Europawahl 2024
34 Parteien stehen auf dem deutschen Stimmzettel zur Europawahl. In Berlin haben vor allem die Spitzenkandidaten von SPD, CDU und Grünen Chancen auf einen Sitz in Brüssel. Für Newcomer wird es dagegen schwierig. Von Agnes Sundermeyer
"Schon wieder wählen" – das dürften sich viele Berlinerinnen und Berlinern angesichts der letzten drei Jahre denken. Damit trotzdem keine Wahlmüdigkeit aufkommt, ruft Landeswahlleiter Stephan Bröchler mit einer Videokampagne in den sozialen Medien zum Wählen auf. "Das europäische Parlament ist nicht alles, aber ohne das Parlament ist in Europa alles nichts", sagt Bröchler in einem Youtube-Video und fordert die Berlinerinnen und Berliner zum (erneuten) Wählen auf.
Immerhin: Es haben bereits mehr als ein Viertel aller Wählerinnen und Wähler Briefwahlunterlagen angefordert. In Brüssel werden die Interessen der Berlinerinnen und Berliner bislang von 13 Parlamentariern vertreten. Und auch bei der jetzigen Wahl gibt es einige aussichtsreiche Kandidierende: Während die Berliner Spitzenkandidaten, die bereits im EU-Parlament sitzen, gute Chancen haben, dass ihre Zeit in Brüssel verlängert wird, dürften es die Newcomer aus der Hauptstadt schwer haben.
Gabriele Bischoff von der SPD kandidiert zum zweiten Mal für das Europa-Parlament. Sie steht auf einem aussichtsreichen siebten Listenplatz. Der Gewerkschafterin aus Bad Wildungen liegen vor allem die Arbeitnehmerrechte am Herzen. Auch dem Thema Korruption in der EU widmet sich Bischoff. Weil Schmiergeld-Affären immer häufiger ans Licht kommen, hat die 63-Jährige mit anderen Abgeordneten mehr Transparenz bei Einkommen und Kontakten von EU-Parlamentariern durchgesetzt. Bischoff hat Politikwissenschaften studiert und zuvor beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales gearbeitet.
Europa zeigt sich für die SPD-Politikerin konkret anhand der Beratungsstelle "Faire Mobilität" in Grünheide (Oder-Spree) - ein Projekt, das mit EU-Geldern gestartet ist. Nahe der Tesla-Fabrik können sich Tesla-Mitarbeitende dort über ihre Rechte beraten lassen.
13 Beratungsstellen gibt es mittlerweile in Deutschland. Bischoff will, dass es mehr werden: "Ich setze mich dafür ein, dass wir solche Beratungsstellen europaweit haben. In vielen Ländern haben wir einen hohen Anteil an mobilen Beschäftigten und das ist die vulnerabelste Gruppe, die am meisten davon bedroht ist, dass man ihr den Lohn vorenthält oder kürzt."
Auch Hildegard Bentele von der CDU kandidiert zum zweiten Mal für das Europa-Parlament als Berliner Spitzenkandidatin. Bentele hat Politikwissenschaften und Jura studiert. Mit 26 Jahren begann die Ludwigsburgerin ihre Laufbahn im Auswärtigen Amt, arbeitete als Diplomatin in Zagreb und Teheran. Europa zeigt sich für sie im Berliner Stadtbild exemplarisch an der Gedenkstätte der Berliner Mauer an der Bernauer Straße. Der Ort ist für Bentele ein Symbol – für den Wunsch nach Freiheit, Demokratie und Wohlstand, und gleichzeitig auch für Unterdrückung und Unfreiheit. Das sei nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges aktueller denn je, sagt die CDU-Politikerin.
Im EU-Parlament sind vor allem Industrie- und Umweltpolitik ihre Themen.
Als Mitglied im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie hat sie das Gesetz zu kritischen Rohstoffen, wie Kobalt und Lithium, mit auf den Weg gebracht. Es soll die EU unabhängiger von einzelnen Import-Ländern machen: "In der kommenden Legislatur will ich daran arbeiten, diese Vorschriften auch umzusetzen. Zum Beispiel den heimischen Rohstoffabbau anzukurbeln. 10 Prozent der kritischen Rohstoffe wollen wir auch in Europa abbauen, das ist das Ziel!"
