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Audio: rbb24 Inforadio | 30.06.2023 | Natalija Yefimkina | Quelle: privat

Tagebuch (24): Ukraine im Krieg

"Er sah die Minen nicht. Er hielt sie für Steinchen oder Äste."

Maria sitzt im Keller, zwei Wochen lang. Oben detonieren Bomben. Unserer Autorin Natalija Yefimkina schildert die 18-Jährige ihre Flucht aus Mariupol - über verminte Straßen, durch russische Filtrationslager und quer durch die Front.

Dies ist eine Warnung. Das Lesen dieses Textes tut weh. Er gibt in verstörenden Details die Lebenswirklichkeit des Krieges und dessen Folgen wieder. Die Redaktion hat sich entschieden, ihn nur leicht redigiert in voller Länge zu publizieren. Lesezeit: ca. 25 Minuten.

Ich heiße Maria Vdovichenko und komme aus Mariupol. Vor dem Krieg ging ich die 11. Klasse der Schule Nr. 24. Das liegt im Primorskij Bezirk, wo wir auch gewohnt haben. Ich stand kurz davor, Jahrgangsbeste der Schule zu werden.

Mein Vater arbeitete viel und schwer in der Fabrik Azovstal, die mittlerweile weltweit bekannt ist.

Meine Mutter hatte vor sieben Jahren einen ersten Anfall von Polyneuropathie. Daraufhin wandte sich mein Papa an die Kirche, uns zu helfen. Im Gegenzug leistete ich dort freiwillige Arbeit. Die Kirche war nicht nur für Mariupol ein besonderer Ort, denn sie hatte Petrykiwka-Fresken im großen Stil. So etwas gibt es in der ganzen Ukraine nicht noch einmal. Ich half dort, Mittagessen für Menschen zu kochen, die geflohen waren und ihre Häuser verloren hatten. Später hatte ich in der gleichen Kirche die Möglichkeit, Bandura (ukrainische Laute) spielen zu lernen.

So ist alles miteinander verbunden. Mama konnte später wieder laufen und wurde gesund.

Zur Person

Außerdem habe ich eine Schwester, die damals 12 Jahre alt war. Sie ist ein sehr kreatives Mädchen. Sie liebte es zu malen – eigentlich überall und mit allem, was nur geht.

Ihre Kreativität ist geblieben, aber durch den Krieg wurden ihre Farben düster - sie begann, ihre Gefühle zu malen und sich sonst in sich zu verschließen. Man kann ihren wahren seelischen Zustand jetzt nur noch durch ihre Bilder verstehen. Sie selbst spricht nicht darüber.

Vor dem Krieg blühte Mariupol auf. Die Stadt war ausgesprochen proukrainisch, auch wenn es natürlich Menschen gab, die das Ukrainische nicht hinnehmen wollten. Aber die waren in der Minderheit und meistens älter. Aus irgendwelchen Gründen hatten sie entschieden, dass es unter der ukrainischen Regierung nicht gut sei.

Ich erinnere mich an diese blühende Stadt. So wie ich wuchs und mich weiterentwickelte, wuchs und entwickelte sich Mariupol. Man hatte immer mehrere Optionen, konnte an vielen Veranstaltungen teilnehmen. Es wurde im großen Stil gebaut, das Zentrum wurde restauriert und viele Parks und Grünanlagen angelegt. Die Stadt wandelte sich.

Am 20./21. Februar 2022 demonstrierten viele Menschen auf dem Platz der Freiheit und dem Platz vorm Dramaturgischen Theater für Mariupol als Teil der Ukraine. Zu gleichen Zeit hatte Russland die sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk als unabhängig anerkannt und wir in Mariupol wollten nicht hinnehmen, dass die Stadt jemals ein Teil ihrer Seite wird.

Der Krieg selbst kam unerwartet, wir waren darauf nicht gefasst. Obwohl die Menschen spürten, dass es ernst werden könnte. Nur meine Mutter hat es geahnt, sie hat sich regelrecht vorbereitet. Wir anderen dachten nicht im Traum daran, irgendwohin zu fliehen, Taschen zu packen, irgendetwas einzukaufen.

In der Nacht vom 23. auf den 24. konnte Mama nicht schlafen, sie kochte in der Küche. Während sie da stand, hörte sie erste Explosionen vom Stadtrand her, vom östlichen Ufer. Bereits um 4 Uhr morgens gab es einen Einschlag in ein Wohnhaus mit ersten Toten. Das erfuhren wir später aus Telegram-Kanälen.

Als Mama die ersten Einschläge hörte und die Fensterscheiben leicht zitterten, kam sie ins Zimmer gerannt, wo Nelja und ich schliefen und schrie, dass wir anfangen sollten zu packen.

Ich habe es zu der Zeit nicht geglaubt. Ich dachte, dass sie sich einfach zu viele Sorgen macht und vielleicht in einer schwierigen psychischen Phase ist, in der man sie beruhigen müsste. Mama war aber so entschieden, dass wir uns augenblicklich anzogen, chaotisch irgendwelche Taschen packten und anfingen Nachrichten zu checken.

Von dem ersten brennenden Haus war schon überall zu lesen. Kolonnen feindlicher Infanterie, Panzer und anderes seien in Bewegung gesetzt worden und die ukrainische Armee mache sich bereit.

Wir riefen all unsere Bekannten und Nachbarn an, um zu fragen, was wer vorhatte. In der Stadt gab es bereits Panik. Kein Mensch schlief mehr. Leute versuchten ihre Autos zu tanken, rannten, um alles aufzukaufen, was es in den Geschäften gab. Alles war im Chaos.

Um 12 Uhr mittags wollten wir irgendwohin losfahren, aber zurückgekehrte Nachbarn sagten, dass es unmöglich sei, aus der Stadt herauszukommen. Überall lange Autoschlangen und es würde bereits nah an der Stadt gekämpft.

