Tagebuch (18): Ukraine im Krieg
Die verheerenden Bomben auf Mariupol haben sie getrennt: Oksana gelang die Flucht, ihr Mann geriet im Stahlwerk in Gefangenschaft. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über Verlust und Ungewissheit – und die Verschollenen von Azovstal.
Natalija Yefimkina: Kürzlich wachte ich von einer SMS von Max auf, einem Regiekollegen aus Kiew. Max schrieb, dass er auf der Beerdigung eines Editors für Filmschnitt war, der an der Front gefallen war. Die ganze Filmelite der Ukraine war auf dieser Beerdigung. Einer der Kollegen scherzte, dass wenn eine Bombe jetzt hier einschlüge, das gesamte ukrainische Kino vernichtet sei.
Die Verwandten und Freunde des Filmschnittmeisters organisierten am Abend dann eine Party zu seinen Ehren, man zeigte sich Familienfotos, ein DJ legte auf, Menschen tanzten. Dort waren auch die Frau und die Tochter des Gefallenen. Alle versuchten, den Schmerz in Freude aufzulösen, es war traurig und fröhlich zugleich. Komische Zeit, schreibt Max - alle feiern und gucken gleichzeitig auf die Uhr, um den Anfang der Sperrstunde nicht zu verpassen.
Mах hat keine Arbeit und kann doch nicht umhin, in der Ukraine zu bleiben. Um nicht verrückt zu werden, muss er was tun. Seit mehr als acht Monaten wartet er auf eine Zu- oder Absage des deutschen Fernsehens für ein Projekt über ukrainische Dokumentarfilmer, die über den Krieg berichten. Acht Monate.
Ohne das Geld müssen die Dokumentarfilmer irgendwann ihre Arbeit aufgeben. Ihnen ist auch völlig klar, dass nur sie eine Bestandsaufnahme des Kriegs machen können. Nur dem deutschen Fernsehen scheint nichts wirklich klar zu sein. Sie sind viel zu beschäftigt mit der Produktion ihrer eigenen Inhalte, mit den Gremien und dem Miteinander.
Ich rufe Oksana an und bitte Sie sich vorzustellen, mir zu sagen, was sie beruflich macht und vorher sie kommt.
Ich heiße Oksana, bin aus Mariupol, aber jetzt, wie Sie sich denken können, befinde ich mich nicht mehr dort. Ich schreibe Prosa und Gedichte und habe Literaturprojekte für Erwachsene und Kinder organisiert. Dafür habe ich eine zivilgesellschaftliche Organisation gegründet.
Wie alt sind Sie, Oksana?
Fünfzig.
Wo hat der Krieg Sie überrascht?
Das werde ich nie vergessen. Ich war damals in Mariupol. Meine erwachsene Tochter rief mich an, sie hat die letzten Jahre bereits in Kiew gelebt. Um fünf Uhr morgens rief sie an und ich habe sofort verstanden, was los ist.
Sie sagte mir, dass man in Kiew Explosionen hört und das erste, woran ich damals dachte und auch jetzt noch oft denke, war: lieber wir und nicht die ganze Ukraine.
Sofort danach wurde mein Mann angerufen. Er ist zwar kein Armeeangehöriger, hat aber in der Territorialverteidigung gedient und mit dem Aufheulen des ersten Alarms wurde er sofort gerufen. 15 Minuten später war er weg. So fing für mich der Krieg an.
Was meinen Sie mit 'lieber wir und nicht die ganze Ukraine'?
Ich dachte, wir in Mariupol sind ja im Osten der Ukraine und hatten uns auf den Krieg schon vorbereitet, weil er ja seit acht Jahren in unserer Nähe tobte. Wir hatten die Ostgrenze befestigt, auch wenn uns damals natürlich nicht klar war, welchen Maßstab dieser Krieg erreichen würde.
Und ich hatte Angst vor dem Gedanken, dass die ganze Ukraine in den Krieg reingezogen werden könnte, was dann ja tatsächlich auch so gekommen ist.
Sie lebten in Mariupol …
Meine Tochter ist schon erwachsen, sie hat in Kiew studiert und ist dortgeblieben. Mein Mann und ich wollten eigentlich auch zu ihr ziehen. Aber im Jahr 2014 [Anm. d. Red.: Annexion der Krim] habe ich erstmals gespürt, dass wir Mariupol verlieren könnten. Damals wurde mir klar, wie wichtig für mich diese Stadt ist. Und so habe ich gescherzt, dass ich in Mariupol bleibe, weil ich es dadurch beschütze - nur durch meine Anwesenheit. Aber leider, Sie sehen es ja, die Anwesenheit hat nicht gereicht.
