Hertha weiter sieglos
Hertha präsentiert sich bei der 0:3-Niederlage bei Eintracht Frankfurt in der ersten Halbzeit in einem erschreckenden Zustand. So erschreckend, dass Trainer Sandro Schwarz in der Pause viel korrigiert – und damit womöglich zu seinem Glück gezwungen wird. Von Marc Schwitzky
Als Sandro Schwarz im vergangenen Sommer als neuer Trainer von Hertha BSC vorgestellt wurde, nannte Fredi Bobic, damals noch Berlins Geschäftsführer Sport, auch dessen klare Spielphilosophie als Grund für die Verpflichtung. Schwarz würde für "aktiven und vorwärts gewandten Fußball" stehen. Tatsächlich schienen diese Worte für eine längere Zeit keine Phrasen zu sein, Hertha konnte in der Bundesliga-Hinrunde in einigen Partien mit mutigem, modernem Fußball überzeugen.
Die Ergebnisse blieben jedoch bekanntlich aus. Als dann auch die ersten Partien nach der langen WM-Pause teils desaströs verloren gingen, griffen alte Verhaltensmuster bei Hertha: Eine lähmende Verunsicherung machte sich bei den Berlinern breit, vorherige Stärken sind nicht mehr sichtbar, bekannte Schwächen umso mehr. Schwarz wurde als Überzeugungstäter geholt, seine Spielphilosophie sollte der bestimmende Rahmen für Hertha sein. Spätestens als Hertha am Samstagnachmittag gegen Eintracht Frankfurt zur Halbzeit verdient mit 0:2 zurücklag, wurde wohl auch Schwarz klar, dass der eingeschlagene Weg dem Pragmatismus weichen muss.
Die Erkenntnis, dass der bisherige Ansatz von Schwarz auch in Frankfurt keine Früchte tragen würde, reifte wohl schon nach wenigen Minuten. Es herrschte zwischen dem Relegationsteilnehmer Hertha und dem Europa-League-Sieger Frankfurt von Beginn an ein dramatischer Klassenunterschied. Die Eintracht überrollte Hertha regelrecht. Der Ball wurde von den Hausherren so schnell und so präzise nach vorne gespielt, dass die Blau-Weißen keinerlei Zugriff auf den Gegner bekamen und hilflos wirkten.
Hertha selbst war die Nervosität deutlich anzumerken, im eigenen Ballbesitz unterliefen dem Tabellenvorletzten teils unerklärliche Fehler, der Ball fand kaum einmal den Weg über die Mittellinie. Die stetigen Angriffswellen der Eintracht wurden oftmals nur in letzter Sekunde geklärt, da ein hohes Anlaufen oder eine gewisse Kompaktheit im Zentrum schlicht nicht existierten. Einmal an den Ball gekommen, war er sofort wieder weg, da Hertha die Idee nach vorne, die Laufbereitschaft und die Präzision nahezu gänzlich fehlten. So konnte keine Entlastung geschaffen werden.
Ein zweifach entwischter Randal Kolo Muani, den Hertha nicht in den Griff bekam, sorgte in der 21. und in der 28. Minute für den 2:0-Halbzeitstand. Auch in diesen beiden Szenen ging für die miserabel aufgelegten Berliner alles zu schnell.
Erneut sah sich Trainer Schwarz zur Halbzeitpause einem Scherbenhaufen gegenüber – absolut nichts hatte bis zu diesem Zeitpunkt funktioniert. Und erstmals entschied er sich nach 45 Minuten dazu, seinen gewählten Ansatz radikal umzuwerfen. Bereits innerhalb der ersten Halbzeit hatte Schwarz sein favorisiertes 4-3-3 aufgeben, da Hertha im Zentrum durchgängig überlaufen wurde, und die Formation auf ein 4-4-2 mit Mittelfeldraute umgestellt.
