Politisches System und Gewaltenteilung
Die Machtverhältnisse in der Europäischen Union sind kompliziert geregelt. Hauptsächlich, weil die Mitgliedstaaten starken Einfluss ausüben können. Wer darf also was in der EU und wie ist die Macht verteilt? Von Oliver Noffke
Legislative, Exekutive und Judikative: Gewaltenteilung ist ein prägender Bestandteil jeder modernen Demokratie. Um zu verhindern, dass eine Institution oder Person unkontrolliert Macht ausüben kann, werden die drei grundlegenden Befugnisse voneinander getrennt. Wie sie sortiert werden, variiert von Fall zu Fall. Die Europäische Union beschreibt ihr politisches System selbst als "einzigartig" [european-union.europa.eu]. Man könnte auch sagen, es ist einzigartig kompliziert.
Der Grund dafür ist, dass die EU kein eigenständiger Staat ist. Stattdessen ist sie ein Verbund aus souveränen Nationalstaaten. Die EU ist eine politische Organisation, die also nur über so viel Macht verfügt, wie die Mitglieder ihr zugestehen. Im Vertrag von Lissabon wurde 2007 festgehalten, welche überstaatlichen Befugnisse sie hat und in welchem Verhältnis die Mitgliedstaaten zueinander stehen wollen [europarl.europa.eu].
Praktisch hat das zur Folge, dass nur das Europäische Parlament direkt von den EU-Bürgerinnen und Bürgern bestimmt wird. Die Zusammensetzung anderer Organe ergibt sich indirekt, infolge von Wahlen in den 27 Mitgliedstaaten. Die Regierungen der Länder üben also enormen Einfluss auf die Politik der EU aus; während gleichzeitig die Souveränität der Mitglieder sichergestellt ist.
Um diese Balance zu halten - zwischen einer schlagkräftigen EU und eigenständigen Nationalstaaten -, ist ein kompliziertes Gefüge notwendig. Was den "einzigartigen" Aufbau erklärt. In vielen Ländern reichen drei Institutionen aus, um die Machtverhältnisse auszutarieren.
Ein perfektes Beispiel dafür ist Dänemark. Dort gibt es drei Staatsorgane. Die Legislative – also die gesetzgebende Gewalt – übt das direkt gewählte Parlament aus. Eine zweite Kammer gibt es nicht. Der König setzt zwar die Gesetze in Kraft, seine Rolle ist jedoch lediglich repräsentativ. Für die Um- und Durchsetzung der Gesetze ist die Regierung unter Führung der Ministerpräsidentin zuständig. Mitsamt dem Verwaltungsapparat bildet sie die Exekutive. Ob im Staate Dänemark im Sinne der Verfassung gehandelt wird, entscheidet das Oberste Gericht - die judikative Gewalt. Parlament, Regierung und Gericht sind jeweils für einen der drei Machtbereiche zuständig und kontrollieren sich gegenseitig.
In der Europäischen Union ziehen fünf Institutionen besonders kräftig an den Strängen der Macht. Manche von ihnen teilen sich Aufgaben mit anderen, einige üben Einfluss auf mehrere Bereiche aus. Außerdem gehören die Europäische Zentralbank und der Europäische Rechnungshof zu den Organen der EU. Im engeren Sinne der Gewaltenteilung spielen beide jedoch keine tragende Rolle. Sie sind vor allem wirtschaftspolitisch von Bedeutung.
Das Parlament der EU übt legislative Macht aus. Es ist also an der Gesetzgebung beteiligt. Über seine Zusammensetzung entscheiden die Bürgerinnen und Bürger per Wahl (der Europawahl) - so wie es auch in den Mitgliedstaaten üblich ist.
Im Gegensatz zu den nationalen Parlamenten besitzt es jedoch kein Initiativrecht – die Abgeordneten dürfen also keine eigenen Gesetzesvorlagen einbringen. Das darf nur die Kommission. Allerdings kann das Parlament die Kommission dazu auffordern, tätig zu werden und innerhalb von zwölf Monaten Gesetzesvorschläge zu erarbeiten. Man spricht deshalb von einem "eingeschränkten Initiativrecht".
Es gibt Bereiche, auf die das Europäische Parlament keinen Einfluss hat - insbesondere die Wettbewerbspolitik sowie die Außen- und Sicherheitspolitik. Trotzdem bewegt sich in der EU fast nichts gegen den Willen des Parlaments. Gemeinsam mit dem Rat der EU entscheiden die Abgeordneten, was zum Gesetz wird. Das Parlament kann Änderungsvorschläge einbringen, Rechtsakte ablehnen und es kontrolliert die übrigen Organe, die ihm Bericht erstatten müssen. Durch ein Misstrauensvotum kann das Parlament auch die Kommission entlassen.
