Nach der 1:2-Niederlage in Stuttgart
Durch den Last-Minute-Gegentreffer in Stuttgart hat Hertha BSC das dritte Spiel in Folge verloren - und ist damit einmal mehr offiziell im Abstiegskampf. Die vielen knappen Spiele lassen vor allem einen Schluss zu: Es fehlt an Qualität. Von Marc Schwitzky
Es sollte doch alles anders werden. Als Wilfried Kanga nach seinem späten Siegtor gegen den FC Schalke 04 in die Ostkurve rannte und sich von einem blau-weißen Meer feiern ließ, als das gesamte Olympiastadion vor plötzlicher Ekstase explodierte – am Abend des 23. Oktobers war der Glaube daran, dass Hertha BSC endlich eine sorgenfreiere Saison spielen könnte, kurzzeitig zu greifen. "So ein Sieg kann einen Schub geben", sagte Suat Serdar nach dem so wichtigen 2:1-Erfolg am 11. Spieltag.
Nur 16 Tage später sieht die Gefühlswelt bei der "Alten Dame" deutlich anders aus. Am vergangenen Dienstagabend haben die Berliner eine schmerzhafte 1:2-Niederlage bei Tabellenkonkurrent Stuttgart hinnehmen müssen. Wieder kassierten die Berliner den Gegentreffer denkbar spät. Wieder musste Hertha einem Rückstand hinterherlaufen. Wieder ließen die Blau-Weißen zahlreiche Kontergelegenheiten und Torchancen sträflich ungenutzt.
Nach 14 Spieltagen und gerade einmal elf Punkten muss festgehalten werden: Wenn so oft die entscheidenden Prozentpunkte fehlen, dann ist nicht Pech, sondern fehlende Qualität das Problem.
Gegen den VfB Stuttgart wird eines von Herthas großen Problemen bereits innerhalb der ersten Sekunden der Partie offensichtlich – das Ausspielen von Umschaltmomenten. Die Schwaben ließen den Ball direkt nach Anpfiff und exakt zwei Pässen in Herthas Besitz übergehen. Dodi Lukebakio schnappte sich das Spielgerät, stürmte bis zum Strafraum, nur um dann den entscheidenden Pass auf Suat Serdar, der frei vor dem Tor gestanden hätte, nicht durchzubringen. "Schon mit der ersten Aktion hätten wir in Führung gehen können", stellte Trainer Sandro Schwarz nach Abpfiff fest. Wohl kaum ein Team in der Bundesliga bringt sich so oft in aussichtsreiche Kontersituationen wie Hertha, doch auch kaum ein Team spielt diese dann so haarsträubend ungenau aus.
Die Quittung kam sogleich. In der 3. Minute kassierten die Berliner den 0:1-Rückstand. Wie in der gesamten ersten Halbzeit sollte auch in dieser Szene das erneut von Schwarz aufgestellte 4-4-2-System im Pressing nicht greifen, so dass sich der VfB schnell ins Mittelfeld kombinierte. Einmal im von Hertha verwaisten Zentrum angekommen, spielte Tiago Tomas den perfekten Pass auf Serhou Guirassy, der eiskalt einnetzte. Herthas nächstes Defizit offenbarte sich: Bereits zum zehnten Mal in der laufenden Saison mussten die Hauptstädter einem Rückstand hinterher laufen – nur Tabellenschlusslicht Schalke musste das öfter.
Auch nach dem Treffer zum 1:0 blieb der Gastgeber das bessere Team. Es wurde offensichtlich, dass das von Schwarz gewählte 4-4-2 gegen den VfB nicht das richtige Mittel war. Herthas vorderste Pressing-Linie wurde von den Schwaben regelmäßig überspielt, die Berliner fanden keinen Zugriff auf den Gegner. So musste Herthas Viererkette Angriff um Angriff verteidigen. Dies hatte zur Folge, dass im eigenen Ballbesitz gänzlich die Ruhe für einen geordneten Spielaufbau fehlte. Innerhalb von Sekunden verlor Hertha Ball um Ball, so dass keine Entlastung möglich war und Stuttgarts Druck weiter bestehen konnte. Es wäre dringend nötig gewesen, das Spiel phasenweise zur Ruhe kommen zu lassen. Hier liegt jedoch das nächste Defizit der alten Dame – die Passquote. Nur drei Teams in der Liga haben ein noch unsaubereres Passspiel als die Berliner – das zeigt sich sowohl im Spielaufbau, als auch im letzten Angriffsdrittel.
