Interview | Hardy Grüne über verschwundene Vereine
Hardy Grüne hat sich jahrelang mit dem Verschwinden von Traditionsvereinen beschäftigt. Im Interview spricht er über die Liebe zum Regionalfußball - und er erzählt, was er tat, als sein Lieblingsverein verschwand.
Berlins Fußballvereine haben (Negativ-)Rekorde aufgestellt, unzählige Profis hervorgebracht, für unvergessene Spiele gesorgt. Einige dieser Berliner Klubs existieren heute nicht mehr. rbb|24 stellt fünf dieser verschwundenen Vereine vor (bisher erschienen: Spandauer SV, SC Tegel, Wacker 04 Berlin). In dieser Sonderfolge der Serie spricht der Autor und Experte Hardy Grüne über Vereine, die es auf einmal nicht mehr gibt - und was ihr Verschwinden über den Fußball erzählt.
rbb|24: Herr Grüne, welchen Verein vermissen Sie schmerzlich?
Hardy Grüne: Den 1. SC Göttingen 05. Aber das ist nicht ihr Sendegebiet (lacht).
Warum Göttingen? Was ist da vorgefallen?
Das ist der Verein, mit dem ich groß geworden bin und dem ich auch drei Jahrzehnte lang gefolgt bin. Wir sind insolvent gegangen, haben uns neu gegründet in der achten Liga und sind dann wieder hoch gegangen in die fünfte. Daraufhin kam ein Investor, der uns viel Geld gegeben hat und uns den Weg bis ganz nach oben zusicherte. Das ging dann in die Hose.
In Göttingen gibt es jetzt zwei Mal den Verein "Göttingen 05". Und ich gehe zu keinem mehr hin und habe meinen Verein quasi verloren. Das ist meine direkteste Konfrontation mit diesem Verschwinden von Traditionsvereinen. Auch wenn es hier natürlich ein extremes Beispiel ist, weil der Klub nicht nur aus dem Fokus geraten, sondern wirklich komplett verschwunden ist.
Was macht ein Fan, wenn er nicht mehr zu seiner Mannschaft halten kann, weil es sie schlicht nicht mehr gibt - wie in Ihrem Fall Göttingen 05?
Also erstmal weint man. Das letzte Spiel war sehr emotional. Und dann ist da erstmal so eine Leere. Man ist es gewohnt, dass man jedes Wochenende auf den Platz geht. Und dann findet das plötzlich nicht mehr statt. Das hat auch seine Vorteile. Ich habe dann gemerkt, dass so ein Wochenende tatsächlich zwei Tage hat (lacht).
Ich hatte das Glück, dass ich eine Zeit lang in Frankreich und England gearbeitet und dort Verbindungen zu Vereinen aufgebaut habe. Die waren dann eine Art Ersatzliebe und ich habe mir dann deren Spiele mit Freunden angeschaut. Diese Gemeinschaft ist nämlich ein ganz wesentlicher Bestandteil des Fan-Daseins. Die Auswärtsfahrten als Gruppe, die Diskussionen rund ums Spiel. Das ist bei Göttingen natürlich weggefallen und das war auch schwierig. Jetzt ist aber schon so lange her, dass ich es gar nicht mehr so sehr vermisse. Mein Fokus auf Fußball hat sich ohnehin verändert. Momentan wird viel auf Einzelpersonen geschaut und es gibt überall Skandale und Korruption. Das ist nicht mehr mein Fußball.
Sie beschäftigen sich bereits seit Jahrzehnten mit Klubs, die einst schillerten und nun völlig verschwunden sind oder im Amateurbereich dümpeln. Woher kommt die Faszination?
Das hat denke ich auch etwas mit dem Alter zu tun. Ich bin Jahrgang 1962 und bin aufgewachsen mit einem Fußball, der räumlich ganz anders gestreut war. Im Westen, wo ich groß geworden bin, gab es die Bundesliga und darunter fünf Regionalligen. Das waren alles Vereine, die ständig im Fokus standen. Dadurch, dass ich mit meinem eigenen Verein Göttingen 05 meistens dritte Liga gespielt habe, war ich in diesem Bereich eher unterwegs. Die Bundesliga habe ich natürlich verfolgt, war aber nie Fan von einem Erstliga-Verein. Mich hat der regionale Fußball immer viel mehr fasziniert. Ich bin auch Sozialgeograf von Beruf. Der regionale Aspekt, also welche Strahlkraft ein Verein für eine Region haben kann, ist also auch beruflich gesehen ein spannender für mich.
Was unterscheidet hier aus ihrer Sicht regionale Vereine von den großen Klubs in der Welt?
Global wirksame Vereine wie Barcelona, Real Madrid oder PSG versuchen sich da leider ganz anders zu vermarkten. Die haben ihre eigene Modelinie. Gerade bei der jungen Generation kommt das alles super an. Es hat aber nichts zu tun mit dem Fußball, den ich liebe. Und durch die Verbindung mit der Vergangenheit kommt es vielleicht auch, dass ich versuche, das aufzuzeigen. Wir haben dafür eine Buchreihe veröffentlicht unter dem Titel "Zeitspiel Legenden". Dort geht es eben um Vereine, die nicht mehr im Fokus stehen und deren Geschichte. Denn es geht in der Geschichtsschreibung auch um Zusammenhänge und deutlich mehr als die Erzählung des 1:0.
Gibt es in der Region Berlin-Brandenburg besondere Ursachen für das Verschwinden?
