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Quelle: www.ostkreuz.de

Interview | Verfassungsrechtler Dieter Grimm

"Die EU ist eben kein Staat"

Schon der Wahlkampf sei problembeladen, sagt Dieter Grimm über die Europawahl. Der ehemaliger Bundesrichter sieht viele Schwachstellen im demokratischen Gefüge der EU. Einige davon seien nur schwer bis gar nicht aufzulösen, sagt er im Interview.

rbb|24: Herr Professor Grimm, Sie kritisieren seit mehreren Jahrzehnten, dass es in der Struktur der EU demokratische Defizite gibt. Was ist aktuell die größte Problemstelle?

Dieter Grimm: Aktuell fällt der Blick vor allem auf die Europawahl. Wir wählen ein europäisches Parlament, aber zur Wahl stehen nur nationale Parteien. Sie werben mit nationalen Programmen. Im europäischen Parlament spielen sie aber gar keine Rolle. Wir stöhnen in der Bundesrepublik schon, wenn wir sieben Parteien im Parlament haben. Im Europäischen Parlament gibt es über 200.

Die Akteure im europäischen Parlament sind europäische Fraktionen, die sich aber erst nach der Wahl bilden und programmlich festlegen. Die Wählerstimmen werden dadurch gewissermaßen abgeknickt. Die Parteien, welche man wählen kann, haben nichts zu sagen, die Fraktionen, die etwas zu sagen haben, kann man nicht wählen. Der Einfluss der Wähler auf die Europapolitik ist deswegen relativ gering, verglichen mit dem Einfluss der nationalen Wahlen auf die nationale Politik.

Für das Europäische Parlament sollten europäische Parteien kandidieren, die mit einem europapolitischen Programm auftreten. Die Europäischen Verträge lassen das schon jetzt zu. Es wäre keine Vertragsänderung nötig. Aber die nationalen Parteien haben kein Interesse daran.

Zur Person

Welchen Vorteil versprechen sich die Parteien davon?

Die nationalen Parteien befürchten wohl einen Verlust an Einfluss, wenn sie nur noch Teil einer europäisierten Partei sind. Aber dazu kommt es ja doch auch jetzt schon, nur eben nach der Wahl, wenn die 200 nationalen Parteien etwa sieben europäische Fraktionen bilden. Die Leidtragenden sind die Wähler, deren Einfluss im gegenwärtigen System schwach ist.

Das, was Sie beschreiben, wird oft gemeinsam mit dem Begriff der "europäischen Öffentlichkeit" diskutiert. Die es ja eigentlich gar nicht gibt.

Eine europäische Öffentlichkeit gibt es nur in sehr eingeschränkter Form. Das hängt damit zusammen, dass wir in nationalen Kommunikationsräumen leben. Die traditionellen Medien sind nationale Medien. Nur im Netz ändert sich das etwas. Das bedeutet, dass wir die europäischen Themen vorwiegend unter unseren nationalen Gesichtspunkten diskutieren. Wir sehen das zum Beispiel daran, dass europäische Wahlergebnisse nur national thematisiert werden. Was wäre, wenn das die Bundestagswahl gewesen wäre?

Zudem kommunizieren wir in unseren jeweiligen Sprachen. Das heißt, die Kommunikationsräume sind schwer zu überschreiten. Die Zahl derer, die Englisch sprechen kann, wächst zwar, insbesondere unter den jungen Menschen - auch wenn die Briten inzwischen aus der Europäischen Union ausgetreten sind. Aber die Sprachkompetenzen im Englischen sind sehr unterschiedlich ausgebildet. Deswegen gibt es keinen dichten Kommunikationsraum auf europäischer Ebene und er lässt sich auch nicht einfach per Anordnung herstellen. So etwas muss wachsen und das dauert.

Politisches System und Gewaltenteilung

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Ein Argument gegen europäische Parteien wäre, dass manche Themen in einigen Ländern eine sehr prägnante Rolle spielen, in anderen aber nicht. Würden solche regionalen Probleme nicht zwangsläufig in den Hintergrund rücken, wenn Parteien die Wähler in der gesamten Union überzeugen müssten?

Die europäischen Parteien müssen dem Wähler ein europapolitisches Programm anbieten, dass bereits einen Ausgleich der verschiedenen nationalen Interessen enthält. Die Kandidaten in den Wahlkreisen müssen es natürlich ihrer Wählerschaft schmackhaft machen. Es wird daher immer genügend Spielraum für nationale Besonderheiten bleiben.