In den nächsten Tagen trug jeder sein eigenes Risiko, denn es gab noch keine Korridore, keine Übereinkünfte über die Evakuierung der Menschen. Manche hatten das Glück rauszukommen, andere nicht.

Maria spielt Bandura | Quelle: privat

Meine Familie versuchte ruhig zu bleiben und die Wohnung nicht zu verlassen. Wir wohnten in der dritten Etage eines fünfstöckigen Hauses. Sobald wir komische Geräusche hörten, versteckten wir uns im Bad, denn wir hatten keinen Bombenschutzkeller.

Die Bombenangriffe wurden von Tag zu Tag mehr. Bereits am dritten, vierten Tag nach Kriegsbeginn war das Netz weg, es gab keinen Strom mehr und kein Wasser. Wenn es regnete, fingen wir vom Dach das Wasser mit Eimern auf, denn in den Läden waren längst keine Flasche mehr zu finden.

Es gab schon da Menschen, die Wasser aus den Pfützen schöpften. Und schon da fing das Plündern der Geschäfte an, weil nicht alle die Möglichkeit hatten, was zu kaufen. Die Stadt war vom Chaos des Kriegs ergriffen und es war unheimlich, auf die Straße zu gehen.

Wir bedeckten die Fenster in der Wohnung, damit die Glassplitter nicht nach innen fliegen. Zwischen die alten Doppelfenster aus Holz pressten wir Schaumstoff. Dafür mussten wir das Sofa aufschneiden, eine andere Möglichkeit gab es nicht.

So saßen wir in der Wohnung und versuchten Radiowellen zu empfangen, weil das Netz ja weg war. Man konnte niemanden anrufen. Die Stadt sank in ein Informationsvakuum und die Radiosender waren entweder russisch und aus dem besetzten Donezker Gebiet.

Dort wurde Massenpropaganda verbreitet: dass es sicherer sei, Richtung Russland zu fahren, wo Evakuierungskorridore seien, dass ukrainische Soldaten sich ergeben sollten und auch darüber, welche Seite angeblich wen rettet.

Es klang, als ob sie einem helfen und retten wollten. Manche Leute glaubten daran. Andere dachten, das wäre eine Provokation und die Evakuierungskorridore würden beschossen und vernichtet. Wir blieben in der Stadt, auch weil wir keinen Ort hatten, wo wir hätten hinfahren können.

So lebten wir bis zum 2. März, bis unser Haus direkt getroffen wurde. Das war am Morgen. Meine Familie schief auf dem Boden, so war es einfacher und schneller. Auf dem Boden konnte man besser warm werden. Es gab keine Heizung und draußen waren Minusgrade. Auf den Straßen lag Schnee.

Wir hörten das Dröhnen der Bombeneinschläge sehr nah. Man hat dieses Dröhnen jeden Tag gehört, aber an diesem Morgen war es besonders nah. Doch wir waren schon müde von all dem, was um uns herum passierte und versuchten das zu ignorieren.

Wir taten so, als ob wir schliefen. Aber das Bombengedröhne kam näher und näher, das Haus zitterte, die Möbel bewegten sich hin und her und plötzlich sprangen wir auf und rannten ins Bad. In dem Moment schlug das Geschoss in die fünfte Etage ein.

Meine Schwester wurde von der Druckwelle an die Wand geschleudert. Ich schrie sehr laut. Im ganzen Haus zersplitterte die Scheiben. Durch die Druckwelle wurden Kronleuchter herausgerissen, Deckenstücke fielen runter, die Türen wurden aus dem Rahmen gehoben, Möbel fielen um. Es war ein unglaublicher Krach, als würden die Wände einstürzen.

Meine Mutter erschrak sich so sehr, dass sie seitdem nicht mehr laufen konnte. Ihre Krankheit war zurück. Bis zum heutigen Tag kann sie nicht mehr laufen, so sehr hat sie sich über den Bombeneinschlag erschrocken.

Wir warfen uns Jacken über unsere Schlafsachen und stürmten in Hausschuhen und Plastiklatschen in den Keller. Meine Schwester schnappte sich unseren Kater. Papa und ich griffen Mama unter die Arme und schleppten sie nach unten.

Um in den Keller zu kommen, mussten wir ums Haus herum. Der am nächsten gelegene Eingang war mit Baumaterialien zugestellt, weil der Kinderspielplatz im Hof neu gebaut werden sollte. Also mussten wir den längeren Weg nehmen.

Draußen ging der Beschuss weiter. Es flogen Geschosse, es flogen Dachziegel und Teile vom Gebäude. Es gab überall Bombensplitter und alles war sehr nah. Autos brannten. Menschen liefen umher, sie schrien, hatten Panik und jeder suchte nach einem Versteck, weil es im Gebäude nicht mehr sicher war.

Zeichnung von Marias Schwester Nelja | Quelle: privat

Als wir zur Kellertür kamen, wollten uns die Nachbarn nicht reinlassen. Papa hat mit Gewalt fast die Tür eingeschlagen und schließlich kamen wir rein. Der Beschuss hielt die ganze Zeit an und es gab weitere Treffer. Nach uns kam noch eine Familie mit einem Säugling in den Keller. Sekunden später gab es einen Bombeneinschlag direkt vor der Tür dieses Kellers.

In diesem Keller verbrachten wir zwei Wochen.

Alle waren geschockt. Im Keller waren wir 25 Menschen, einfache Familien, die in diesem Haus lebten. Es gab auch Ältere, kleine Kinder und unsere Familie war die einzige mit einem Haustier.

So saßen wir den Tag über da, verängstigt und schockiert. Am Abend überlegten alle, welche Sachen wir aus der Wohnung in den Keller bringen sollten. Papa und ich beschlossen hochzugehen und Lebensmittel, Kleidung und Medikamente aus der Wohnung zu holen.

