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Audio: rbb24 Inforadio | 25.03.2022 | Natalija Yefimkina | Quelle: dpa/K. Nietfeld

Tagebuch (21): Ukraine im Krieg

"Ich rede wenig. Ich helfe ihnen einfach, Russland zu verlassen. Das ist alles."

Viele Ukrainer hat der Krieg unfreiwillig nach Russland verschlagen. Eine Russin hilft ihnen seit einem Jahr, das Land zu verlassen. Natalija Yefimkina erzählt sie anonym in ihrem Kriegstagebuch von Unvorhersehbarkeit, Angst und der Kraft des eigenen Willens.

Natalija Yefimkina: Eine abchasische Bekannte kam neulich zu Besuch, zu Besuch aus St. Petersburg. Ich hatte sie mit anderen Freunden ein paar mal getroffen, aber nur wenig gesprochen. Am letzten Tag lud ich sie ins Schwarzsauer ein, so eine angesagte Bar in Prenzlauer Berg. Bevor sie ging, konnte ich nicht umhin, sie zu fragen, warum sie noch bleibe.

Uns beiden war klar, was ich damit meine. Sie guckte mich an und sagte, sie bleibe in Russland, weil sie dort das Gefühl habe, am besten die Situation zu überblicken. Jemand müsse dort sein, der dagegen ist. Es gibt ja auch Russen, die helfen, sagte sie, das vergessen gerade nur alle. Ist das so? Ja, sagte sie.

Zur Person

Quasi als Beleg schickte sie mir die Nummer von Mascha. Mascha war aber nicht mehr in Russland, sondern half von Polen aus. Als ich mit ihr sprach, sagte ich, ich suche jemanden, der in Russland ist und ukrainischen Geflüchteten hilft, die über Russland aus den besetzten Gebieten fliehen. Sie sagte, es gebe da jemanden und die Frau wäre wohl auch angstfrei, mit jemandem zu sprechen. Sie führe sogar einen Blog über ihre Arbeit.

Ich bekomme von Mascha den Telegram-Namen dieser Frau und rufe sie an.

Guten Tag, könnten Sie sich kurz vorstellen? Sie brauchen ihren Namen ja nicht zu nennen, aber wie alt sind Sie, was machen Sie sonst so?

Nein, nichts davon werde ich erzählen. Man kann mich sehr leicht mithilfe von solchen Informationen identifizieren.

Verstehe.

Ich habe vorher etwas sehr Einzigartiges gemacht, deshalb können wir weder darüber reden, wie alt ich bin noch in welcher Stadt ich lebe. Aber ich erzähle Ihnen was anderes: Ich spreche mehr als drei Sprachen, habe relativ lange in Deutschland gelebt und illustriere Kinderbücher. Was noch? Ich habe einen tollen Hund, den ich nach Kriegsbeginn aufgenommen habe und ich liebe es, verschiedene Pflanzen großzuziehen. Und all das lässt mich anonym bleiben (Lacht).

Erzählen Sie mir, wie sich Ihr Leben nach dem Krieg verändert hat.

Seither hat praktisch alles, was ich tue, mit Flüchtlingshilfe zu tun – an die 90 Prozent meiner Zeit, der Rest sind Familie und Privatleben.

Menschen verlassen Mariupol | Quelle: dpa/XinHua

Hatten sie schon davor was mit der Ukraine zu tun?

Mit der Ukraine? Nein. Da war ich vor 20 Jahren mal. Ich habe ziemlich viele Freunde in der Ukraine, aber nicht nur da, eigentlich überall auf der Welt. Das heißt nicht, dass ich mit der ganzen Welt oder einem konkreten Land besonders verbunden bin.

Aber um fair zu sein: Vor dem Krieg war ich der Ukraine nicht wirklich verbunden. Schlimmer noch. Alles was mit der Krim passiert ist … wie soll ich das am besten sagen. Ich habe damals nicht verstanden, was für eine Tragödie das ist.

