Tagebuch (23): Ukraine im Krieg
In den tief gelegenen Stadtteilen von Cherson herrscht Dauerbeschuss. Galina fährt trotzdem hin, um die Leute dort zu versorgen. Doch seit dem Dammbruch von Kachowka flutet der Dnepr die Häuser, erzählt sie Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch.
Natalija Yefimkina: Manchmal habe ich das Gefühl, dass man das Grauen, das viele in der Ukraine erlebt haben, die wirklich schlimmen Dinge, überhaupt nicht wiedergeben kann. Die Menschen, die davon erzählen könnten, haben ihre Sprache verloren. In solchen Momenten erscheint mir sinnlos, was ich mache, die ganzen Interviews, die vielen Gespräche. Aber sobald ich wieder mit jemandem aus der Ukraine spreche, hallen ihre Stimmen und ihre Worte noch die ganze Woche lang in mir nach.
Das ist mein Antrieb, die Leute. Wenn sie den Mut nicht verlieren, warum sollte ich ihn dann verlieren. Jeden Dienstag hat uns Beach Mitte ein Volleyball-Feld gesponsert, das wir mit vielen Ukrainerinnen nutzen. Im Sand unter der Sonne vergessen wir uns und lachen. Ich glaube, es lacht niemand so viel um uns herum wie wir.
Ich rufe eine Frau in Cherson an, zwei Mal. Zum ersten Mal telefonieren wir wenige Tage bevor Teile der Stadt und weite Flächen des Umlands in den Fluten des Dnepr versinken, nachdem der Kachowka-Staudamm geborsten ist. Beim zweiten Mal sprechen wir, als das Wasser in der Stadt immer noch steigt. Doch zunächst von vorn. Ich bitte sie sich vorzustellen.
Ich heiße Galina, bin 57 Jahre alt und Unternehmerin, aber das Leben wollte es so, dass ich jetzt auch eine Freiwillige bin (lacht).
Wir hatten ein Sommercafé am Meer, in Lazurnoje, direkt an der Schwarzmeerküste, und eine eigene Kantine in Cherson, die wir gemietet hatten und privat betrieben.
Jetzt sind von dem Café am Meer, nachdem die Russen alles auseinandergenommen haben, wahrscheinlich nur noch die Wände übrig. Wir wissen es nicht genau, aber machen uns keine großen Hoffnungen. Und hier in Cherson sind alle Besucher, die uns Umsatz gebracht haben, natürlich weg.
Vor dem Krieg hatte die Stadt 350.000 Einwohner. Wenn überhaupt sind es jetzt noch 50.000, vor allem alte Menschen und solche mit Behinderungen, die Probleme mit der Fortbewegung haben.
Aber die Kantine in Cherson gibt es noch. Wir verpflegen kostenlos Freiwillige und Sozialarbeiter und bringen den Jungs Essen an die Checkpoints. Also wir kochen für die Bedürfnisse der Bevölkerung, aber verkaufen geht kaum noch. Ein bisschen Gebäck auf der Straße, um etwas Geld zu verdienen, weil der Staat den Privatunternehmen überhaupt keine Unterstützung bietet.
Aber hauptsächlich kümmern wir uns um Omas und Opas, Kinder und Menschen, die eine individuelle Betreuung brauchen, also keine Massen, die in Schlangen für Brot und Bohnen stehen können, sondern um die, die individuellen Zugang brauchen.
Wie ist die Situation gerade in Cherson?
Wissen Sie, wie ich sie nennen würde - einen langsamen Genozid. Die Bezirke, die nah am Dnepr sind, also Karabelnij, Nevtegavan oder Ostrov, kann man als Todeszonen bezeichnen. Das ist wie Tschernobyl. Dort hausen noch 10 bis 15 Menschen, die aus irgendwelchen Gründen nicht wegkönnen oder nicht weg wollen. Vor allem die ältere Generation, die tiefe Wurzeln geschlagen hat, will unter keinen Umständen alles fallen lassen. Dabei wird dort jeden Tag bombardiert. Und jeden Tag ist die Lage ernst.
Was den Rest der Stadt betrifft, so gibt es bei uns täglich neue Zerstörungen und vereinzelt Tote. Mitunter werden auch an belebten Orten Gebäude zerstört, wie etwa am 3. und 4. Mai, als es ein Baugeschäft und einen Lebensmittelmarkt traf.
Wir haben ein Lehrer-Fortbildungsinstitut mit angegliedertem Wohnheim: Als wir heute nach der Arbeit daran vorbeifuhren, war es weg. Kein Institut und kein Wohnheim mehr.
Waren dort Armeeangehörige untergebracht?
Solche Details wissen wir natürlich nicht, weil die Jungs [Soldaten, Anmerk. d. Red.] nicht immer an denselben Stellen wohnen. Sie ziehen um. Leider ist es in Cherson furchtbar mit Kollaborateuren und solchen, die für Russland arbeiten. Die Russen treffen immer zielgenauer… einfach so passiert das nicht.