Wir mussten wieder um das Haus herum und wurden von dem Beschuss überrascht. Papa stürzte sich plötzlich auf den Boden und riss mich mit. Er hat nicht erklärt, warum er das macht und was gerade passiert. Ich erschrak mich und versuchte mich zu befreien. Vor uns lag eine Bordsteinkante. Ich sah eine Frau, die rannte und versuchte sich zu verstecken. In sie flog ein Stück heißes Metall. Es hat sie lebendig aufgeschnitten wie Butter… nicht mal Butter, wie Luft, als wäre sie nicht da. Es hat sie getötet.

Wir kannten diese Frau, sie war unsere Nachbarin. Und es hat sie direkt so da… umgebracht…

Papa und ich lagen noch mehrere Minuten auf dem Boden. Dann rannten wir zum Hauseingang. Der Hauseingang war voll mit zerbrochenem Glas und Staub, die Wände bröckelten.

In der Wohnung sammelten wir hektisch einfach alles, was wir in die Hände bekamen, und wickelten es in eine Decke, weil der Beschuss weiterging und sehr nah Bomben einschlugen. Wir konnten nicht alles mitnehmen, nicht das ganze Essen, nicht die ganzen Medikamente, nur das, was wir greifen konnten, und sind wieder runter in den Keller.

Die nächsten Tage konnten wir nicht noch mal in die Wohnung, weil das Treppenhaus zu unserer Etage zerstört war und irgendwann gab es auch die Wohnung nicht mehr. So blieben wir im Keller mit dem, was wir hatten.

In Mariupol gab es keine humanitäre oder medizinische Hilfe mehr. Einige Leute versuchten, Wasser zu verteilen, einfache Zivilisten, die anderen helfen wollten. Aber die Schlangen fürs Wasser wurden von den Okkupanten gezielt beschossen.

Alle großen Einkaufszentren wurden bombardiert. Der erste Beschuss hatte zivile Wohngegenden, Schulen, Kindergärten, große Supermärkte und Lebensmittellager zum Ziel.

Sie haben das alles vernichtet, damit Mariupol in absoluter Isolation bleibt und man es schneller einnehmen kann. Dazu nutzen sie alle Waffen, Luftschläge und auch Raketenangriffe von den Schiffen aus. Sie schlugen auf Mariupol mit allem, womit sie nur konnten.

Viele Menschen traten auf Landminen und wurden in die Luft gesprengt. Im Primorskij Park gab es kleine Wasser-Kanäle. Die Menschen suchten ja überall nach Wasserspendern, nicht um die Hände zu waschen, sondern um zu trinken. Viele starben als sie dahin gingen, denn die Kanäle waren vermint.

Wer verletzt wurde, aber nicht starb, wurde vor Ort erledigt. Einen solchen Menschen, den es dort in die Luft gesprengt hatte, hat man in unseren Hof gebracht und dort begraben.

Im Hof gab es schon viele Leichen. Es gab Leichen, die man nicht geschafft hatte zu begraben. Dann wurde versucht, sie mit der Erde zu bedecken oder mit etwas anderem wegen der Tiere, die auch hungrig waren. Es gab viele Tiere, weil die Menschen nicht immer die Möglichkeit hatten, ihre Haustiere mitzunehmen. Ein Hund konnte sich an die Leiche ran machen und Körperteile, zum Beispiel eine Hand mitschleifen.

Es ist ein Grauen, ein Tier mit der Extremität eines Kindes im Maul zu sehen.

Im Keller war die Situation angespannt. Nicht alle Nachbarn hatten Vorräte an Essen und Wasser. Die ersten Tage versuchten wir es gemeinsam und zusammen zu kochen, aber wegen des Dauerbeschusses konnten wir nicht in den Hof, wo unser Kochkessel stand. Also nutzten wir Konserven und irgendwelche Produkte, die nicht gekocht werden mussten.

Maria | Quelle: privat

Die Unterbringung im Keller: Eine Doppeldecke, einmal gefaltet, war der Platz für eine Familie. Auf der Decke, die wir von oben geholt hatten, schliefen wir zu viert, ich, Mama, Papa und meine Schwester. Und unser Kater. Mehr Raum gab es auf dem Kellerboden nicht. Man blieb halb sitzend, halb liegend, denn laufen konnte man dort nicht.

Im Keller gab es keine Toilette. Erleichtern konnte man sich in eine Tüte oder draußen im Hof.

Es war nur ein Raum. Der Boden war nackt, denn der Keller sollte renoviert werden. Es war kalt und feucht, Ratten liefen umher. Aber im Vergleich zu den Bomben waren die Ratten nicht schlimm.

In diesem Keller gab es große Glasfenster, vor die wir Säcke stellten, damit das Glas nicht nach innen fliegt. Es war kein guter Ort, um sich vor Bomben zu verstecken.

Schwierig war es mit der Beleuchtung, da wir keine Batterien hatten und keinen großen Vorrat an Kerzen. Wir wickelten Mullbinden, tunkten sie in Sonnenblumenöl und zündeten sie an. Dadurch hatten wir eine minimale Lichtquelle.

Wegen all dem Ruß und Staub kam aus der Nase oft schwarzes Blut. Die Hände waren immer fettig und auch die Gesichter waren mit Ruß bedeckt. Es gab keine Möglichkeit, sich die Hände zu waschen, das Gesicht, ganz abgesehen von anderer Hygiene.

Der Keller hat uns komplett aus der Zivilisation herausgerissen. Wir waren auf uns gestellt.

In der ersten Woche kursierten Gerüchte, dass Mariupol von der ukrainischen Seite die Ehrenbezeichnung „Stadt der Helden“ verliehen werden soll. Bis zu einem gewissen Grad waren wir froh, das zu hören. Für uns war es gleichbeutend damit, dass Mariupol bald befreit wird und der Krieg vielleicht vorbei ist.

Mit jedem weiteren Tag aber dachten wir, dass man uns vergisst. Als ob es uns nicht gäbe, wir langsam sterben, lebendig sterben und nichts dagegen tun können. Der Beschuss wurde immer stärker und unerträglicher. Unser Haus befand sich zwischen zwei Schulen und es gab Gerüchte, dass sich dort jemand versteckt, irgendwelche Richtschützen oder so, weshalb die Schulen bombardiert wurden.