Dafür trage ich die Verantwortung. Ich hatte nicht genug Verstand, darüber nachzudenken, wohin das alles führt. Nicht genug Verstand…

Können Sie nochmal mit einem Satz trotzdem bestätigen, dass Sie in Russland leben…

Ich lebe in Russland.

Was war das für ein Gefühl als der Krieg ausbrach?

Das erste Gefühl war, wie bei den meisten, mit denen ich gesprochen habe, absolutes Unverständnis. Wozu? Warum? Wofür? Das konnte alles nicht sein. Das ist irgendein Fehler…etwas ist falsch… sie haben sich in den Nachrichten vertan. In meiner Welt, in meinem Weltbild durfte es sowas nicht geben, niemals, unter keinen Umständen.

Was kam dann? Wie fing Ihre Tätigkeit an…

Ich habe gesucht, wie man helfen kann. Irgendwann fand ich Menschen, die halfen, denen schloss ich mich einfach an. Wir sind alle auf uns allein gestellt. Das ist alles. Wir haben hier keine super Organisation hinter uns oder überhaupt eine Organisation. Wir sind einfache Menschen, die einfach helfen.

Wie sieht diese Arbeit aus?

Ich hole Leute vom Bahnhof ab und bringe sie dorthin, wo sie übernachten können oder quartiere sie bei mir ein. Ich kaufe Medikamente oder berate sie, wie man Fahrkarten bis zur Grenze kaufen kann. Jeder Flüchtling hat irgendwelche Probleme und all diese Probleme versuche ich mehr oder weniger zu lösen. Das sind Menschen aus der Donezk- und Luhansk-Region, aus Saporischschja, und von überall, wo die Front verläuft.

Natürlich waren es erstmal sehr viele aus Mariupol, dann aus Cherson und immer waren es viele aus Charkiw.

Aber es gibt doch Massen von diesen Menschen…

Ja, es sind viele, sehr viele.

Wie schaffen Sie das? Das ist doch ein immenser Aufwand.

Weil ich nicht besonders emotional zu ihnen bin (lacht). Ich fange sehr selten eine persönliche Beziehung an, bin fast nie mit ihnen befreundet.

Ich kann sehr lieb sein, sehr ehrlich mit ihnen reden, aber nachdem wir uns verabschiedet haben, vergesse ich fast immer ihre Namen. Würde ich ihre Namen behalten und mir weiter Sorgen um sie machen, könnte ich wahrscheinlich den Anderen nicht helfen. Dann würde ich zu viel Zeit damit verbringen, mich zu erinnern und zu kommunizieren.

Ich rede wenig. Ich helfe ihnen einfach, Russland zu verlassen. Das ist alles.

Wie viele Leute haben Sie begleitet in diesem Jahr?

Lassen Sie es mich so sagen: mehrere Hundert. In Wirklichkeit waren es um die 2.000, aber wir werden sagen, es waren mehrere Hundert, denn von denen, die Hunderten geholfen haben, gibt es viele. Aber die, die mehreren Tausenden geholfen haben, von denen gibt es nur einen oder zwei Menschen. Deshalb sagen wir mehrere Hundert.

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Na ja, weil mehrere Tausende ist eine vollkommene Selbstaufgabe für diese Sache…

Ich bin sehr funktional. Sie müssen verstehen, ich mache das die ganze Zeit. Jeden Tag. Ich bringe die Menschen raus aus diesem Land, das ist alles, nicht mehr und nicht weniger. Wenn die Leute eine Unterstützung von mir brauchen, werden sie diese bekommen, sie bekommen das Gespräch, sie bekommen den Kontakt und den echten Menschen. Aber wenn es ohne Emotionen geht und ich die Menschen einfach herausholen kann, dann tue ich das.

Ist es schwierig?

Sie Richtung Grenze zu lotsen oder das mit den Emotionen?

Beides…

Sie herauszubringen ist nicht schwierig: Man muss Tickets finden und erklären, wie und wohin sie fahren sollen. Da ist nichts dabei. Es gibt aber schwierige Fälle, zum Beispiel Menschen, die ans Bett gefesselt sind oder Schwerkranke oder sehr große Familien, das ist dann schwieriger als sonst.

