Meinung | Super-Wahltag 2021 - Fünf Gründe, warum die Aufarbeitung der Berliner Wahlpannen mangelhaft ist
Fast drei Wochen nach dem Wahltag ist das Ausmaß der Wahlpannen in Berlin weiter unklar. Die Zuständigen schieben sich gegenseitig den Ball zu und schotten sich ab. Der Regierende Bürgermeister gefährdet mit seiner Beurteilung ein wichtiges Wahlprinzip. Von Dominik Ritter-Wurnig
Noch am Wahlsonntag wurden in Berlin massive Pannen [rbb|24 berichtete] bei der Durchführung der Wahlen bekannt: fehlende Stimmzettel, lange Schlangen, Wählen bis weit nach 18 Uhr und falsche Stimmzettel. Auch fast drei Wochen nach dem Superwahltag weiß die Öffentlichkeit nur in groben Zügen, was schief gelaufen ist.
Wieso die Aufarbeitung schleppend und intransparent verläuft:
1. Bezirkswahlausschüsse arbeiten intransparent
Im Mittelpunkt der Aufarbeitung stehen bisher die Bezirke - genauer gesagt die Bezirkswahlleiter und die zugehörigen Wahlausschüsse. Dort werden im ersten Schritt die Pannen rechtlich bewertet, deren Mandatsrelevanz berechnet, Nachzählungen durchgeführt und das Ergebnis festgestellt.
Vordergründig geschieht dies in aller Öffentlichkeit, tatsächlich wird eine Scheinöffentlichkeit hergestellt. Jede und jeder kann zusehen kommen, aber niemand erfährt davon. Die Termine der Nachzählungen und der Wahlausschüsse werden - im Jahr 2021 (!) - per Aushang im Bezirksamt veröffentlicht. Selbst auf den Webseiten der meisten Bezirksämter finden sich keine Informationen dazu. Transparenz und Bürgernähe gehen anders.
Erschwerend kommt hinzu, dass den Mitgliedern der Wahlausschüsse ein Maulkorb verpasst wird. Die Wahlorgane sind zur Verschwiegenheit über die ihnen bekannt gewordenen Angelegenheiten verpflichtet, wie es in Paragraph 4 der Landeswahlordnung heißt.
Journalisten und Journalistinnen dürfen bei diesen öffentlichen Sitzungen zuhören, Video-, Foto- und Tonaufnahmen sind nicht erlaubt. Auch erhält man keinen Einblick in Niederschriften, Protokolle oder Unterlagen, die die Bezirkswahlleitung den Ausschussmitgliedern aushändigt.
Eine Information an die Öffentlichkeit - etwa durch eine Pressemitteilung - gab es durch kaum einen Bezirkswahlausschuss.
2. Presseanfragen bleiben unbeantwortet
"Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihre Anfrage derzeit nicht beantworten kann", so oder ähnlich wurden in den vergangenen Tagen etliche rbb|24-Anfragen zu den Wahlpannen beantwortet - oder besser gesagt nicht beantwortet.
Bezirkswahlamt, Bezirkswahlleitung, Bezirkswahlausschuss, Landeswahlleitung, Landeswahlausschuss und Senatsverwaltung für Inneres wissen mehr über die Wahlpannen, als sie bisher mit der Öffentlichkeit geteilt haben.
Nach wie vor fehlt es an Details, hier einige Beispiele:
Die Bezirkswahlausschüsse haben mittlerweile ausgewertet, in welchen Wahllokalen die Wahlen unterbrochen werden mussten. Diese Aufstellung wurde rbb|24 auf Anfrage nicht zur Verfügung gestellt.
Informationen erhält man nur häppchenweise - in Friedrichshain-Kreuzberg wurden etwa in jedem achten Wahllokal die Wahlen unterbrochen. Details - wie die Dauer der Unterbrechung je Wahlbezirk - wurden rbb|24 auf Anfrage nicht genannt. Dadurch ist unmöglich zu beurteilen, wie gravierend dieses Problem war.
Der Innensenator forderte von den Bezirken Berichte über Vorkommnisse am Wahlsonntag an. Auf Grundlage dieser Berichte stellte er dem Wahlvorgang in einer Pressekonferenz am Freitag einen Persilschein aus. rbb|24 konnte auf Anfrage keine Einsicht in diese Berichte nehmen.
Eine Liste aller Wahllokale mit falschen oder vertauschten Stimmzetteln will die Landeswahlleitung auf Anfrage von rbb|24 ausschließlich im Ausschuss erläutern.