Der Einschlag in die Schule Nr. 26 hat sie vollständig zerstört, nur ein kleines Teilgebäude blieb erhalten. Und auch die Schule Nr. 54, wo ich zu Schule ging, wurde vollständig dem Erdboden gleichgemacht.

Der Kindergarten gegenüber von unserem Haus wurde bombardiert. Auch dort gab es Menschen, die versucht hatten, sich zu verstecken. Unter Schulen und Kindergärten sind ja ziemlich große Keller, da waren eigentlich überall Menschen.

Bei uns im Keller haben die Menschen versucht, unseren Kater zu erschlagen. Ein Kater kann auch im normalen Leben schreien, das ist ein Tier, er kann das, was um ihn herum passiert, nicht verstehen. Die Menschen hat es genervt, dass er schreit. Und dass wir ihn füttern.

Die Leute hatten Angst, wir könnten das ganze Essen dem Kater geben. Als ob er alles frisst und nichts mehr übrigbleibt. Sie verlangten von uns, den Kater rauszuschmeißen und wollten ihn sogar erwürgen. Papa hat in diesem Moment unser Tier verteidigt und gesagt, dass er ein Teil der Familie ist.

Es gab auch Konflikte wegen eines Säuglings, der oft in der Nacht weinte. Wenn Bomben fielen, fing es auch an zu weinen. Einem Baby kannst du nicht erklären, was das für ein Krach ist und dass man durchhalten und schweigen muss.

Die Menschen waren am Limit und stritten andauernd. Sie hielten es einfach nicht aus, die Verzweiflung. In einem Moment verbrüderten sie sich, im nächsten fingen sie an sich zu hassen.

Manchmal war es unmöglich, den Beschuss auszuhalten und die Leute versuchten die Geräusche der Explosionen zu überschreien. Manche weinten, manche lasen laut die Bibel unter der improvisierten Kerze.

Es gab Situationen, in denen erwachsene Männer es nicht aushielten und Suizid begingen, indem sie von einem Hochhaus sprangen oder sich Verletzungen zufügten, um das alles nicht mehr ertragen zu müssen. Unser Nachbar hat das gemacht. Er hat einfach gesagt, er muss raus und kam nicht zurück. Man fand ihn später neben dem Haus.

Seelisch war das alles furchtbar. Der Zustand unserer Mutter wurde schlechter. Sie versuchte durchzuhalten, aber in dem Keller gab es nicht mal richtig Luft zum Atmen.

Zwei Mal blieb ihr Herz stehen. Es war nachts, ich erinnere mich, wie neben mir etwas vor sich ging, es herrschte Aufregung, es raschelte. Ich wachte auf und sah, wie mein Papa über der Mama irgendwelche komischen Bewegungen machte. Ich verstand nicht sofort, dass er sie wiederbelebte und eine Herzmassage machte, sie künstlich beatmete und versuchte, ihren Puls zu fühlen.

Er suchte nach irgendwelchen Lebenszeichen. In seinen Augen sah ich da zum ersten Mal Angst. Von ihm ging eigentlich eine Energie und Atmosphäre aus, die beruhigend war. Die ganze Zeit, die wir im Keller und in der Wohnung verbrachten, und überhaupt seitdem der Krieg begann, war er mehr oder weniger ruhig und sicher.

In diesem Moment aber sah ich seine tiefe verrückte Verzweiflung. Keiner von unseren Nachbarn kam zu uns. Sie haben nicht mal gefragt, was los sei, obwohl wir alle engstens beieinander lagen, jeder das hörte und niemand in dieser Nacht schief.

Papa kämpfte um Mama bis zum Ende, bis sie selbst es schaffte, wieder zu atmen. Ihr ging es sehr schlecht. Mich hat sehr erschrocken, dass Papa sie wiederbelebte. Das klingt, als ob es um zwei Minuten ging, es waren aber mehr als zehn Minuten, die er um sie zu kämpfen hatte.

Ihr Körper war schon kalt, sie war einfach nur grau. Sie hat überhaupt nicht auf seine Wiederbelebungsversuche reagiert. Ihr Körper ging schlaff mit den Bewegungen mit. Das hat mich sehr erschrocken, vor allem dass ich durch nichts helfen konnte.

Nelja ging es genauso. Plötzlich schüttelte es meine Schwester stark. Wir verstanden das in diesem Moment noch nicht, aber Nelja hatte gerade ihren ersten Epilepsieanfall. Sie war damals zwölf.

Als meine Mama zu sich kam, ging es ihr sehr schlecht. Um den 17. März hatte sie einen weiteren Herzstillstand. Es war unmöglich, länger im Keller zu bleiben. Das Gebäude über uns war schon sehr stark zerstört. In unserem Haus gab es viele Hauseingänge, es war ein langes Haus, aber durch Geschosse und Splitter blieb nur ein Gitternetz davon. Die Splitter waren so stark, dass sie Metallrohre durchschneiden konnten. Sämtliche Gasrohre neben dem Haus waren durchtrennt.

Papa verstand, dass wir hier einfach nicht mehr sein konnten. Das Einzige, was wir noch zu essen hatten, war ein kleines Stück Brot, so groß wie meine Faust.

Ich habe mir dieses Stück Brot für den Rest meines Lebens gemerkt. Für das Verständnis: Ich bin 1,50 Meter groß, klein und zierlich und meine Hand ist klein. So ein kleines Stückchen Brot war das.

Dieses Stück teilten wir unter uns vieren und unser Kater aß die Krümmel. Ich habe es aus Mariupol sogar bis nach Saporischschja mitgenommen, ich hatte Angst es aufzuessen.

Marias Mutter und Marias Schwester vor dem Krieg | Quelle: privat

Mir wurde bewusst, dass еs vielleicht das letzte Stückchen ist, das ich in meinem Leben haben werde. Das Gefühl des Hungers machte mir gar nicht so viel Angst, aber zu sehen, wie meine Nächsten sich quälen, Hunger litten und in diesem Moment nichts tun zu können, das tat weh.