Aber wenn du dir Sorgen machst, nervös oder emotional bist, dann wird es kompliziert, weil du mehr über den Menschen nachdenkst, dich um ihn sorgst. Das hindert dich oft daran, einfache Sachen zu erledigen.

Das Wichtigste, was man tun muss, ist einen kühlen Kopf zu bewahren, weil jedes Gespräch mit einem Geflüchteten ist ein tiefes emotionales Einfühlen in eine Tragödie von jedem einzelnen Leben… Zerstörung von jedem einzelnen Leben…

Einmal ging es um einen Schwerkranken und ein Mensch sagte zu mir: Wenn wir weinen, wer wird dann helfen? Ich wähle das Helfen und nicht das Weinen.

Quelle: dpa/A. Riedl

In Berlin gab es viele Leute, die Ukrainer bei sich haben wohnen lassen. Es war sogar eine Zeitlang richtig schick, einen Ukrainer bei sich aufzunehmen.

Es gibt in Russland dafür keine gesellschaftliche Anerkennung.

Aber wie kommen Sie dann zurecht, man muss sie ja irgendwo unterbringen, sie müssen irgendwo übernachten…

Es gibt genug Menschen hier, die bereit sind, die Ankommenden zu versorgen, sie unterzubringen, sie zu fahren und irgendwo auch sie zu beschützen. Nur in Ausnahmefällen müssen wir ein Hotel suchen. Meistens ist das in kleineren Städten der Fall.

Dann gibt es solche Netzwerke nicht nur in Ihrer Stadt, sondern in ganz Russland?

Vor allem in den großen Städten, wo es Flüchtlinge gibt. Aber natürlich wird die meiste Hilfe in St. Petersburg und Moskau vermittelt.

Wie funktioniert das System? Gibt es einen zentralen Telegram-Kanal und die Menschen wissen so Bescheid und fragen an?

Das Wichtigste ist Mund-zu-Mund-Propaganda: denen wir geholfen haben, die erzählen es weiter. Einen offiziellen Kanal gibt es nicht. Die Mundpropaganda reicht aus.

Wie reagiert denn die Regierung auf Sie?

Es wird natürlich nicht unterstützt. Aber ich sage es mal so: Wenn jemand wollte, dass wir das nicht mehr machen, wäre damit wohl schon längst Schluss.

Was die Anonymität angeht: Ich will meine Zeit nicht damit vergeuden, mit Behörden zu sprechen, wenn ich das nicht muss. Aber ich denke, dass alle ganz gut über uns Bescheid wissen, wir stören wahrscheinlich nicht.

Ja, weil ihr die Arbeit macht, die deren Arbeit wäre…

Ehrlich gesagt kann ich nach einem Jahr Flüchtlingshilfe im Großen und Ganzen sagen, dass kein Land auf routinierte alltägliche Art ausreichend Geflüchteten hilft - nicht den ukrainischen, nicht ägyptischen und auch nicht syrischen. Egal wo, denen hilft die Zivilgesellschaft. Es helfen Menschen.

Die Regierungen schaffen im besten Fall die Infrastruktur dafür. Einige Länder entscheiden über die Auszahlung von Geldern und Renten, andere nicht. Auch in Deutschland kann man nicht davon sprechen, dass die Regierung die Flüchtlinge an die Hand nimmt, so ist es nicht. Ich weiß das, weil viele meiner Geflüchteten in Deutschland sind. In Polen ist es auch nicht anders.

Die Bürokratie ist in allen Ländern ähnlich. Und zu sagen, dass die europäische Bürokratie sich über Geflüchtete freut, nein. Sie regeln die Fragen, als Staat, aber die individuelle Hilfe leisten überall trotzdem die Menschen.

Natascha, entschuldigen Sie, in 50 Minuten muss ich los und ich muss noch packen.

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Was sollten wir jetzt noch dringend besprechen, lassen Sie uns nachdenken… Was ist noch wichtig?

Die Menschen in Russland, die helfen, tun das, weil sie nicht anders können. Das ist unsere innere Verantwortung. Es nicht zu tun, wäre keine Option, wir sind da alle ungefähr gleich und haben dieselbe Motivation.

