Interview | Kriminologin über Gewalt im Fußball
Die Kriminologin Thaya Vester hat hunderte Spielabbrüche im Amateurfußball untersucht. Im Interview erklärt sie, warum die Leidtragenden meist die Schiedsrichter sind und inwieweit sie Parallelen zu Übergriffen auf Rettungsdienste sieht.
rbb|24: Frau Vester, Sie haben in Ihrer Rolle als Kriminologin für Ihre neueste Studie fast 1.000 Spielabbrüche analysiert. Wo fängt der Konflikt meist an, der letztlich zum vorzeitigen Abpfiff führt?
Thaya Vester: Es gibt eine Vielzahl an Auseinandersetzungen bei jedem Fußballspiel. Die Frage ist immer, entspinnt sich daraus ein Konflikt, bei dem man sagt, man kann nicht mehr weiterspielen. Bei den Spielabbrüchen habe ich unterschieden zwischen endogenen und exogenen Ursachen: also Gründe, die im Spielgeschehen liegen und Gründe, die von außen ans Spielgeschehen herangetragen werden. Und der Ursprungs-Konflikt liegt ganz häufig im Spiel. In 29,8 Prozent der Fälle wurde dem Schiedsrichter oder der Schiedsrichterin eine Fehlentscheidung vorgeworfen oder eine vermeintliche Parteilichkeit.
Das heißt, vereinfacht gesagt: Auslöser von Spielabbrüchen sind eher Spieler als Zuschauer?
Absolut. Das Publikum verstärkt bestimmte Dynamiken. Aber in der angesprochenen Konstellation geht es um Schiedsrichter gegen Spieler. Knapp dahinter, mit 26,8 Prozent der Spielabbrüche, liegt die Konfliktlinie zwischen den Fußballspielern, etwa, wenn nach einem harten Zweikampf oder Foul Uneinigkeit darüber herrscht, wie das Tackling gedeutet wird: War es noch okay oder nicht? Häufig kann der Referee solche Konflikte mit einem Pfiff lösen. Aber manchmal auch nicht. Es eskaliert und es kommt zum Spielabbruch.
Trotzdem konnten mehr als 99,9 Prozent der Partien regelkonform zu Ende gespielt werden. Was bereitet Ihnen dennoch Sorgen?
Die Spielabbrüche sind nur die Spitze des Eisbergs. Wenn die Partie nicht zu Ende gespielt werden kann, ist der Sport in dem Moment kaputt. Schiedsrichter, die vorzeitig abpfeifen, sehen sich selber oder andere in Gefahr. Auch in vielen Fällen, in denen zu Ende gespielt wird, kommt es zu Gewalt auf dem Fußballplatz, die absolut nicht in Ordnung ist. Aber wenn die Unparteiischen nicht unmittelbar involviert sind und man das Spiel noch irgendwie zu Ende führen kann, wird das meistens gemacht. Das heißt, die Abbrüche sind wirklich nur die aller-gravierendsten Fälle. Bei 14,2 Prozent davon musste sogar die Polizei hinzugerufen werden.
Interessant ist auch, dass Schiedsrichter ja diejenigen sind, die das Spiel überhaupt erst ermöglichen. Da sehe ich die Parallele zur Gewalt gegen Rettungsdienste und die Polizei, wo man sich doch fragen muss: Geht’s noch? Wie kann das sein? Diejenigen, die einen beschützen oder Dinge ermöglichen, werden angegriffen.
Würden Sie sagen, dass sich negative Stimmungen in der Gesellschaft unmittelbar auf den Amateurfußballplätzen niederschlagen?
Ja. Es gibt neue Zahlen, die zeigen, dass die Anzahl der Spielabbrüche nach Corona noch weiter angestiegen ist. Eigentlich würde man ja davon ausgehen, dass man sich mit der Lockerung der Maßnahmen an den zurückgewonnenen Freiheiten erfreuen könnte und friedlich miteinander Sport machen kann. Das Gegenteil war aber der Fall: Es gab mehr Gewalt und eskalierte Konflikte als zuvor. Da merkt man, dass viel Druck auf der Gesellschaft lastet, der entlädt sich dann irgendwo. Und dann eher vielleicht noch beim Fußball, weil die Meinung vorherrscht, dass man da besonders die Sau rauslassen könne.
Wie ist die Lage beim Fußball der Frauen?
Dass dort ein Spiel abgebrochen wird, ist die absolute Ausnahme. Es kommt da viel weniger vor als bei den Männern.
Warum passiert ein vorzeitiger Abbruch eher im Amateurbereich als bei den Profis?
Es hat mich auch überrascht, als ich mit der Forschung angefangen habe. Die meisten Vorfälle passieren in den unteren Ligen – bei denen man teilweise nicht mal mehr absteigen kann. Man fragt sich: Was habt ihr zu verlieren? Warum kloppt ihr euch? Es hat mit dem Professionalisierungsgrad aller Beteiligten zu tun. Gerade bei den Spielleitern wird erwartet, dass sie Bundesliganiveau haben, es wird also kein Fehler verziehen. Aber diese passieren natürlich deutlich häufiger. Und gerade wenn der Schiedsrichter alleine ist, kann er das Spiel nicht vollumfänglich überblicken.
Was sollten die Landesverbände tun?
Die Verbände sollten konsequenter strafen und auch früher eingreifen. Das heißt, nicht warten, bis es zum Äußersten gekommen ist. Viele beschweren sich ja darüber, dass das Klima sehr rau geworden ist und Beleidigungen an der Tagesordnung sind. Und das ist der Nährboden für spätere Grenzüberschreitungen. Wer pöbelt, hat danach eine geringere Schwelle, die Grenze zu überschreiten zum Schubsen oder Schlagen.
Warum werden die Regeln nicht konsequenter durchgesetzt?
Ein Grund ist, dass die Zuschauer nur mittelbar von den Verbänden belangt werden können. Wenn sie keine Vereinsmitglieder sind, kann der Verband sie auf persönlicher Ebene nicht bestrafen. Die Schiedsrichter verzichten dann auch immer wieder auf Meldungen von Fehlverhalten, weil sie sich denken: Es passiert ja eh nichts. Und die Verbände sagen: Wenn die Spielleiter es nicht melden, können wir erst recht nichts sanktionieren.
Das heißt, niemand macht einen Cut. Und das kann zu einer zunehmenden Verschlechterung des Klimas führen. Das muss man durchbrechen. Da sehe ich die Verbände und die Sportgerichte in der Pflicht. Bei Vorträgen sage ich den Schiedsrichtern immer: "Melden, melden, melden. Sonst kann sich an der Situation nichts ändern." Gleichzeitig ist die Politik gefragt, dass sie sich dem auch annimmt. Denn es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Shea Westhoff, rbb Sport.
Sendung: rbb24 Inforadio, 03.01.2022, 11:15 Uhr
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