Am 17. März traf mein Vater die Entscheidung, unser Auto durchzuchecken, unser Hab und Gut aus dem Keller zu holen, die Decken und alles, was geblieben war, um nach Melekyne zu fahren, ein Dorf südlich von Mariupol.

Papa dachte, dass wir es dort aussitzen könnten, noch ein paar Wochen, maximum einen Monat, und dann würde es vorbei sein. Das war damals seine Prognose, weil die Nächte im Keller nicht auszuhalten waren.

So wie man sich in Gebeten an Gott wendet mit der Bitte um Rettung, so baten wir nur um einen leichten Tod. Wir glaubten längst nicht mehr, dass man hier überleben kann. Deshalb beschlossen wir zu fliehen.

Als wir aus Mariupol herausfuhren, war die Stadt bereits vollständig von der feindlichen Armee umzingelt, überall gab es feindliche Checkpoints. Dort wurde unser ganzes Auto durchsucht, alle Dokumente wurden geprüft und man befahl uns, die Straße nach rechts zu nehmen.

Papa hat man nicht erklärt, was das für eine Straße ist, wohin sie führt und warum. Man drohte ihm einfach mit Erschießung und schickte ihn dorthin. Papa fuhr und so kamen wir von einem Checkpoint zum nächsten, bis man uns nach Neu-Jalta schickte, ein Dorf in der Donezker Region, nicht weit von Melekyne. Dort blieben wir bis zum 2. April, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie Filtrationslager aufgemacht haben.

Bis dato hatten wir mehrmals versucht herauszukommen, wurden aber an den Checkpoints unter Androhung der Erschießung zurückgewiesen. Zu dieser Zeit wurde im nahen Mangush die Kommandantur gewechselt und überall starteten Massenverhöre und Massensäuberungen. Menschen mit proukrainischen Ansichten wurden gesucht und identifiziert. Sie hatten sogar Listen mit bestimmten Menschen, die Ukrainisch sprachen und in besetzte Dörfer geflohen waren. Deshalb waren diese Ortschaften abgeriegelt, kein Auto wurde herausgelassen.

Wir hatten weder Wertgegenstände noch Geld dabei, um fürs Wohnen oder Essen irgendetwas eintauschen zu können. Zum Glück fand Papa in seiner Jackentasche zufällig 200 Griwna. Dafür konnten wir zwei Laib Brot kaufen. Das war alles, was wir zwischen dem 17. März und dem 2. April zu essen hatten. Wasser schöpften wir aus einem Brunnen und kochten es auf dem Feuer ab. Was das angeht, war es etwas leichter.

Maria | Quelle: rbb

Wir fanden in Neu-Jalta eine Frau, die eine kleine Pension hatte, die verlassen war. Das Haus war noch aus sowjetischen Urzeiten und sollte restauriert werden. Statt Fußböden lagen Steine und Bauschutt herum, die Fenster waren herausgenommen. Also improvisierten wir mit allem, was wir vorfanden und dichteten die Fenster mit Plastikfolie von der Baustelle ab. Die Decken aus dem Keller in Mariupol breiteten wir auf dem Fußboden aus.

Einmal boten die Okkupanten zum Schein humanitäre Hilfe an. Dafür musste man an bestimmten Wochentagen in die große Kirche von Neu-Jalta kommen. Pässe und Dokumente musste man mitbringen und alle Daten angeben, um irgendwelche Hilfen zu bekommen.

In Wirklichkeit sammelten sie einfach nur Daten, wer woher kam, um dann noch drastischere und gezieltere Durchsuchungen machen zu können. Als dann Filtrationslager eingerichtet wurden, waren diese die einzige Möglichkeit, dort noch rauszukommen.

Ein Filtrationslager ist ein Ort, an dem Verhöre und Durchsuchungen durchgeführt werden. Die Identität wird geprüft und das ganze Gepäck, das die Leute mit sich führen, durchsucht. Man wird verhört, woher man kommt, wohin man will und warum und so weiter.

Sie lassen nur Leute raus, die ihrer Meinung nach sauber sind. Es gab Fälle, wo man Menschen in unbekannte Richtung verschleppte, man hat nicht gesagt wohin und ständig war Schießen zu hören.

Vor Ort war ein einziges Durcheinander. Die Okkupanten verschwiegen den tatsächlichen Ablauf, zum Beispiel wie viel Zeit die Prozedur in Anspruch nimmt, und sagten nur, dass man alle Dokumente und technischen Geräte bereithalten sollte.

Wir versuchten uns irgendwie darauf vorzubereiten. Von den Handys löschten wir alles, weil wir tatsächlich etwas zu verbergen hatten. Wir hatten viele Fotos mit nationaler ukrainischer Symbolik, aber auch Suchanfragen bis hin zu Google Maps. All das konnte gegen uns verwendet werden.

Zu der Zeit hatten wir das Ziel und die Aufgabe, einfach zu überleben.

In Mariupol hatten wir ja lange Zeit keinen Strom und so war das Handy ein nutzloses Ding. Papa versuchte es, an der Autobatterie aufzuladen, hatte aber auch Angst um die Batterie. Er schaffte es jedenfalls nicht, sein Telefon so weit aufzuladen, um noch einen Fake-Account mit Mailadresse einzurichten, damit sein Telefon nicht komplett leer aussah und Verdacht weckte.

Für die Filtration standen wir zwei Tage in Mangosh in einer Autoschlage. Hinter uns waren auch viele Autos. Es müssen viele Menschen gewesen sein, die die Filtration durchlaufen haben. Die Prozedur selbst dauerte ziemlich lange.

Zeichnung von Marias Schwester Nelja | Quelle: privat

Man hat uns während des Wartens nicht erlaubt auf die Toilette zu gehen, auszusteigen und herumzulaufen. Das alles hielten sie für eine Provokation. Wer sich nicht daran hielt, wurde geschlagen.