Der sogenannte "Ministerrat" vertritt die Interessen der Mitgliedstaaten. In ihm kommen die Köpfe der Fachministerien aus den 27 EU-Ländern zusammen. Deshalb gibt es genau genommen nicht den einen Ministerrat, sondern zehn verschiedene. Je nachdem, ob es um Landwirtschaft und Fischerei geht oder um Umweltthemen oder um Wettbewerbsfähigkeit. Gemeinsam mit dem Parlament verabschiedet der Ministerrat EU-Gesetze. Er besitzt also ebenfalls legislative Gewalt [european-union.europa.eu].
Ganz ohne Kritik ist das nicht. Schließlich sind die Ministerinnen und Minister in ihren Herkunftsländern Teil der Regierungen, gehören dort also der Exekutive an. Theoretisch besteht deshalb die Möglichkeit, dass die Regierung eines Mitgliedstaates versucht, Gesetze auf europäischer Ebene durchzusetzen, für die es im eigenen Land keine Mehrheit im Parlament gibt. Politikwissenschaftler:innen sprechen von "Exekutivföderalismus" - die Vertreter der Exekutive einer unteren Ebene haben auf höherer Ebene legislative Gewalt. Ein weiteres prominentes Beispiel für Exekutivföderalismus ist der deutsche Bundesrat.
Solche Fälle sollen verhindert werden, indem der Ministerrat keine Gesetzesvorlagen selbst schreiben und nicht am Parlament vorbei Gesetze verabschieden kann. Liegen Ministerrat und Parlament im Streit, kann ein Vermittlungsausschuss eingesetzt werden.
Die Kommission erscheint auf den ersten Blick wie die Regierung der EU. Doch dieser Vergleich hinkt etwas. Sie hat in einigen Bereichen mehr Befugnisse als viele nationale Regierungen – und gleichzeitig in vielen Belangen deutlich weniger. Ziel der Kommission ist, die Mitgliedstaaten stärker aneinander zu binden.
Wie eine Regierung hat die Kommission exekutive Gewalt. Sie ist dafür verantwortlich, dass die Gesetze der EU in den Mitgliedstaaten umgesetzt und die gemeinsamen Verträge eingehalten werden. Auf EU-Ebene hat sie Einfluss auf nahezu alle Politikbereiche - abgesehen von der Außen- und Sicherheitspolitik. Das liegt in der Verantwortung der Mitgliedstaaten selbst.
Gleichzeitig kann nur die Kommission Gesetzesvorlagen ausarbeiten. Anders als eine nationale Regierung hat sie also eine starke legislative Position – auch wenn sie diese Gesetze nicht selbst verabschieden kann. Die Kommission kann vom Parlament dazu gezwungen werden, Vorlagen zu bestimmten Fragen auszuarbeiten. Dies muss sie dann innerhalb von zwölf Monaten tun oder innerhalb von drei Monaten begründen, warum sie das nicht möchte. Auch der Ministerrat kann sie zum Handeln auffordern sowie die Bevölkerung durch die Europäische Bürgerinitiative [citizens-initiative.europa.eu].
Im Europäischen Rat kommen die 27 Staats- und Regierungschefs zusammen. Deutschland wird durch den Bundeskanzler vertreten. Der Europäische Rat kann selbst keine Rechtsvorschriften machen. Er gehört wie die Kommission zur Exekutive der EU – doch das Verhältnis zwischen beiden ist kompliziert.
Einerseits kontrolliert die Kommission, ob die Regierungen der Mitgliedstaaten EU-Recht wirklich umsetzen und einhalten. Bei Verstößen kann sie teure Verfahren gegen die Mitgliedstaaten einleiten.
Andererseits ist im Vertrag von Lissabon festgelegt, dass der Europäische Rat die "erforderlichen Impulse" für die weitere Entwicklung der Union vorgibt. Ob die EU künftig mehr Kompetenzen erhält, liegt also in der Hand der Mitglieder. Nur die Staats- und Regierungschefs können Entscheidungen treffen, die die Außen- und Sicherheitspolitik der EU betreffen. Zudem schlägt der Europäische Rat die Kommissionspräsidentin vor und ringt um Kompromisse, wenn im Ministerrat keine Lösungen gefunden werden können [european-union.europa.eu].
Der Gerichtshof der Europäischen Union bildet die Judikative des Staatenbundes. Er besteht aus mehrere Gerichten, die für einzelne Fachbereiche zuständig sind, sowie zwei höheren Instanzen. An seiner Spitze steht der Europäische Gerichtshof (EuGH). Diese Institution sorgt dafür, dass in allen Mitgliedstaaten das EU-Recht in gleicher Weise angewendet wird.
Bei Rechtsstreitigkeiten zwischen anderen EU-Organen oder Mitgliedstaaten entscheidet der Gerichtshof. Auch bei juristischen Auseinandersetzungen zwischen der EU und Unternehmen ist er zuständig.
Beitrag von Oliver Noffke
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