Es gibt Informanten unter uns in Zivil. Die verraten wahrscheinlich die Positionen, denn viele Einschläge erfolgen gezielt, vor allem auf Wohnheime, Gymnasien, Lyzeen, wo Standorte unserer Jungs sein könnten. Solche Zufälle gibt es nicht.
Haben Sie eine Familie?
Natürlich. Sie sind am 24. April 2022 weggegangen. Mein Sohn und meine Tochter und drei Enkelkinder sind in den Ort Sokyrjany gezogen, im Westen der Ukraine, an der Grenze zu Rumänien.
Nur mein Mann und ich sind geblieben (wegen den Hunde – ruft ihr Mann im Hintergrund), ja, wegen der Hunde und der Katzen. Als alle um uns herum wegfuhren, baten sie uns, den vielen allein gebliebenen Opas und Omas von Freunden und Bekannten zu helfen.
Wir hatten keinen Gedanken zu gehen. Wir waren schon daran gewöhnt, hier gebraucht zu werden. Es ist eine wichtige Sache, dass dich jemand braucht. Als wir zehn Tage lang unsere Kinder an einem sicheren Ort trafen, fühlten wir uns schon schlecht, weil man da so inaktiv ist. Dort lebt man ein Leben, auf das wir zur Zeit kein Recht haben.
Können Sie erzählen, wie Ihr Tag so abläuft?
Morgens gehen wir zur Haltestelle und lauschen, wo es gerade Flugbewegungen gibt. Wir verstehen mittlerweile, welche Geschosse gerade fliegen, wo Drohnen etwas abwerfen. Dann gehen wir zum Sammeltaxi und fahren zur Arbeit.
Wir versorgen ja umsonst Menschen. Unsere Kantine ist im Keller in der Schiffsfahrtbehörde, deswegen dürfen wir arbeiten, weil wir alle Sicherheitsmaßnahmen befolgen. 6 Uhr morgens geht’s los bis 10.00 Uhr, dann ist die Hauptarbeit erledigt. Die Mädels machen weiter, während wir zu Leuten fahren. Wir haben eine Liste, wo man auf uns wartet und was wir besorgen müssen.
Vor allem sind es jetzt Medikamente. Die Älteren bekommen eine Hilfen von 1.200 Hrywnja (rund 30 Euro) und eine Rente von 2.000 Hrywnja (rund 50 Euro). Das ist sehr wenig Geld. Medikamente können mitunter 800 bis 1.500 Hrywnja kosten, deshalb konzentrieren wir uns gerade auf die Rentner und Menschen mit behinderten Kindern, die sich solche Medikamente nicht leisten können.
Wir fahren in die Apotheke und liefern das direkt an die Adressen. Das baut natürlich eine Beziehung auf, jeder hat seinen eigenen Kummer zu erzählen. Manche der alten Menschen verlegen wir ins Krankenhaus oder bringen sie zum Arzt. Großfamilien mit vielen Kindern versuchen wir aus der Geldnot herauszubekommen. Wir helfen mit der Renovierung, bringen ihnen Baumaterial und sie werkeln selbst was.
Jeder Tag ist durchgetaktet, außer der Sonntag. An einem Tag sollte man sich ausruhen, sonst wird man verrückt.
Was sind das für alte Menschen, die man zurückgelassen hat?
Die dachten, sie kommen hier alleine zurecht. Und ihre Kinder dachten, wir sind ja in zwei Monaten wieder zurück. Niemand hat damit gerechnet, mehr als ein Jahr weg zu sein. Und ja, sie kommen zurecht, aber die Einsamkeit hat sie so sehr aus dem Ruder geworfen, dass sie Unterstützung brauchen.
Menschen gehen auf unseren Instagram-Account und schreiben uns - könnte Sie nicht mal bei dieser Adresse nach meiner Oma schauen, vielleicht braucht sie was.
Und was ist mit diesen hoch gefährlichen Bezirken, dort fahren Sie nicht hin oder?
Doch, tun wir. Am Freitag erst waren wir im furchtbarsten Bezirk bei uns, in Nevtegavan, wo die Häuser direkt am Wasser stehen. Man kann sie vom anderen Ufer mit dem Fernglas sehen. Aber selbst dort sind Menschen geblieben, alles alte Menschen, viele sind ans Bett gefesselt und wir bringen ihnen das, wonach sie fragen.
Das machen wir sehr vorsichtig und wir fahren mit Menschen, die wissen, wie man am besten fährt und wo man besser abbiegt. Kaum waren wir am Freitag zurück in unserer Kantine, schlug eine Rakete ins Hotel Brigantina ein, an dem wir vor 10 Minuten vorbeigefahren waren.
Bei uns ist man nie sicher, der schlimme Bezirk oder der sicherere Bezirk, im Grunde gibt es sowas gar nicht. Alles ist gefährlich (ihr Mann ruft im Hintergrund: "Schutzwesten und Helme"). Ja, Schutzwesten tragen wir, Helm eher selten, aber wir haben sie.