Seit 2019 sitzt der Rechtsanwalt Sergey Lagodinsky im EU-Parlament. Der 48-Jährige tritt für die Grünen in Berlin und Brandenburg an und steht auf Platz zwei der Bundesliste. Die Osteuropa-Expertise des in der Sowjetunion aufgewachsenen Juristen ist im Parlament gefragt, er sieht sich dort als Brückenbauer.
Ein Sinnbild für Europa ist für ihn die Glienicker Brücke, sie stehe für Ost-West, die zusammengewachsen sind, und auch für "Grenzgängertum", sagt Lagodinsky. Im EU-Parlament ist er unter anderem zuständig für Außenpolitik, Künstliche Intelligenz und Bürgerrechte. Seine Aufgabe auf europäischer Ebene, auch in diesem Wahlkampf, sieht er vor allem darin, die Vorzüge der EU zu unterstreichen, besonders beim Thema Freiheit:
"Ich war schon früher kritisch gegenüber Russland, gegenüber dem System und ich war früher schon derjenige, der gesagt hat: 'Leute, lasst uns wertschätzen, was wir hier haben, an Freiheit zum Beispiel'. (..) Das ist jetzt unser Job, auch im Rahmen dieses Wahlkampfes, das jetzt rüberzubringen. Sonst gehen wir alle unter."
Neben Lagodinsky stehen mit Anna Cavazzini auf Platz drei, Hannah Neumann auf Platz fünf und Erik Marquardt auf Platz acht gleich drei weitere Berliner Kandidierende auf aussichtsreichen Positionen der Bundesliste der Grünen. Alle drei sitzen auch bereits im Europaparlament.
Alexander Sell kandidiert zum ersten Mal für das Europaparlament. Er kommt aus Mainz, hat Philosophie in Berlin und Paris studiert. Aktuell arbeitet der 43-Jährige als Büroleiter bei der Berliner AfD-Fraktionsvorsitzenden Kristin Brinker. Europa zeigt sich für ihn im Berliner Stadtbild exemplarisch auf dem Alexanderplatz. Die hohe Kriminalitätsrate dort ist für Sell auf die EU-Politik der "offenen Grenzen" zurückzuführen.
Im Bundesprogramm der AfD steht, dass die Partei die EU in ihrer jetzigen Form ablehnt: Sie will einen Bund der europäischen Nationen. Ließe sich die EU nicht reformieren, solle Deutschland austreten oder die EU aufgelöst werden. Auch Sell will das EU-Parlament, für das er kandidiert, abschaffen, weil es keine Gesetzesvorschläge vorlegen kann. "Auf europäischer Ebene möchte ich mich vor allem für sichere Außengrenzen einsetzen", so Sell. Wie seine Partei das aus der politischen Isolation heraus machen will, nachdem sie wegen der Verharmlosung der Nazi-SS durch Spitzenkandidat Maximilian Krah aus der rechtsnationalen ID-Fraktion ausgeschlossen wurde, bleibt unklar.
"Krankenpflegerin. Seenotretterin. Antifaschistin", so wirbt die Linke für die 35 Jahre alte Lea Reisner. Reisner kommt aus Wiesbaden, hat als Krankenpflegerin an der Kölner Uniklinik gearbeitet – und war dann Einsatzleiterin und Koordinatorin in der Seenotrettung für Geflüchtete. Reisner kandidiert zum ersten Mal für das Europaparlament. Europa in Berlin hat für sie viel mit einer Caritas-Krankenwohnung in Moabit zu tun. Denn die zeige exemplarisch, dass sich für Geflüchtete und bei der Gesundheitsversorgung noch viel tun müsse, sagt Reisner.
Die Krankenwohnung ist Anlaufstelle für wohnungslose Menschen, die keine Krankenversicherung haben. Viele kommen aus Osteuropa. Sie werden hier von ehrenamtlichen Pflegerinnen, Ärzten und Sozialarbeiterinnen behandelt.
Im Europaparlament möchte sich die Linken-Politikerin, die auf Platz neun der Bundesliste steht, vor allem für eine Sache stark machen: "Ich glaube, erstmal brauchen wir natürlich eine Krankenversicherung, die europaweit funktioniert. Dass einfach Menschen in Europa gar nicht in die Situation kommen, nicht krankenversichert zu sein." Auf Platz eins der Bundesliste der Linken steht mit Martin Schirdewan ebenfalls ein Berliner.