Eine transparente und schnelle Aufarbeitung sieht anders aus.
3. Schuld sind die anderen
Die Bezirkswahlleitung zeigt mit dem Finger auf die Landeswahlleitung. Der Senat sieht sich bloß als Zuseher. Die Brandenburgische Universitätsdruckerei Potsdam soll Schuld an den falschen Stimmzetteln sein. Der Marathon sei das Problem gewesen.
Viele Schuldzuweisungen und wenig Selbstkritik sind im Nachgang der Wahl zu hören. Im Bezirkswahlausschuss Pankow erklärte der Wahlamtsleiter Marc Albrecht, er hätte schon früh zentral mehr Stimmzettel angemahnt: "Die Anmahnung habe ich auch schriftlich", sagte Albrecht. "Darüber bin ich jetzt froh, auch wenn das den Wählern nichts bringt."
Dass zu wenige Wahlzettel gedruckt waren, war vor der Wahl bekannt. Doch niemand hat das öffentlich gemacht. Für das Nachdrucken der Wahlunterlagen wäre eine erneute europaweite Ausschreibung nötig gewesen, was bei dem Zeitdruck illusorisch wäre.
Offenbar ging es an vielen Stellen eher darum, nicht Schuld zu sein, als darum, Probleme zu lösen.
4. Intransparente Berechnung der Mandatsrelevanz
Für die Frage, ob die Wahlfehler so gravierend sind, dass es eine Wahlwiederholung oder Nachwahl bräuchte, ist vor allem die Mandatsrelevanz entscheidend. Das heißt: Hätte jemand anders ein Mandat bekommen oder bekommen können, wenn es nicht zu dem Fehler bei der Wahl gekommen wäre?
So kann man bei Kreuzchen auf den falschen Erststimmen-Wahlzetteln recht gut nachvollziehen: Hätte der zweitplatzierte Direktkandidat vorne gelegen, wenn alle diese ungültigen Stimmen für den Zweiten ausgefallen wäre? Nach derzeitigem Stand war das nirgends der Fall.
Schwieriger und intransparent ist die mandatsrelevante Bewertung von Wahlunterbrechungen. In den Wahlbezirken 401 (Schule am Königstor) [wahlen-berlin.de] und 412 (Georg-Weerth-Schule) [wahlen-berlin.de] etwa in Friedrichshain-Kreuzberg gab es mit je 100 Minuten die längsten Wahlunterbrechungen. Wie kann man berechnen, wie viele Wählerinnen und Wähler deshalb vom Wählen abgehalten wurden? Ist eine Wartezeit von fast zwei Stunden zumutbar?
In den beiden Wahllokalen im Wahlkreis 4 gab es insgesamt 1.417 Nicht-Wähler:innen (Erststimme bei der Abgeordnetenhaus-Wahl). Nur 211 Stimmen trennen in dem Wahlkreis die Grünen-Kandidatin Monika Hermann vom Erstplatzierten Damiano Valgolio (Linke). Wäre es denkbar, dass viele der 1.417 Nicht-Wähler:innen während der Wahlunterbrechung wählen wollten, aber nicht konnten?
Der Bezirkswahlausschuss hat diese und andere Unterbrechungen als nicht relevant für das Ergebnis gewertet.
5. Regierender Bürgermeister greift unabhängigem Wahlausschuss vor
Die Landeswahlordnung ist recht eindeutig: Die Landeswahlleitung trägt die Verantwortung für die Durchführung der Wahl. Das endgültige Ergebnis stellen die Bezirks- und Landeswahlausschüsse fest. Sie sind unabhängig.
Doch der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) lud am vorigen Freitag - deutlich bevor die Gremien in den Bezirken und im Land tagen konnten - zu einer Pressekonferenz, wo er den unabhängigen Gremien vorgriff. "Wir gehen zum derzeitigen Sachstand davon aus, dass diese Unregelmäßigkeiten nicht mandatsrelevant oder wahlverfälschend sind", sagte Müller.
Es gibt in Demokratien sehr gute Gründe, warum nicht die Regierung die Wahl durchführen sollte. Der Regierende Bürgermeister wäre gut darin beraten gewesen, vorab keine Bewertung der Sachverhalte abzugeben. Die eigentlichen, unabhängigen Ausschüsse könnten von dieser Vorgabe durch den Senats-Chef beeinflusst sein.