Also sind Sie auch nach Kriegsbeginn in Mariupol geblieben?
Ja. Ich blieb aus Prinzip, dachte nicht mal daran zu gehen. Es war mir klar, dass ich irgendwas tun muss, etwas das von mir abhängt und das ich kann. Also blieb ich, um der Armee zu helfen, die Stadt zu verteidigen und den Zivilisten zu helfen, in der Stadt zu überleben.
Wie sah das konkret aus?
Ich war Freiwillige in einer ehrenamtlichen Organisation, wie es halt so ist, jeder kennt ja ehrenamtliche Arbeit.
So lief es die ersten Wochen. Aber am 16. März war klar, dass die Stadt besetzt wird und in einer okkupierten Stadt zu bleiben sah ich für mich als Freiwillige keinen Sinn.
Das war der Tag, den die meisten Leute als den Tag kennen, an dem das Dramaturgische Theater zerstört wurde. Unser Haus befindet sich gleich daneben, buchstäblich 200 Meter vom Theater entfernt.
Die ganze Innenstadt wurde sehr stark bombardiert. Die Frontlinie war bereits in der Nebenstraße. Ich verstand, dass zu gehen wahrscheinlich die richtige Entscheidung ist. Mein Mann und dessen Bruder kamen um zu gucken, ob ich noch am Leben bin und der Bruder meines Mannes sollte mich mitnehmen. Wir hatten uns schon zuvor nicht jeden Tag in Mariupol gesehen. Mein Mann bestand drauf, dass ich die Stadt verlasse. Er hat mich einfach ins Auto gesetzt.
Wir fuhren an denen vorbei, die es nicht geschafft hatten - an getöteten Menschen. Die Fahrt dauerte sehr lange. Am Ausgang der Stadt gab es starken Beschuss, doch die Besatzer ließen die Menschen nicht raus.
Warum ich darauf bestehe, dass es um die Vernichtung der Ukrainer ging? Weil ich das mit eigenen Augen gesehen habe, ich rede auch ständig darüber. Wenn ein Territorium besetzt wird, dann geht es den Besatzern darum, dass alle Menschen, die mit der Besetzung nicht einverstanden sind, den Ort verlassen. Aber in diesem Falle hat man die Menschen nicht herausgelassen. Sie haben vielmehr die Leute aufgehalten und dann getötet. Und weiter aufgehalten und weiter getötet. Sie haben die Menschen nicht herausgelassen.
Für die ersten 10 km aus Mariupol brauchten wir sieben Stunden.
Haben Sie die Tötung von Menschen gesehen?
Natürlich, wir alle haben das gesehen…
Es gab ständigen Beschuss. Wir wurden aus Flugzeugen heraus bombardiert, selber hatten wir ja keine Flugzeuge und keine Luftabwehr, das war ja das Problem. Wir wurden von allen Seiten angegriffen. Nach Mariupol sind die Besatzer von der Krim aus gekommen. Wir wurden eingekesselt und die Stadt wurde einfach von der Erdoberfläche ausradiert. Es wurde Meter für Meter ausgebrannt, die Menschen einbegriffen, die Kinder einbegriffen, alles Lebendige…so viele, wie nur möglich.
Sie haben es geschafft rauszukommen, aber ihr Mann ist geblieben?
Er ist ja Offizier und hat die Stadt verteidigt … und ich bin gegangen. Bis Mitte Mai musste ich gemeinsam mit meiner Tochter in den ganzen Livestreams im Netz quasi direkt zusehen, wie man uns nahestehende Menschen tötet, weil mein Mann im Azovstal-Stahlwerk war.
Mit allen Arten von Geschossen wurde das Azovstal-Stahlwerk vernichtet mitsamt den Menschen, die sich dort befanden. Auch Zivilisten, wir wussten ja, dass es dort viele Zivilisten gibt. Dabei zuzusehen war noch schwerer als in Mariupol zu sein, wenn du von außen diesem Horror zuschauen musst.
Das ging bis Mitte Mai und dann, das weiß ja die ganze Welt, fand die Operation zur Evakuierung der Verteidiger von Azovstal statt. So geriet mein Mann in Gefangenschaft zusammen mit all den Anderen.
