Union im Europa-League-Achtelfinale
Nach dem Einzug von Union Berlin in das Achtelfinale der Europa League stellt sich die Frage: Wie glücklich war der Sieg gegen Ajax Amsterdam? Klar ist: Mehrere Neuzugänge hatten großen Anteil. Von Till Oppermann
In Deutschland sind die Kirchen auf dem absteigenden Ast. Aber auch wenn immer weniger Menschen sonntags im Gottesdienst sitzen: Sobald Ereignisse unerklärlich werden, müssen oft weiter biblische Bezüge herhalten. Wer es nicht mit dem 1. FC Union Berlin hält, wird sich nach dem Sieg gegen Ajax Amsterdam vielleicht fragen, welchen Pakt mit dem Teufel die Eisernen eingegangen sind, dass sie es mittlerweile seit Jahren schaffen, vermeintlich stärkere Gegner zu schlagen. Wer den Sieg in Bierlaune in der Kneipe gefeiert hat, ist wahrscheinlich eher beim Partyschlager 'Mich hat ein Engel geküsst' gelandet. Beim 1. FC Union scheint das der Fall gewesen zu sein.
Denn wie Union nach einer dominanten Ajax-Hälfte mit einer 2:0-Führung in die Pause gehen konnte, wusste wahrscheinlich noch nicht einmal Trainer Urs Fischer. Er sagte nach dem Spiel im RTL-Interview lachend: "Wir hatten ganz, ganz, ganz viel Spielglück."
Zum Beispiel ab der 16. Spielminute: Nachdem die Gäste das Spiel mit hohem Tempo begonnen hatten, erkämpfte sich Union endlich eine Ecke. Josip Juranovic brachte den Ball etwas zu hoch in die Mitte, Danilho Doekhi gelang es nur mit Mühe, irgendwie zurück in die Minute zu köpfen. Aus kurzer Distanz traf er den weit abgespreizten Arm von Ajax-Verteidiger Calvin Bassey – den fälligen Elfmeter gab es aber erst einige Minuten später, nach Videobeweis. Robin Knoche schoss den Strafstoß halbhoch und relativ zentral. Ajax-Keeper Geronimo Rulli kam zwar dran, lenkte den Ball aber dann ins eigene Tor.
Noch kurioser war das zweite Tor der Gastgeber. Direkt, nachdem Ajax' vermeintlicher Ausgleich durch eine Abseitsstellung verhindert wurde, nahm sich Juranovic ein Herz und schoss mit seinem schwächeren linken Fuß aus der Distanz. Rulli rutschte der langsame Schuss unter der Hand durch und plötzlich stand es 2:0 für Union. Drei zu fünf Torabschlüsse, nur 67 Prozent erfolgreiche Pässe und 30 Prozent Ballbesitz: Ajax dominierte, Union führte.
Ohne diese Fügungen hätte der Spielstand wohl anders ausgesehen. Die jederzeit torgefährlichen Amsterdamer waren sich nach dem Spiel jedenfalls einig. Sowohl Kapitän Dusan Tadic als auch Davie Klaassen sagten: "Wir waren besser." Rein fußballerisch muss man das wohl so sehen. Allerdings konnten die Gäste ihre Stärken im Kombinationsspiel auch ausspielen, weil Union ungewohnt passiv agierte. Gerade in der ersten Halbzeit ließ die Fischer-Elf einige ihrer viel gelobten Stärken vermissen. "In der ersten Hälfte mussten wir leiden", analysierte der Trainer.
Selbst schuld. Die Berliner zogen sich unnötig tief in die eigene Hälfte zurück. Anstatt in der gewohnten 5-3-2-Staffelung konsequent gegen den Ball zu schieben, ließ sich die Mannschaft eher in eine 5-4-1-Formation fallen. Anstatt die Ajax-Verteidiger im Aufbau zu stören, mussten Sheraldo Becker und Kevin Behrens immer wieder im eigenen Strafraum aushelfen. In der Konsequenz hatten die Amsterdamer keine Mühe ins Angriffsdrittel zu spielen, genau die Zone, in der die Offensivkünstler um Tadic ihre Stärken auf engem Raum haben.
Unter der sehr defensiven Positionierung litt auch das Angriffsspiel. Man habe mit dem Ball zu viele Fehler gemacht, kritisierte Fischer zwar, aber seine Defensivtaktik machte es den Spielern nach Ballgewinn nicht leicht. Dadurch, dass Union noch tiefer verteidigte als sonst, waren lange Bälle oft das einzige Mittel. Kevin Behrens konnte diese selten kontrollieren. Auch, weil das Mittelfeld den weiten Weg aus der eigenen Hälfte zurücklegen musste, um Druck auf zweite Bälle auszuüben. Selten konnte Union den Ball in der ersten Halbzeit länger als drei Sekunden in der gegnerischen Hälfte halten, so gab es wenig Entlastung und viel Leid für die Spieler.
Den Ballverlust von Knoche vor dem Abseitstor von Kudus sollte man in diesem Kontext sehen. Auf der Suche nach Anspielstationen dribbelte der Innenverteidiger zu lange durch die Mitte, verlor dabei den Ball und fehlte dann hinten, als Ajax auf direktem Weg Richtung Unions Tor spielte. Erst als Ajax nach dem 3:1 noch offensiver spielte, kam Unions Angriff ins Rollen – immer wieder wurde der schnelle Becker geschickt.
Und trotzdem ist der historische Achtelfinaleinzug - über beide Spiele gesehen - verdient. Das hängt auch mit der Zusammenstellung der Mannschaft zusammen. Rechtsverteidiger Juranovic ist das beste Beispiel: Sein Tempo in der Offensive, sein Tor und auch seine Ecke vor dem 3:1 durch Doekhi beweisen seine Klasse in der Vorwärtsbewegung. Dass mit ihm, Aissa Laidouni und Jerome Roussillon alle drei Winterneuzugänge spielten und zu den Leistungsträgern gehörten, ist angesichts des hochgelobten Sport-Geschäftsführers Oliver Ruhnert keine Überraschung mehr.
Nimmt man den Torschützen Doekhi dazu, der im Sommer verpflichtet wurde, ist klar: Union ist in dieser Saison individuell nochmal deutlich besser besetzt als in der Vorsaison. "Man sieht einfach, dass wir uns Stück für Stück weiterentwickeln", erklärte Robin Knoche.
Siege wie der gegen Ajax sind längst nicht mehr so sensationell, wie sie sich anfühlen. Die Spiele von Union sind zwar optisch selten attraktiv, aber Fischer hat ein Team geformt, das jeden schlagen kann, wenn es den Prinzipien treu bleibt. Nach dem Spiel zählte er lobend auf: "Die Mannschaft hat Bereitschaft, Wille und Mentalität gezeigt." Und als es kurz nicht so lief, hat vielleicht auch ein Glücksengel Union geküsst. Der Verein sorgt im vierten Jahr als Bundesligist in ganz Europa für Aufsehen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 23.02.2023, 21 Uhr
Beitrag von Till Oppermann
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