Es gibt in fast allen EU-Staaten rechtspopulistische Parteien, die auch im Europaparlament vertreten sind. Aus deren Sicht wäre ein europaweiter Wahlkampf gar nicht vorstellbar. Das widerspricht schließlich dem, was sie wollen.

Ja. Wenn man kein wirklich integriertes Europa will, sondern nur einen lockeren Zusammenschluss von Nationalstaaten, kann man nicht dafür sein, dass es ein europäisiertes Parteiensystem gibt. Auf der anderen Seite gilt auch für populistische Parteien: Wenn sie sich nicht auf europäischer Ebene zusammenschlössen, hätten sie im Europäischen Parlament überhaupt keinen Einfluss. Und das kann ihnen auch nicht genehm sein.

Wir wählen am 9. Juni ein Parlament, das selbst keine Gesetze vorschlagen kann. Würde dieser Umstand nicht noch mehr ins Auge fallen, wenn keine 200 Parteien mehr im Europaparlament säßen, sondern sieben oder acht?

Ich finde, es ist ein Anachronismus, dass das Initiativrecht für EU-Gesetze nur die Kommission hat. Weder der Rat der Europäischen Union hat ein Initiativrecht noch das Parlament. Sie sind daran gebunden, dass die Kommission aktiv wird. Das Parlament ist dabei in einer schlechteren Situation als der Rat. Wenn der Rat gegenüber der Europäische Kommission die Erwartung äußert, dass sie die Initiative ergreift, dann geschieht das in der Regel. Das Parlament ist viel größer und viel weniger geschlossen. Da kann sich die Kommission zurückhaltender geben. Ich halte es für notwendig, dass das Parlament ein Initiativrecht bekommt.

Solange die Europäische Union kein Staat ist, sondern eine von Staaten getragene supranationale Organisation, ist es allerdings konsequent, dass das Parlament nicht die erste Rolle spielt. Die spielt der Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind.

Wir haben bei einigen Krisen in den vergangenen Jahren gesehen, dass einzelne Länder die EU blockieren können. Etwa die ungarische Regierung bei der Fragen nach gemeinsamen Russlandsanktionen. Mir erscheint das recht undemokratisch: Die Regierung eines Landes indem ich nicht abstimmen darf, kann eine Organisation ausbremsen, deren Entscheidungen auf mein Leben großen Einfluss haben.

Für die Abstimmungen im Rat gelten unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse, je nach Bedeutung des Gegenstandes, über den abgestimmt wird. Das haben die Staaten ausgehandelt und in den europäischen Verträgen einstimmig niedergelegt. Die nationalen Parlamente, also die Hauptträger der Demokratie in den Mitgliedstaaten, haben zugestimmt. Man kann das ändern, indem man die Verträge ändert, was aber wiederum Einstimmigkeit voraussetzt, also schwer erreichbar ist. Die kleinen Länder würden kaum dazu bereit sein, erheblich an Stimmgewicht zu verlieren. Nochmals: Die EU ist eben kein Staat.

Demokratiedefizit

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Bleiben wir bei den kleinen Ländern. Malta hat aktuell sechs Sitze im Europaparlament, Deutschland 96. In Malta sind rund 330.000 Menschen wahlberechtigt, in Deutschland mehr als 64 Millionen. Das heißt, während ein Abgeordneter aus Malta die Interessen von etwa 55.000 Bürgerinnen und Bürgern im Europaparlament vertritt, stehen deutsche Abgeordnete theoretisch stellvertretend für knapp 670.000. Könnten solche groben Missverhältnisse irgendwie abgemildert werden, ohne dabei das Europaparlament gigantisch aufzublasen?

Sowohl das Bedenken, das ich aus Ihrer Aussage heraushöre, ist berechtigt, wie auch die Feststellung, dass das Problem nur schwer zu lösen ist. Das ist ein Missverhältnis, und das Bundesverfassungsgericht hat dies unter demokratischen Gesichtspunkten kritisiert. Zum letzten Mal wurde die Stimmenverteilung im Vertrag von Nizza geregelt. Das war im Jahr 2001. Sechs Jahre später, als der Vertrag von Lissabon verhandelt wurde, kam in Polen der Schlachtruf auf "Nizza oder der Tod". Denn bei einer Neuverteilung hätten die Polen wohl Stimmen im Parlament verloren.