Was haben Sie vorhin mit langsamem Genozid gemeint?
Sie zerstören die Menschen, sie höhlen sie von Inneren aus, sie prüfen, wie lange sie aushalten. Mit den Folgen werden wir noch sehr lange zu tun haben.
Furchtbare Folgen, vor allem bei den Kindern. Wir versuchen sie mit neuem Spielzeug zu erfreuen, neuen Sachen, weil die Psychologen das raten. Denn die Kinder haben Traumata, die sie nicht erklären und nicht benennen können, aber in fünf Jahren werden sich daraus ernste Krankheiten entwickeln.
Rund 3000 Kinder sind in Cherson geblieben und sie leben in 1657 Familien. Das ist keine riesige Zahl, aber doch eine Zahl. Ihre Eltern bleiben vor allem aus finanziellen Gründen. Sie sorgen sich, außerhalb von Cherson finanziell nicht überleben zu können. Man braucht ja immer Sicherheiten, egal wohin du gehst und die Menschen hören Verschiedenes, welche Haltung man ihnen gegenüber in anderen Ländern hat.
Was ist Ihre Geschichte, Ihr Leben Galina?
Ich stamme aus Russland, aus Kaliningrad, dem früheren Königsberg. Dort leben auch noch meine Verwandten, meine Mutter. Ich war immer stolz auf dieses Land und hielt mich für Russisch, aber seit dem 24. Februar will ich das nicht mehr sein. Jetzt habe ich nur noch Verwandte mit Russland gemein, sonst nichts.
Ich lebe hier schon seit 37 Jahren, bin Ukrainerin und versuche auch Ukrainisch zu sprechen (wechselt ins Ukrainische), so gut ich es halt kann. Dieses Land ist mir sehr nah geworden.
Galina, aber sie leben in Cherson, wie halten Sie diese tägliche psychische Belastung aus?
Man darf alle Information nur dosiert aufnehmen, am besten natürlich die guten. Alles andere muss man natürlich wissen, aber in kleinen Portionen, sonst ist es das Ende.
Wir haben ein Privathaus, wenn ich Zeit habe, pflanze ich Tomaten, denke an was anderes, lebe das Leben, als ob es den Krieg nicht gäbe.
Und dann ist es jeden Tag auch eine Hilfe, dass dich jemand braucht. Einer sitzt im Rollstuhl, der andere sieht überhaupt nichts mehr, der dritte bewegt sich kaum auf zwei Stöcken. Und sie verlieren trotzdem nicht die Laune. Man bringt ihnen Tabletten, sie sind froh, man bringt Holzkrücken, die man irgendwo gefunden hat und sie passen und er springt einem um den Hals und ist so froh und weint fast. Das Glück ist jetzt in den kleinen Dingen.
Tage später. Der riesige Kachowka-Damm, der den Strom Dnepr auf mehr als 200 km Länge aufstaut, ist geborsten. Seither strömen gewaltige Wassermassen auch in die niederen Stadtteile von Cherson. Ich rufe Galina an.
Wie es mir geht? Ich bin gerade aufgewacht, ich kann einfach nicht schlafen. Es ist katastrophal in Cherson. Das, was passiert ist, können nur Experten auf höheren Ebenen beurteilen. Aber es ist passiert. Wir müssen aber jetzt etwas tun, wir müssen uns zusammen raufen, kooperieren.
Die Hilfe wird auch morgen noch nötig sein. Man muss die Menschen ja nicht nur retten, evakuieren und umsiedeln, ihnen Wohnraum und das Nötigste zur Verfügung stellen. Die Leute sind ja nur mit dem, was sie anhatten, auf die Straße gestürzt.
Sie haben nicht geglaubt, dass der Wasserspiegel so sehr steigen wird. Sie dachten, im zweiten Stock oder auf dem Dach abwarten zu können
Das alles ist nicht eingetreten. Sie haben alles verlassen müssen und brauchen jetzt Unterkünfte.
Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass das hier lange dauern wird und die verfügbaren Ressourcen vernünftig zu verteilen sind. Manche muss man mit Essen versorgen, andere mit Wohnraum, Kleidung, Medikamenten.
Was bringt eine Katastrophe solchen Ausmaßes mit sich: nicht nur den menschliche Faktor, nicht nur das Sterben von Tieren, die Trauer und das Leid. Auch vieles anderes, Krankheiten etwa, und nicht nur die Nevenkrankheiten, sondern auch Magen-Darm-Krankheiten.
Ich werde ich jetzt alle meine Kräfte oder wenigstens einen großen Teil davon darauf richten, Listen der Apotheken aufzusetzen und notwendige Medikamente zu kaufen. Damit sie zur Hand sind, wenn man sie braucht, bitte sehr.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.03.2023 | 09:08 Uhr
Beitrag von Natalija Yefimkina
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