Sie brachten ihre Journalisten mit, damit die das alles aufnehmen und durch ihr politisches Prisma zeigten. Einmal richteten sie die Kamera auf uns im Auto, ohne uns um Erlaubnis zu fragen. Andere haben sie gezwungen, vorbereitete Texte in die Kamera zu sprechen. Das war ziemlich erniedrigend.

Als wir an die Reihe für die Filtration kamen, war es schon Abend. Auf dem Checkpoint vor dem Eingang durchsuchten sie das ganze Auto, kontrollierten die Papiere und zeigten uns, wo wir das Auto abstellen sollten.

Zur Filtration gingen ich und mein Papa. Mama konnte ja zu dem Zeitpunkt nicht laufen und war nicht in der Lage, all diese Verhöre durchzustehen. Wir hatten Glück, dass die Prüfenden in den Abendstunden schon ermüdet waren. Unsere Mutter hat sie nicht mehr interessiert. Sie sagten, es reiche, wenn zwei Leute aus dem Auto die Filtration durchlaufen.

Das Gebäude, in dem das Procedere stattfand, war wie eine kleine Scheune, die schnell zusammengezimmert wurde. Sie nahmen sich immer gleichzeitig zwei Leute vor, allerdings in getrennten Räumen. Sie checkten mein Telefon, prüften Dokumente und scannten sie. Dann fragten sie mich nach meinen Kontakten aus und notierten drei davon, ohne zu erklären wofür.

Sie haben ebenfalls geprüft, ob ich Tatoos auf meinem Körper hatte, besondere Kennzeichen und ob ich irgendwo etwas verstecke. Ich musste mich komplett ausziehen. Man hat alles genau und penibel durchsucht. Sie wollten Menschen ausfindig machen, die Videomaterial, Speicherkarten oder Sticks verstecken.

Sie hatten Listen von Menschen. Sie wussten, dass es bestimmte Tattoos und Zeichen gibt, die Angehörige der ukrainischen Armee hatten und suchten nach verkleideten Polizisten oder Soldaten. Alle, die für die ukrainische Regierung gearbeitet hatten, wurden festgenommen. Sie konnten nicht fliehen.

Es gab keine Frauen bei den Durchsuchungen, egal wer zur Filtration kam. Die Durchsuchungen machten ausschließlich Männer. In meinem Fall war die ganze Prozedur verbunden mit Erniedrigungen und abfälligen Bemerkungen. Ich glaube, sie wollten mich provozieren etwas zu sagen, um mich schikanieren zu können.

Ich habe versucht, so viel wie möglich zu schweigen und das hat sie noch mehr gereizt. Aber am Ende hat man mir einen Schein gegeben, dass ich die Filtration durchlaufen habe. Und man gab mir meine persönlichen Sachen wieder.

Aber mich normal wieder anzuziehen, gaben sie mir keine Zeit. Einer der Soldaten packte mich am Genick und schubste mich einfach raus. Als ich schon auf der Straße stand, fand der Soldat es nötig, mir noch einen Fußtritt zu geben. Dabei machte er Witze, er lachte, für ihn war es lustig.

Ich verstand nicht, warum er das tat und war sehr verängstigt. Ohne etwas zu denken, rannte ich zum Auto. Mama und meine Schwester hatten alles mit angesehen und Mama fragte, wo ist Papa? Ich hatte es in einer halben Stunde geschafft.

Auf Papa warteten wir noch ungefähr eine Stunde. Wir saßen, ohne etwas zu sagen, und wussten nicht, wie und wo und warum es so lange dauert. Und irgendwann schleppten sie auch ihn gewaltsam raus.

Papa schwieg. Erst als wir schon bei Berdjansk waren, sagte er, wie hart es war. Bei dem Verhör stellten sie ihm sehr viele politische Fragen, über seine Ansichten, ob er bei der Armee war oder nicht, und warum nicht, ob er Freunde bei der Armee hatte, wie seine Haltung sei und was er über den ganzen Krieg denkt.

Sie führten penible Leibesvisitationen durch. Als sie sein Telefon prüften, verstanden sie, dass es komplett leer war. Sie fingen an, ein Geständnis aus ihm herauszuprügeln. Sie stellten keine Fragen, sondern beschuldigten ihn direkt, etwas zu verheimlichen.

Papa gab nichts zu, also schlugen sie weiter. Mit jeder Antwort, die sie falsch fanden, versetzten sie ihm starke physische Schmerzen und Verletzungen. Die Hälfte des Verhörs stand Papa ohne Kleidung da, es war ziemlich kalt. Sie stießen ihn mit Waffen in die Hände und Füße, drohten ihm, jetzt zu schießen.

Wenn er wankte oder zeigte, dass es ihm weh tat, wenn er aufatmete oder stöhnte, was nach ihrer Meinung falsch war, schlugen sie ihn noch mehr. Auch psychisch übten sie sehr viel Druck auf ihn aus. Als sie Papa auf den Kopf schlugen, das war noch in diesem Zimmer, verlor er das Bewusstsein. Erst draußen kam er wieder zu sich.

Sie hatten ihn aus einem anderen Eingang nach draußen geschleift zu einer Betonplatte, wie bei Checkpoints, und dort versammelten sich sehr viele Soldaten um ihn. Die traten weiter mit den Füssen nach ihm und drohten ihm, die Ohren abzuschneiden. Das waren nicht einfach nur Worte, die Bedrohung war echt.

Aber sie konnten nichts aus Papa herausbekommen. Er antwortete neutral, bestand auf seinem Standpunkt und hat sich und sein Land nicht erniedrigt. Er hielt sich. Sie ließen ihn laufen.

Erst auf der Straße nach Berdjansk sahen wir, wie schlecht es Papa ging. Ihm war übel, Blut lief ihm aus der Nase, aber er hielt nicht an und wir fuhren durch bis Berdjansk.

