, wo die Karl-Marx-Allee dem gescheiterten Realsozialismus ein Betondenkmal setzt, scharten sich vor Jahrhunderten die Berliner um den brennenden Scheiterhaufen. Der Strausberger Platz – ein Ort, der die Berliner Vergangenheiten verwaltet. Doch während sich die eine Vergangenheit mit trotzigem Stalinkitsch in den Himmel drängt, ruht die andere fast schon vergessen unter der Erde.
Wer sich die Zeit nimmt, wird auf dem Strausberger Platz eine kleine Erinnerung an seine Vergangenheit als Richtstätte finden: Eine von vier schlichten Informationstafeln weist darauf hin, dass hier Todesurteile vollstreckt wurden: Der Kaufmannn und Marodeur Hans Kohlhase wird im Jahr 1540 hingerichtet; sein Schicksal dient Heinrich von Kleist später zur Novellenvorlage.
In der Mollstraße 11, einen guten Kilometer vom Strausberger Platz – dem alten "Rabenstein" – entfernt, findet sich ein Gedenkstein. Er erinnert an das Justizverbrechen, das an Salomon von Spandau und seinen Glaubensbrüder verübt wurde. Die Gedenktafel hat der Rabbiner Martin Salomonski schon im Jahr 1935 anfertigen lassen – dem Jahr der Nürnberger Gesetze.
Beitrag von Mirjam Banz und Maximilian Horn
Artikel im mobilen Angebot lesen