Vor dem Europa-League-Duell
Der 1. FC Union steht vor einem der größten Spiele der Vereinsgeschichte. Im Europapokal geht es gegen Ajax Amsterdam. Der niederländische Rekordmeister prägte den modernen Fußball und ist ein selbsterhaltendes System. Von Till Oppermann
Der 1. FC Union Berlin mischt die Bundesliga weiter auf. Und auch international könnte der Höhenflug der Köpenicker weitergehen. Im K.o.-Runden-Playoff treffen die Eisernen am Donnerstag (Anstoß: 18:45 Uhr) zunächst auswärts auf Ajax Amsterdam.
Hier erfahren Sie, was Sie über Unions Gegner wissen sollten.
Ajax Amsterdam ist einer der bekanntesten Vereine der Welt. Den Grundstein für diese Berühmtheit legten die Niederländer in den frühen 1970er-Jahren. Trainer Rinus Michels prägte damals einen Fußball, den man als taktischen Ausgangspunkt für das moderne Spiel von heute sehen kann. Sein Superstar Johan Cruyff spielte im "totaalvoetbal" zwar nominell als Sturmspitze, tauchte aber sowohl mit als auch ohne Ball überall auf dem Spielfeld auf. In der Folge wechselten seine Mitspieler die Positionen, so dass jeder Raum im 4-3-3 beziehungsweise 1-3-3-3-System mit einem freien Libero hinter der Abwehr stehts besetzt war.
Zum Beispiel schalteten sich auch die Außenverteidiger in die Offensive ein. Defensiv setzte Trainer Michels auf die Raumdeckung, die Abseitsfalle und das Pressing. Was heute ganz normal ist, war damals noch revolutionär. Verteidiger Barry Hulshoff erklärte den totalen Fußball so: "Es ging um das Erzeugen von Geschwindigkeit, das Erreichen von Geschwindigkeit, das Organisieren von Geschwindigkeit – wie Architektur auf dem Fußballfeld." Ajax gewann mit diesem Fußball zwischen 1971 und 1973 dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister.
Im Mittelpunkt des totalen Fußballs stand Johan Cruyff, der bis heute wohl zu den besten Fußballern der Geschichte gehört. Kein Wunder, dass Ajax der Vereinslegende vor seinem Wechsel zum FC Barcelona 1978 ein Abschiedsspiel gönnen wollte. Als Gegner wurde der FC Bayern eingeladen – die andere dominante Vereinsmannschaft der 1970er-Jahre. Doch statt dem geplanten Fußballfest erlebte Ajax eine der größten Demütigungen der Vereinsgeschichte. Die Münchner fegten ihre niederländischen Kontrahenten mit 8:0 aus dem Stadion.
Der damalige Ajax-Spieler Simon Tahamata erinnerte sich: "Wir wollten eigentlich nur ein bisschen Fußball spielen, doch die Bayern waren regelrecht fanatisch." Den Grund kennt Bayern-Verteidiger Kurt Niedermayer. Die Mannschaft um Paul Breitner und Karl-Heinz Rummenigge habe sich gefühlt wie das fünfte Rad am Wagen, so Niedermayer. "Wir wurden am Flughafen nicht abgeholt und das Hotel erwies sich als eher zweitklassig."
Auf dem Weg auf den Platz wurden die deutschen Spieler dann angespuckt und als "Nazi-Schweine" beschimpft. Die Stars um Breitner und Gerd Müller nahmen ihre Rache auf dem Platz. Schon zur Pause stand es 3:0. Das versöhnliche Ende gab es Jahrzehnte später: 2006 entschuldige sich Rummenigge bei Cruyff für die "Beleidigung von 1978".
Es dauerte bis in diese Saison, bis Ajax eine ähnlich hohe Klatsche hinnehmen musste. In der Gruppenphase der Champions League verlor Ajax mit 1:6 gegen die SSC Neapel. Das ist die höchste Pflichtspiel-Heimniederlage der Vereinsgeschichte. "Das ist ein schmerzhafter Abend für jeden, dem Ajax am Herzen liegt", sagte Kapitän Dusan Tadic.