Hat das was mit kollektiver Verantwortung zu tun?

Ich weiß nicht, was das sein soll. In meinem Verständnis gibt es weder eine kollektive Verantwortung noch eine kollektive Schuld. So sehr man sich eine kollektive Verantwortung auch wünscht, nein, jeder einzelne Mensch hat die individuelle Wahl. Das ist ein sehr wertvolles Prinzip.

Kollektive Verantwortung und Schuld, die jemand einem anderen auferlegen will, ist für mich großer Humbug, denn das macht die Rechnung ohne den freien Willen des Menschen, der Entscheidungen trifft. Alle Menschen, die helfen, treffen eine eigene, persönliche und oft schwierige Entscheidung. Diese Entscheidung als kollektive Verantwortung zu verflachen und zu vereinfachen, dazu bin ich nicht bereit.

Es ist meine Entscheidung zu helfen, das ist mein Beitrag für - man könnte sagen - die Humanisierung dessen, was passiert. Ich kann nur meine persönliche Verantwortung tragen und die liegt darin, dass ich damals nicht verstanden habe, was im Jahr 2014 passiert ist.

Aber es ist meine persönliche Wahl zu helfen. Es geht nicht um das Kollektive, sondern darum Mensch zu sein und nicht eine Menge, eine Herde.

Können Sie mir doch ungefähr sagen, wie alt Sie sind und ob Sie Familie haben…

Ich habe eine Familie und bin älter als Vierzig.

Dann haben Sie eigene Kinder…

Ja.

Ich frage danach, weil ich den Eindruck habe, dass viele ihre Kinder als Grund dafür vorschieben, dass sie nichts tun. Sie hätten Angst etwas zu tun, weil das zu gefährlich ist wegen der Kinder.

Meiner Meinung nach gibt es wirklich viele Möglichkeiten zu helfen, genau so gibt es eine Masse von Entschuldigungen, warum man das nicht machen kann. Jeder trifft seine eigene, individuelle Wahl.

Wenn Sie mich fragen wollen, ob es Momente gibt, in denen ich Angst habe. Ja, ich habe manchmal richtig Angst? Ist die Angst grundlos? Nein, es gibt berechtigte Gründe dafür.

Sind diese Ängste übertrieben? Ich weiß es nicht.

Ich mache Sachen, die man machen darf, ich befolge geltende Rechtsvorschriften dieses Landes. In den Gesetzen dieses Landes ist Hilfe zu leisten nicht verboten und ich hoffe, dass es nie soweit kommt.

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Warum die Angst?

Die Welt um mich herum hat aufgehört, vorhersehbar zu sein. Ich weiß nicht, was morgen sein wird, ich kann keine Pläne machen. Ich lebe immer im Planungshorizont des laufenden Tages, das ist beängstigend.

Aber um sich selbst haben Sie keine Angst?

Doch, manchmal auch um mich selbst. Ich lebe in einer völlig unvorhersehbaren Umgebung: Heute sagt diese Umgebung, dass die Flüchtlingshilfe okay ist, aber was morgen ist, weiß ich nicht.

Aber Sie führen doch einen offenen Blog im Netz?!

Ja, aber dort schreibe ich nur über meine Gefühle und Emotionen und dass ich Menschen helfe.

Aber das heißt auch, dass wenn man Sie finden würde wollen, dann hätte man Sie schon längst gefunden…

Alle hätte man gefunden, die man finden möchte. Ich sage nur das Minimum von dem, was ich sagen kann. Würde ich noch mehr sagen wollen? Nun, ich sage das, was ich sage ... so ist es … und nennen Sie meinen Blog nicht.

Natürlich nicht!

Sehen Sie, wir haben uns verstanden. Aber im Grunde genommen, wenn sie ihn gelesen haben, geht es dort ausschließlich um die Hilfeleistungen und meine Gefühle.

Fühlen hat man noch nicht verboten.

Sendung: rbb24 Inforadio, 04.03.2023 | 09:08 Uhr

Beitrag von Natalija Yefimkina

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