Konnten Sie direkt mit ihm sprechen als er dort in dem Stahlwerk war?
Wir hatten sehr wenig Kontakt, denn das war schwierig. Azovstal ist ein riesiges Werk, eher eine kleine Stadt. Als das Werk noch funktionierte, fuhren dort sogar die Öffentlichen und haben die Leute befördert, da es solche großen Distanzen zwischen den einzelnen Werksteilen gab.
In Azovstal gab es nur einen oder zwei Orte, wo es Netz gab. Die Männer mussten, um ihre Verwandten zu erreichen, zu diesen Orten rennen. Mein Mann war einer von diesen, er gab auch Information über andere weiter, die da nicht hinlaufen konnten.
Ich habe dann deren Verwandte kontaktiert, weil das Furchtbarste in Mariupol und danach war, dass Menschen einander verloren, dass man gar keine Informationen über Familienangehörige hatte. Das ist sehr schwer, wenn die Menschen einfach nichts wissen… und wenn herauskam, dass die Leute lebten, haben wir die Angehörigen benachrichtigt.
Für mich war es immer sehr beängstigend, wenn mich mein Mann kontaktierte. Denn ich wusste, dass es gefährlich ist: Er musste eine ganze Strecke laufen, um mir eine SMS zu schreiben. Wir telefonierten nicht, weil jedes Geräusch ihn hätte verraten können, deswegen nur Nachrichten.
Jedes Mal, wenn wir geschrieben hatten, musste er ja wieder zurück zu irgendeinem Standort und ich wusste nie, ob er es heute schafft oder irgendwo liegen bleibt, verletzt oder tot…
Bis zur nächsten Kontaktaufnahme, die ein paar Tage später war, wusste ich nicht, ob er zurückgekehrt ist … das letzte Mal … das ist eine furchtbare Erfahrung …
Wir sind ja alle Zivilisten. Wenn ich sehe, wie die russische Propaganda funktioniert und wie sie erzählt, dass in Azovstal furchtbare Nazis zugange seien … in Wahrheit waren es ganz normale Menschen.
Mein Mann zum Beispiel ist eigentlich ein Verkehrsexperte, er war viele Jahre Direktor des Hafens von Azovstal. In den letzten Jahren hat er meinen Verein geleitet und soziale und ehrenamtliche Projekte für Kinder mit mir zusammen veranstaltet. Das ist kein Kriegsmensch, das ist ein Mensch, der für den Frieden ist.
Er wollte niemals töten, das ist nicht seine Art, aber unsere Männer und Frauen, unsere Menschen, wurden einfach dazu gezwungen sich zu verteidigen, ihr Land zu verteidigen, ihre Nächsten und ihre Häuser, vor allem nach dem, was wir in Mariupol gesehen haben.
Alle die dort waren, und ich kenne viele von ihnen, sind wunderbare Männer und Frauen, die Häuser gebaut, Bücher geschrieben haben, Sportler waren oder Juristen - sehr friedliche Menschen, die einer friedlichen Arbeit nachgingen. Sie hatten wunderbare Familien und Kinder, manche hatten viele Kinder … und jetzt sind sie alle in Gefangenschaft …
Seit sieben Monaten in Gefangenschaft haben sie nicht nur ihre Familien nicht gesehen, nein, sie wissen nicht einmal, was mit ihnen ist, dürfen nicht mit ihnen reden oder Kontakt aufnehmen. Russland hält sich nicht an das Genfer Abkommen, nach dem die Gefangenen ein Recht darauf haben, mit ihren Familienangehörigen zu reden.
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Dann reden sie ja auch nicht mit ihm. Was ist mit ihrem Mann?
Seit dem Moment als er aus Azovstal raus und in Gefangenschaft geriet, haben wir kein einziges Mal miteinander gesprochen
Weil Russland das Genfer Abkommen nicht einhält …
Ich habe überhaupt keine Informationen. Mehr noch, sogar das Rote Kreuz, das den Aufenthalt unserer Gefangenen in russischen Folterkammern überwachen sollte, antwortet nicht auf Anfragen, selbst nach dem Anschlag im russischen Gefängnis Oleniwka. Sie wissen ja davon, dort sind damals sehr viele Menschen, unsere Gefangenen, umgekommen, denn es gab Explosionen in einem der Gebäude. Die Leute sind bei lebendigem Leib verbrannt. Ich habe versucht irgendetwas herauszubekommen über meinen Mann, aber nichts. Keine offizielle Information von niemanden.