Nach Berdjansk gab es keinen direkten Weg mehr. Die Straßen waren wegen der Kampfhandlungen kaputt. Überall lagen zerstörte Technik und verbrannte Zivilfahrzeuge mit verbrannten Körpern darin. Wir fuhren durch ein Waldgebiet und orientierten uns an handgemachten Schildern, die irgendwer gemalt hatte.

Kurz vor Berdjansk kam der nächste russische Checkpoint, davor standen die von der Donezker Republik. Dort schauten sie die Dokumente der Filtration an, durchsuchten wieder das ganze Auto und schließlich durften wir nach Berdjansk.

Wir schiefen wieder im Auto, oder besser, versuchten etwas zu schlafen. Als es hell wurde, sagte Papa, wir müssen um jeden Preis nach Saporischschja. Und wenn wir hin kriechen müssen, aber wir kommen dort hin.

Auf der Straße von Berdjansk nach Saporischschja stauten sich die Autos. Menschen waren zu Fuß mit Kindern und Koffern unterwegs. Viele hofften auf die Evakuierungsbusse, aber diese Busse gab es schon lange nicht mehr. Einige warteten schon zwei Wochen in der Hoffnung, dass die Kolonne, wenn die Busse dabei sind, nicht unter gezielten tödlichen Beschuss gerät.

Andere, mit eigenen Fahrzeugen, wollten in den frühen Morgenstunden los, um gerade nicht Teil der großen Autokolonne zu sein. Auch wir warteten nicht und fuhren los. Von Berdjansk bis Saporischschja gab es 27 russische Checkpoints.

Checkpoint. Das bedeutet jedes Mal Durchsuchung. Jedes Mal mussten die Männer sich ausziehen, wurden durchsucht, die Tatoos, die Hosentaschen, die Autofächer, absolut alles.

Maria | Quelle: privat

An zwei Checkpoints wollten sie meinen Vater einziehen. Sie wollten ihn richtig zwingen und sagten ihm, er sollte hier bleiben und kämpfen. Sie agitierten. Papa machte klar, dass es ihm schlecht ging und dass seine Frau krank sei, er für sie ein Krankenhaus suchen müsse.

Er hat versucht, bei ihnen eine Art Verachtung zu erzeugen, damit sie sich nicht für ihn interessieren. So fuhren wir von Checkpoint zu Checkpoint.

Sehr oft kamen wir nicht weiter und Papa nahm eine Umgehung. Wenn es bei einem Checkpoint nicht klappte, fuhren wir zum nächsten. Die Okkupanten schickten uns extra auf Straßen, die am unsichersten waren. Mitunter fuhren wir mitten durch die Frontlinie, wo die Konvois absichtlich beschossen wurden und die Straßen vermint waren.

Als wir erstmals auf einer verminten Straße fuhren, wo einfach mitten auf der Straße eine Panzermine und nicht explodierte Geschosse lagen, konnte ich nicht glauben, dass ich echte Waffen vor mir sehe.

Mama hat sie gesehen, meine Schwester auch, und ich sage zu Papa, dort ist eine Mine, Papa. Und er fragt, wo, ich sehe nichts. In diesem Moment fing es an, dass er seine Sehkraft verliert. Er sah die Minen nicht. Er hielt sie für Steinchen oder Äste, aber es waren alles Waffen.

Da wurde es richtig gruselig. Wir waren ja nicht Teil eines organisierten Konvois. Es war unser eigenes Rennen ums Überleben. Wenn ein Fahrer einen Fehler macht, wären die ganzen Autos dahinter betroffen, weil die Splitter eines explodierenden Wagens alles Mögliche treffen könnten.

Also drosselten wir die Geschwindigkeit und passierten diese Straße tastend. Das war schwierig, aber Papa hat versucht, so schnell wie möglich durchzukommen. In Saporischschja kamen wir nachts an.

Als am Fluss schon die ukrainische Fahne und die ukrainischen Stellungen sichtbar wurden, wir das Niemandsland passierten, konnte Papa nicht glauben, dass er es geschafft hatte. Er dachte, das sei eine Provokation und dass man uns erschießen wird. Er hat das genauso gesagt, jetzt werden sie das Auto beschießen, seid ruhig. Er hatte Panik. Er konnte nicht glauben, dass wir am Ziel waren, dass es unser kleiner Sieg war.

Am Checkpoint redete er nicht mit den Soldaten. Ohne ein Wort zeigte er die Papiere, schweigend öffnete er das Auto und erst danach verstanden wir. Das war's. Das sind ukrainische Armeeleute. Sie reden Ukrainisch mit uns.

In der Ukraine, in Saporischschja, konnten wir uns zum ersten Mal nach all den Wochen waschen. Die erste Nacht verbrachten wir in einem Kindergarten. Dort gab es warmes Essen und die Möglichkeit, sich zu waschen und umzuziehen.

Mama wurden Schmerzmittel gespritzt, weil sich ihre neurologischen Schmerzen verschlimmert haben. Papas Sehkraft ließ weiter nach, er war desorientiert, verlor sich im Raum. Sie hatten ihm sehr stark auf den Kopf geschlagen.

Man riet uns, eine ärztliche Kommission aufzusuchen, die bescheinigt, dass Papa das Augenlicht wegen eines starken Kopftraumas verliert. Bei ihm starb der Sehnerv ab. Wenn der Sehnerv abstirbt, dann ist es für immer. Er musste dringend behandelt werden, vielleicht auch operiert, um das Augenlicht zu retten.

Zunächst fuhren wir in die West-Ukraine. Dort waren viele Flüchtlinge, die Bearbeitung der Dokumente dauerte sehr lange und wir verloren Zeit.

Für mich kam noch etwas anderes Belastendes hinzu: Als wir in die Ukraine einreisten, hatte ich dem ukrainischen Fernsehsender Hromadske ein Interview über die Situation in Mariupol gegeben. Einfach darüber, was ich erlebt hatte.

Das hat der russischen Seite nicht gefallen. Sie durchforsteten meine Social-Accounts, nahmen meine Fotos, drehten alles auf ihre Weise um und machten einen Beitrag, als ob ich nicht real sei.