Übrigens verhält es sich im deutschen Bundesrat ja ähnlich. Dort folgt die Stimmenzahl der Länder auch nicht exakt den Einwohnerzahlen. Bremen hat drei Stimmen, Nordrhein-Westfalen sechs. Dadurch haben die Stimmen der kleinen Länder mehr Gewicht und die der großen weniger. Im Europäischen Parlament ist das genauso. Und auch hier gilt: Die EU ist kein Staat, und die kleineren Staaten würden sich gegen ein reines Proporzsystem wehren.

Die Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel sagt: Ob die EU ein Demokratiedefizit hat und falls ja, wie groß es ist, hängt davon ab, als was man sie betrachtet. Vergleicht man sie mit Staaten, ist sie in vielen Aspekten wenig demokratisch. Sieht man sie als politische Organisation, ist sie überaus demokratisch.

Da kann ich zustimmen. Ich kenne keine internationale Organisation, die einen ähnlichen Demokratiegrad erreicht hat wie die Europäische Union. Dennoch steht die Europäische Union weit hinter vielen Mitgliedstaaten zurück. Das heißt nicht, dass jeder Mitgliedstaat ein Idealfall an Demokratie wäre. Aber im Durchschnitt ist der Demokratiestandard in den Mitgliedstaat entschieden höher als in der Europäischen Union.

In meinen Augen ist das aber kein Vorwurf. Es handelt sich bei der EU eben nicht um einen Staat, sondern um eine internationale Organisation mit begrenzten Aufgaben. Und sie wird getragen von den Staaten, die ihre Souveränität nicht aufgeben wollen. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass die Zahl der Staaten, die nicht bereit sind ihre Souveränität aufzugeben, derzeit eher wächst, als dass sie kleiner wird.

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Ist es überhaupt möglich, die Demokratiedefizite der EU abzubauen, ohne dies als Richtungsentscheidung hin zu einem europäischen Super-Staat zu begreifen?

Wenn das Demokratieniveau der Europäischen Union vergrößert wird, wird automatisch das Demokratieniveau der Mitgliedstaaten verringert. Gehen den Mitgliedstaaten Aufgaben verloren, sinkt im selben Ausmaß die Bedeutung der nationalen Institutionen und der nationalen Verfassungen. Das ist sozusagen ein Nullsummenspiel zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten. Wo da die richtige Grenze liegt, ist nicht leicht zu beantworten.

Damit ist aber nicht gesagt, dass sich das der Demokratie-Standard der EU nicht erhöhen ließe, ohne dass sie dadurch zum Staat würde. Über die Europäisierung der Europawahl haben wir bereits gesprochen. Es bleibt aber dabei, dass die Voraussetzungen für eine substantielle, nicht bloß formale Demokratie im Staat wesentlich besser sind als in der EU.

Was uns fehlt, ist eine Diskussion darüber, wie wir uns das Ziel der europäischen Integration vorstellen. Dabei ist das eigentlich die Grundfrage: Soll die EU ein Staat werden oder soll sie bleiben, wie sie ist? Doch diese Frage wird von vielen Politikern aus den Mitgliedstaaten gemieden. Ich halte das für einen Fehler.

Was bedeutet das alles für die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung?

Die Strukturen der EU sind schwerer zu verstehen als die von Staaten. Es handelt sich eben nicht um ein parlamentarisches System mit dem Gegensatz von Regierung und Opposition, wie wir es aus unseren Staaten kennen. Zudem ist die Konsensfindung wegen der vielen Beteiligten in der EU noch schwieriger als im Staat. Entscheidungen dauern länger und fallen kompromisshafter aus. Das führt zu Enttäuschungen. Der Eindruck, dass man auf die Politik noch weniger Einfluss nehmen kann als im Staat, wächst.

Hinzu kommt, dass in vielen Mitgliedstaaten die politischen Kräfte zunehmen, die den Nationalstaat stärken möchten oder sogar den Austritt aus der EU anstreben. Das liegt quer zu dem Umstand, dass diejenigen Probleme zunehmen, die im Rahmen der Nationalstaaten nicht mehr lösbar sind, sondern internationaler Lösungen bedürfen. Ein Zusammenschluss von Staaten wie die EU ist die Konsequenz dieser Situation. Es kann also nur darum gehen, die EU zu verbessern, nicht sie abzuschaffen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dieses Interview führte Oliver Noffke.

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