Doch bereits in den vergangenen Jahren waren das Passspiel und die vielen Rückstande große Probleme von Hertha. Zwei wichtige Unterschiede zu den Vorsaisons sollten sich im Laufe der Partie noch zeigen. Da wäre zum einen Dodi Lukebakio, der zum echten Unterschiedsspieler gereift ist. Obwohl bei Hertha viel Sand im Getriebe war, reichte ein Angriff in der 19. Minute, um den Ausgleich zu erzielen. Nach einem der wenigen frühen Ballgewinne fand eine Flanke von Jonjoe Kenny den lauernden Lukebakio, der aus dem Nichts den Ausgleich erzielte. Es war das bereits siebte Saisontor des Belgiers. Mit insgesamt acht Scorerpunkten ist er an knapp der Hälfte der 17 Berliner Saisontore direkt beteiligt. Eine beeindruckende Statistik für ihn, die allerdings auch die große Abhängigkeit seines Arbeitgebers von seiner Klasse gravierend zeigt.
Obwohl Stuttgart das feldüberlegende Team blieb, ging es mit dem 1:1 in die Pause. Schwarz nahm zwar keine Wechsel vor, veränderte aber die Formation entscheidend. Hertha kam in einem 4-2-3-1 aus der Kabine, Lukebakio rückte dabei auf den Flügel, Jean-Paul Boetius auf die Zehn und Serdar wie Tousart auf die Doppelsechs. Die taktische Umstellung sollte fruchten, denn Hertha hatte in der zweiten Halbzeit deutlich mehr Zugriff auf den Gegner. Das kompaktere Mittelfeld ließ sich viel seltener überspielen, man kam besser in die Zweikämpfe. So entwickelte sich eine ausgeglichenere, wenn auch weiter zerfahrene Begegnung.
Die später eingewechselten Sunjic, Ejuke und Kanga sorgten zudem für mehr Offensivschwung, auch wenn es ihnen ebenso an Genauigkeit und Effizienz mangelte. Beispielhaft hierfür war eine Szene in der 84. Minute, in der Ejuke am gegnerischen Strafraum den Ball eroberte, dadurch eine Großchance eröffnete, sie aber auf frustrierende Art und Weise vergab. Auch in den zweiten 45 Minuten brachte sich Hertha in aussichtsreiche Situationen – so klärte beispielsweise Mavropanos einen Tousart-Abschluss auf der Torlinie (71. Minute) – aber auch in diesen Szenen fehlte die entscheidende Kaltschnäuzigkeit.
Eben jene bewies Gegner Stuttgart in der achten Minute der Nachspielzeit. Bei der Ecke von Borna Sosa konnte Mavropanos nicht verteidigt werden, der den Ball in der letzten Sekunde des Spiels mit dem Kopf ins Tor drückte. Es ist das bereits fünfte Mal in der laufenden Spielzeit, dass sich Hertha einen Sieg oder zumindest ein Unentschieden in der Schlussviertelstunde durch einen späten Gegentreffer noch nehmen lässt.
So oft zurückzuliegen, so oft aussichtsreiche Kontersituationen unsauber auszuspielen, so oft Torchancen liegen zu lassen, so oft kurz vor Schluss noch das Spiel aus der Hand zu geben – bei Hertha BSC treten all diese Dinge derzeit zu oft auf, um nur von Pech zu sprechen. "Immer Glück ist Können", sagte Hermann Gerland einst. Immer Pech ist demzufolge fehlendes Können. Die bittere Realität ist: Hertha ist nicht besser als das bisher gezeigte.
Nach einer anfänglichen Euphorie, ob des neuen, mutigen Fußballs, den Sandro Schwarz spielen lässt, folgt nun die ernüchternde Erkenntnis, dass Hertha wohl erneut eine zähe Saison im stetigen Abstiegskampf bevorsteht. Dabei steht viel weniger Trainer Schwarz im Fokus, als vielmehr die Qualität seiner Spieler. Nach Jahren des sportlichen wie wirtschaftlichen Verfalls und der diffusen Kaderplanung ist Herthas Aufgebot auch 2022/23 weiter eine Baustelle. In einer großen Vielzahl der Partien sind Philosophie und Abläufe, die Schwarz implementiert hat, deutlich erkennbar. Hertha bringt sich erst in aussichtsreiche Kontersituationen, hohe Ballgewinne und gute Torchancen, weil der Trainer die dafür benötigten Werkzeuge entwickelt hat. Ob der Zweikampf clever geführt, der Pass sauber gespielt oder der Schuss platziert gesetzt wird, liegt nicht mehr in der Hand von Schwarz.
Dennoch wird es einen Erfolg im letzten Spiel vor der WM-Pause gegen den 1. FC Köln brauchen, um die sportliche Krise einzudämmen und Fragen zum Trainer gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der typische Mechanismus, die Ergebnisse direkt an die Arbeit des Trainers zu knüpfen, wird auch nicht vor Schwarz Halt machen und die Medien werden bis Ende Januar, wenn die Liga wieder losgeht, viel Zeit haben, kritisch nachzubohren.
Sendung: rbb24 Inforadio, 09. November 2022, 07:14 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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