Als ob ich eine Schauspielerin wäre und irgendetwas vorspiele.

Es folgte eine riesige Hasswelle. Nicht einfach nur Hass, sondern Morddrohungen und alles, was damit einher geht: Meine sozialen Netzwerke und mein Bankkonto wurden gehackt und mir wurde gedroht.

In dieser Lage beschlossen wir, ins Ausland zu gehen. Aber wir blieben nicht lange. Im Jahr 2022 gab es eine Welle von Flüchtlingen. In Europa braucht man sehr lange für die Bearbeitung von Dokumenten und um in einem europäischen Land kostenlose medizinische Hilfe zu erhalten, ist man auf Dokumente angewiesen. Das alles nahm Zeit in Anspruch.

Mit der ersten Auszahlung konnten wir erst zwei Monate nach unserer Einreise rechnen, weil es in dem Ort relativ viele Flüchtlinge gab. Dazu gab es andere Schwierigkeiten, wir machten auch Fehler und eine medizinische Behandlung in Euro zu bezahlen, war uns nicht möglich.

Wir hatten auch so schon alles verloren und schafften es nicht, uns anzupassen. Wegen neuer Mentalität, neuer Kultur, neuen Regeln und neuer Sprache. Du kennst niemanden und weißt nicht, an wen du dich wenden sollst. Unsere Probleme waren akut und mussten sofort gelöst werden.

Wir waren in Polen und in Deutschland. Dann kehrten wir nach Polen zurück. Dort gab es Flüchtlingsstationen, wo man essen und übernachten konnte. Wir zogen von einem Ort zum anderen.

Wir landeten bei einer europäischen Familie, bei der wir nicht lange blieben, da es ökonomisch und medizinisch schwierig war in der dörflichen Gegend. Eine Überweisung in die Traumatologie ist sehr speziell und sie wurde von der Versicherung nicht übernommen.

Auch Mamas Zustand war angespannt und die Verlegung ins Krankenhaus kostspielig. Wir hatten Probleme mit den Papieren. Vieles war in Mariupol verbrannt.

Natürlich hatten wir Glück, es gab Leute, die uns unterstützt haben, unsere Landsleute und auch Leute vor Ort. Aber die Hilfe war immer punktuell. Es gab nicht die eine Stelle, die für uns zuständig war. So entschieden wir uns zurückzukehren.

In der Ukraine zogen wir von einem Dorf zum nächsten. Scheinbar beruhigte sich alles. Aber dann kam der Riesenschlag für meine Familie, der Tod meines Vaters.

Sein Körper versagte. Er konnte mit den Verletzungen aus dem Verhör nicht fertig werden. So verlor ich vor nicht allzu langer Zeit meinen Papa…

Die Tragödie ist für uns noch frisch und sehr schmerzvoll. Ich bin damit nicht fertiggeworden. Vielleicht werde ich nie damit fertig. Es ist furchtbar für uns alle.

Seither hat sich der Zustand meiner Mutter radikal verschlechtert. Sie hatte einen schrecklichen Rückfall und baut ab. Sie kann sich nicht bewegen, eine Hand zu heben kostet sie enorme Anstrengungen.

Ich und meine Schwester pflegen sie. Sie kann sich nicht selbst versorgen. Sie ist nicht immer bei Bewusstsein, es geht ihr psychisch schlecht. Wenn man ein Vergleich zieht, es ist schlimm, das zu sagen, aber sie ist wie Gemüse.

Jeden Tag hat sie die, wie ich finde, dumme Angewohnheit, sich von mir und Nelja zu verabschieden. Für sie ist jeder Tag wie ihr letzter. Polyneuropathie ist das Absterben des Nervensystems. Das ist so, als würde man lebendig sterben.

Dieser Prozess ist ohne richtige Spezialbehandlung unumkehrbar und in der Ukraine gibt es für so einen Zustand keine Behandlungsmöglichkeiten.

Alleine werde ich mit diesen Problemen nicht fertig. Ich habe nur eine Elf-Klassen-Schulbildung, wenn auch als Jahrgangsbeste. Aber ohne Berufsausbildung finde ich keinen normalen Job. Ich weiß, wie man Menschen pflegt, weil die Situation ja mit unserer Mutter auch so ist und so habe ich versucht, Geld zu verdienen. Wenn wir in den Dörfern lebten, habe ich bei den Tieren geholfen und im Feld. Ich habe auf Kinder aufgepasst, ältere Menschen gepflegt, habe geputzt und war Tellerwäscherin.

Nelja hat mit einem Psychologen gearbeitet, das war sehr wichtig. Sie macht die siebte Klasse im Fernunterricht, aber zur Schule gehen kann sie noch nicht. Es fällt ihr schwer, mit anderen Menschen zu kommunizieren nach dem erlebten Grauen. Aber immerhin malt sie, das hat sie behalten.

Ich bin vor kurzem 18 geworden. Ich verheimliche es nicht, ich bin manchmal im Leben desorientiert, kann sehr infantil sein und brauche Hilfe von außen.

Ich wandte mich an eine ukrainische Redaktion mit dem Ziel, meine Geschichte publik zu machen. Durch die Öffentlichkeit fanden wir dann tatsächlich Möglichkeiten, die Behandlung im Ausland fortzusetzen. Ein europäischer Hilfsfonds übernimmt den ersten Teil der Therapie. Wir werden versuchen, ins Ausland zu ziehen. Und dann müssen wir uns dort irgendwie einleben und irgendwie weitermachen…

Mama muss es besser gehen. Nelja muss zur Schule und ich einen Beruf erlernen. Aber jetzt steht an erster Stelle die Gesundheit meiner Mama. Von hier aus denken wir weiter.

Wir können nicht unsere Mama verlieren. Mama steht an erster Stelle.

 

Aufgezeichnet von Natalija Yefimkina

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.03.2023 | 09:08 Uhr

Beitrag von Natalija Yefimkina

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