Wissen Sie wenigstens, ob er am Leben ist?
(lacht traurig) Ich hoffe, dass er am Leben ist …
Ein paar Leute, die durch Gefangenenaustausche zurückkamen, haben mich kontaktiert - drei Menschen waren das und sie haben mir gesagt, dass sie meinen Mann gesehen haben… aber das war vor dem Anschlag …
Die Information, die ich bekam, war veraltet, von vor einem halben Jahr. Aber mein Herz sagt mir, dass er am Leben ist. Wir warten auf ihn. Ich schreibe ihm Versblätter (lacht) … und ich hoffe, dass er rauskommt.
Wenn ich ehrlich bin, dachte ich, dass alles schneller geht und er bis zum neuen Jahr ausgetauscht würde. Aber es ist, wie es ist. Das neue Jahr ist da und wir stehen noch da, wo wir standen…
Aber es gibt doch den Gefangenenaustausch?
Ja, Gott sei Dank gibt es den. Ich freue mich über jeden Austausch. Auch wenn mein Mann nicht dabei ist, freue ich mich für andere und darüber, dass dieser Prozess überhaupt stattfindet. Aber alles geht sehr langsam vonstatten und Sie verstehen ja, was es heißt, in Gefangenschaft zu sein für einen Menschen, der unschuldig ist, der nichts Furchtbares gemacht hat.
Selbst Leute, die zur Todesstrafe verurteilt wurden, haben die Möglichkeit zum Kontakt, was man von unseren Kriegsgefangenen nicht behaupten kann. Stellen Sie sich vor, mein Mann weiß nichts von uns. Er weiß nicht, was außerhalb passiert, nur das, so denke ich, was man ihm dort erzählt.
Das ist furchtbar, zu wissen, dass der Krieg andauert und nicht zu wissen, ob seine Liebsten noch am Leben sind, was mit ihnen ist, wo sie sind.
Vielleicht verstehen es die Menschen nicht, aber glauben Sie es mir, ich weiß es nach Mariupol. Sich zum einem in einem Informationsvakuum zu befinden, nicht wirklich zu verstehen, was außerhalb von Mariupol vor sich geht und zum zweiten einfach Angst zu haben um den anderen ohne die Möglichkeit, ihm Bescheid zu geben, das mit dir alles in Ordnung ist. Das ist psychologisch sehr schwer. Menschen haben wirklich ihr Leben riskiert, um einfach nur zu telefonieren.
Bei uns in Mariupol hatten wir nur einen Ort, später noch einen Zweiten, an dem es Netz gab und die Stadt ist sehr groß. Die Menschen mussten lange… Sie verstehen ja, dass es gar keine Verkehrsmittel gab?… die Menschen mussten unter Beschuss dorthin rennen, unter Bombardierung, um diesen Ort zu erreichen. Sie machten das, nur um die geliebte Stimme zu hören. Die Menschen rannten Kilometer und zurück und manche, wahrscheinlich viele von ihnen, kamen nicht wieder in ihren Kellern an.
Oksana, schreiben Sie weiter an Ihren Texten?
Ja. Ich schreibe, schreibe. Ich schreibe ein Buch. Eigentlich wollte ich über die Ereignisse in Mariupol schreiben, aber dann verstand ich, dass auch alles, was danach passiert, das Warten auf den Ehemann und die Ereignisse außerhalb der Stadt wichtig sind. Es wird Geschichte geschrieben und es ist es sehr wichtig, darüber zu sprechen.
Mein Buch ist aus den Grenzen von Mariupol getreten. Ich arbeite immer noch daran und parallel wird es übersetzt, übrigens ins Deutsche. Es kommt in Deutschland heraus. Außerdem schreibe ich Gedichte, weil Gedichte etwas ganz anderes sind. Das ist Emotion. Mit den Versen, wissen Sie, weine ich, mit den Versen weine ich.
Und Sie schreiben an ihn…
Auch an ihn, ich schreibe überhaupt über den Krieg, über meine Empfindungen. Es gibt ganze Stapel von Blättern mit Versen an meinen Mann. Ich hoffe, dass es nicht mehr werden, ich hoffe, dass er rauskommt und sie lesen wird… ich habe genug davon, diese Verse zu schreiben.
Sendung: rbb24 Inforadio, 14.01.2023 | 12:00 Uhr
Beitrag von Natalija Yefimkina
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