Ich würde jetzt mal die Entwicklung vergleichen zwischen dem Ruhrgebiet der Siebzigerjahre und der DDR nach der Wende. Dort gab es eine Industriekultur, die die Region, die Menschen und eben auch die Fußballvereine geprägt hat. Fußball und Arbeiterkultur gehören nun mal einfach zusammen. In der DDR war das sehr ausgeprägt mit den Kombinaten. Im Ruhrpott waren es die Zechen, wo diese Kultur dann spätestens mit Beginn der Achtzigerjahre weggebrochen ist. Und wir haben hier eben vergleichbare Fälle. Vereine wie Westfalia Herne oder die SpVgg Erkenschwick sind auch komplett abgetaucht und haben große Schwierigkeiten, sich neu zu finden. Und in der DDR war es zum Beispiel Stahl Brandenburg nach dem Wegfall des Stahlwerks. Jetzt sind drei Jahrzehnte vergangen und man muss schauen, wohin die Reise geht. Man hat sich den alten Namen zurückgeholt, also wieder die alte Identität. Das sind spannende Prozesse.
Stahl Brandenburg hinterlässt noch Spuren. In der Stadt sieht man noch blau-weiße Graffitis. Welche Phase macht der Verein aktuell durch?
Die müssten jetzt in der sechsten Liga spielen. Es gibt auch noch einen zweiten Verein, Brandenburg Süd, der viele Jahre jetzt auch besser war. In der letzten Saison gab es auch mal wieder ein Derby mit richtig vielen Zuschauern. Da zeigt sich schon, dass Stahl Brandenburg da auch von seiner Tradition profitiert. Es ist ein schönes Beispiel dafür, welche Wirkung Traditionsvereine eigentlich haben. Denn von denjenigen, die heute bei Stahl Brandenburg in der Kurve stehen, werden ja nur die wenigsten die DDR noch selbst erlebt haben. Trotzdem verfolgen sie diesen Verein und bilden eine Fankultur drum herum.
Welches Klubsterben hat Sie besonders gewundert?
Es ist in der ehemaligen DDR schon eine besondere Situation, weil wir hier ein großes Bündel an Traditionsvereinen haben und im überregionalen Fußball gar nicht so viel Platz ist. Wir haben ja jetzt auch diesen leicht absurden Umstand, dass die führende Mannschaft Ostdeutschlands ein Verein ist, der mit der DDR wirklich gar nichts zu tun hat. Und eigentlich auch gar kein Verein ist, sondern ein Fußball spielendes Unternehmen.
Das und die Konstellation mit dem geringen Platz in den ersten drei Ligen führt dazu, dass wir in der Regionalliga Nordost einen starken Fundus an traditionsreichen Vereinen haben. Ich glaube, die meisten Vereine haben dort eine Rolle gefunden. Dass Vereine ganz verschwinden, ist ja dann doch eher selten wie zum Beispiel bei Stahl Brandenburg, Chemie Böhlen oder Vorwärts Frankfurt. Die wurden direkt nach der Wende weg fusioniert. Ansonsten haben sich die Vereine oft gehalten und auch gut entwickelt. Und das ist auch das, was spannend zu beobachten ist.
Mit wem sprechen Sie eigentlich, wenn Sie sich über nicht mehr existente Klubs informieren?
Das sind gerne mal Menschen, die als Fans zu den Vereinen hingegangen sind. Die sind eine wunderbare Quelle, weil sie viel aus dem Alltag erzählen. Die reinen Fakten kann ich ja selbst recherchieren. Aber ich verstehe die Geschichte meistens erst dann, wenn ich mit Menschen spreche, die sie erlebt haben. Eine andere Stufe sind ehemalige Funktionäre und Spieler. Das sind so meine Quellen.
Welche Geschichte erzählt es über den Fußball, wenn ein Verein verloren geht?
Es erzählt erstmal die Geschichte des Wandels. Fußball kam in Deutschland in den 1890er Jahren auf und hatte seinen Höhepunkt zunächst unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg. Dort hatten wir die höchsten Zuschauerzahlen. Fußball war auch einfach ein Produkt der industriellen Revolution. Ohne diese wäre er womöglich gar nicht gekommen. Jetzt in der Neuzeit haben wir das Internet und können Spiele aus aller Welt verfolgen. Wir sind viel globaler und mobiler geworden. Die kleinräumliche Bindung an unsere Heimat ist zwar eine romantische Vorstellung. Aber wir sind alle mittlerweile ja auch viel woanders unterwegs. Deswegen hat der Fußball vielleicht ein wenig seine Ankerfunktion verloren, die er ganz lange hatte. Er war eine Identifikationsfläche für die Heimat und das ist einfach weg.
Gibt es einen Klub, um den wir uns aktuell Sorgen machen müssen?
Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Aue. Da ist ein Stück weit etwas zusammengebrochen. Da muss man schauen, was passiert und ob sie dieses Jahr den Klassenerhalt schaffen. Oder ob sie dann in der Regionalliga Nordost landen, was eine schwierige Liga ist mit großen Namen, die wieder nach oben wollen. Dort gibt es auch diese schwierige Aufstiegssituation, dass der erste eben nicht direkt aufsteigt. Deswegen könnte das eine echte Nagelprobe werden für Aue.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Shea Westhoff, rbb Sport.
Sendung: rbb24, 3.1.2023, 18 Uhr
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