Anastasia Vishnevskaya-Mann kandidiert zum ersten Mal für das Europäische Parlament, als Spitzenkandidatin der Berliner FDP. Sie ist Expertin für Internationale Beziehungen: Die 35-Jährige, in Russland geboren, hat ihre Doktorarbeit über die Menschenrechte in den Beziehungen zwischen der EU und China geschrieben.
Seit fünf Jahren arbeitet Vishnevskaya-Mann im Bundestag für die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses. China sieht sie – ebenso wie Russland – als systemischen Rivalen der EU. Und will die europäische Wirtschaft stärken: durch weniger Bürokratie und mehr Freihandelsabkommen – zum Beispiel mit Südamerika, Australien und Indien.
In Berlin zeigt sich Europa für Vishnewskaya-Mann vor allem im Schlosspark Charlottenburg, weil er aus ihrer Sicht für das Positive in der EU steht – dort mischen sich, so die FDP-Politikerin, französische und englische Gartenkunst. Ein Zeichen, dass sich Länder trotz Kriegen in der Vergangenheit gegenseitig inspiriert haben. Auf europäischer Ebene würde sie sich gern im Bereich der Wirtschaftspolitik engagieren: "Wir müssen uns unabhängiger von China machen – und das geht nur, indem wir unseren Handel massiv diversifizieren."
Martin Sonneborn ist bereits EU-Veteran. Er kandidiert zum dritten Mal für das Europaparlament. Sonneborn ist in Göttingen geboren, studierte Publizistik und Politikwissenschaften. 2004 gründete er "Die Partei", damals als Chefredakteur des Satire-Magazins "Titanic". Auf den ersten Blick ist Sonneborn immer im Satire-Modus. Auf den zweiten Blick wird aber klar: Vieles, was der 59-Jährige sagt, hat dann doch einen ernsten Kern.
Fragen von Krieg und Frieden treiben ihn um – vom Ukraine-Krieg über den Nahen Osten bis zum öffentlich kaum wahrgenommenen Bergkarabach-Konflikt. Und bei manchen Themen bleibt selbst Sonneborn das Lachen im Hals stecken, vor allem beim Thema Korruption. Wir sind nicht wie die anderen – das ist eine der Kernbotschaften der "Partei" für die Europawahl. Wirklich auf Wählerstimmenfang sieht sich Sonneborn übrigens nicht: "Eigentlich fordern wir niemanden auf, uns zu wählen. Wir sind eine Möglichkeit für die, die sonst niemanden finden. Dafür sind wir aber recht gut und effektiv."
Die 36-jährige Neuköllnerin Judith Benda kandidiert zum ersten Mal für das Europäische Parlament. Benda hat nach dem Abitur "Europäische Studien" in den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien und an der Humboldt-Universität in Berlin studiert und wohnt seit zehn Jahren in Brüssel. Dort hat sie bis vor Kurzem als Büroleiterin im Europäischen Parlament gearbeitet, war Mitglied der Partei Die Linke – und ist nun beim Bündnis Sahra Wagenknecht.
In Berlin werden für sie europäische Ziele bei der Friedensglocke im Volkspark Friedrichshain sichtbar - und das hat auch mit ihrem wichtigsten Wahlkampf-Thema zu tun: dem Krieg in der Ukraine. Auch wenn Russlands Präsident Wladimir Putin erst kürzlich erklärte, Verhandlungen nur zu Gunsten seiner Kriegsziele führen zu wollen, setzt die BSW-Politikerin auch auf europäischer Ebene weiter auf Diplomatie. Dafür möchte sie sich im Europaparlament einsetzen: "Der Krieg ist aus unserer Sicht nur auf diplomatischem Weg und auf Verständigungsweg zu lösen. Wir sind da ja auch nicht alleine, das fordern ja auch der Papst und Länder des globalen Südens. Diplomatie geht vor Eskalation."
Da es bei der Europawahl keine Prozent-Hürde gibt, können auch Parteien mit weniger als drei Prozent einen Platz im Europaparlament erhalten. So sitzen aktuell etwa Vertreter der Familien- und der Tierschutzpartei, der Piraten und Volt in Brüssel.
Für Volt ist es der 36 Jahre alte Wahl-Berliner Damian von Boeselager. Er zog 2019 im ersten Versuch als Spitzenkandidat ins Europaparlament ein und kandidiert auch jetzt wieder auf Listenplatz eins in einem Spitzen-Quartett.
Sendung: rbb24 Abendschau, 31.05.2024 , 19:30 Uhr
Beitrag von Agnes Sundermeyer
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