Tadic ist einer von wenigen Stammspielern, die schon in der Vorsaison dabei waren, als Ajax noch alle Gruppenspiele in der Champions League gewann. Antony, Noussair Mazraoui, Ryan Gravenberch, Sébastien Haller und die Weltmeister Nicolas Tagliafico und Lisandro Martínez haben Ajax verlassen. Trainer Erik ten Haag wechselte zu Manchester United. Sein Nachfolger Alfred Schreuder, der die Niederlage gegen Neapel zu verantworten hatte, ist mittlerweile gar nicht mehr im Amt.
Auch in der Liga waren die Ergebnisse zu schlecht, der Fußball zu bieder. Nach dem Trainerwechsel ist Ajax wieder in der Spur. Schreuders Nachfolger gewann drei Partien in der Eredivisie und das Pokalachtelfinale gegen Enschede. In Berlin ist er ein alter Bekannter: John Heitinga spielte 2014/15 für Hertha BSC.
Vereinsboss Edwin van der Sar sagte bei Heitingas Vorstellung: "Wir sind davon überzeugt, dass dies die richtige Lösung ist." Heitinga sei einen behutsamen und schrittweisen Weg gegangen, der es ihm ermöglicht habe, sich als Trainer sehr gut zu entwickeln. Vielleicht hat sein Ex-Verein Hertha noch eine Handynummer von Heitinga: Wie Edwin van der Sar steht er für das, was Hertha-Präsident Kay Bernstein sich unter einer Vereins-DNA vorstellt. Sowohl Heitinga als auch van der Sar haben für Ajax gespielt und wurden in der legendären Jugendabteilung des niederländischen Rekordmeisters ausgebildet.
Wenn es nur irgendwie geht, versucht Ajax auf allen Positionen im Klub ehemalige Spieler einzubinden. Heitinga trainierte in seiner Karriere bisher ausschließlich Mannschaften, die mit dem weiß-roten Ajax-Trikot auflaufen. Nach einer Zeit bei Ajax' U-21 als Co-Trainer übernahm er für vier Jahre die U-18 beziehungsweise U-19 des Vereins. Seit 2021 war er dann Chef bei der Zweitligamannschaft "Jong Ajax".
Die Ausbildung in der Ajax-Jugendabteilung gilt als eine der besten der Welt. Davon können sich Fans der Eisernen Woche für Woche überzeugen. Mit Danilho Doekhi und Sheraldo Becker spielten gleich zwei Union-Leistungsträger für Teams der Ajax-Akademie. Für die Auswahl der Talente hat Ajax ein spezielles Modell entwickelt: TIPS. Das steht für Technik, Intelligenz, Persönlichkeit und Schnelligkeit. "P und S sind im Allgemeinen angeborene Eigenschaften, aber I und T können immer weiterentwickelt werden", schreiben die Niederländer auf ihrer Website.
Ein besonderes Augenmerk gilt also der Entwicklung von Spielintelligenz, die es ermöglicht, sich blitzschnell an Situationen anzupassen und der Technik, um stets in der Lage zu sein, seine Ideen umzusetzen. Ajax möchte seine Spieler deshalb möglichst früh in die Jugendakademie aufnehmen. Dabei setzen die Niederländer auf Spieler aus der nahen Umgebung: Die Kinder sollen möglichst lange bei ihren Eltern in einer familiären Atmosphäre aufwachsen. Allein in der aktuellen Mannschaft der Amsterdamer stehen zehn Eigengewächse.
Sowohl Top-Torjäger Brian Brobbey als auch Defensiv-Jungstar Jurrien Timber sind Produkte der Akademie. Abgänge in die Top-Ligen kompensiert Ajax mit der Ausbildung neuer Talente, durch ehemalige Spieler: Ajax ist ein selbsterhaltendes System.
Sendung: rbb24, 15.02.2023, 18 Uhr
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