In der Halbzeitpause wich Schwarz dann mit dem 5-3-2 erstmals in seiner Hertha-Zeit auf ein System mit Dreierkette aus: Sein ersehnter mutiger Pressingfußball, den die Mannschaft aufgrund von Verunsicherung nun schon seit ein paar Spielen nicht mehr mit Leben füllt, machte Platz für einen deutlich defensiveren Ansatz. Hertha wollte defensiv die Frankfurter Formation spiegeln und das eigene Spiel breiter anlegen. Hierfür nahm Schwarz bereits zur Halbzeitpause drei Wechsel vor – ebenfalls ein Novum. Neuzugang Cigerci, Mittelstürmer Jessic Ngankam und Außenverteidiger Maximilian Mittelstädt kamen in die Partie.
Der neue Ansatz von Schwarz zeigte im zweiten Durchgang Wirkung. Hertha hatte defensiv besseren Zugriff auf Frankfurts Angreifer, es ergaben sich deutlich weniger brenzlige Situationen. Vor allem im Spiel mit dem Ball war eine klare Steigerung zu erkennen. Das lag zum einen daran, dass er Hertha mit einem zusätzlichen Abwehrspieler mehr Anspielstationen hatte und weniger leicht zu pressen war.
Zum anderen hatte aber auch Neuzugang Cigerci gehörigen Anteil an der besseren Ballzirkulation. Der 30-Jährige zeigte sofort, wofür er verpflichtet wurde: Er forderte stets den Ball, war immer anspielbar, spielte kluge Pässe und dirigierte seine Mitspieler. Cigercis Präsenz tat der Mannschaft sichtlich gut, die von dessen Vorgänger, Jean-Paul Boetius, nur zusätzlich verunsichert wurde. Im Vergleich zur ersten Halbzeit hatte Hertha sieben Prozent mehr Ballbesitz.
Aufgrund des ruhigeren Ballbesitzes erlang Herthas etwas mehr Selbstvertrauen, wodurch auch offensiv erstmals etwas Gefahr entstand. Der neue Mittelsturm aus Florian Niederlechner und Joker Ngankam, aber auch das zentrale Mittelfeld und die beiden Flügelspieler wirkten im zweiten Durchgang besser abgestimmt, wodurch sogar kleine Druckphasen entstanden – Hertha verzeichnete immerhin doppelt so viele Schüsse aufs Tor wie in Halbzeit eins. In der 62. Minute hätte Ngankam beinahe für den Anschlusstreffer gesorgt, doch sein Schuss wurde noch auf der Torlinie geklärt.
Herthas Steigerung sollte jedoch ertraglos bleiben. Frankfurt behielt der trotz Verbesserungen der "alten Dame" die Spielkontrolle und erzielte in der 94. Minute sogar noch das 3:0. Hertha BSC ist mit vier Pleiten in Folge und einem Torverhältnis von 1:13 katastrophal in das Jahr 2023 gestartet.
Nun mag Frankfurt aufgrund seiner Qualität nicht die richtige Messlatte sein, doch bleibt festzuhalten, dass Herthas erste Halbzeit einmal mehr eine riesige Enttäuschung darstellt. In dieser Form ist die Mannschaft nicht bundesligatauglich. Es ist erstaunlich, dass die Hertha-Spieler nach all den Jahren, Monaten und Wochen scheinbar immer noch nicht verstanden haben, was die Mindestanforderungen an ein Bundesliga-Spiel sind und es eine Systemumstellung sowie drei Wechsel brauchte, um ihnen den Kopf zu waschen.
Wobei genau diese Dinge wohl noch Hoffnung machen können. Trainer Schwarz scheint an dem notwendigen Punkt angekommen zu sein, dass sein bisheriger Ansatz nicht funktioniert und seine Spieler, vor die er sich Woche für Woche stellt, aus der Komfortzone geholt werden müssen.
Hertha kann sich mit 14 Punkten nach 19 Spielen den Luxus des Idealismus nicht mehr leisten und muss nun pragmatisch handeln. Das 5-3-2 schien Hertha Struktur zu verleihen und besser zum Kader zu passen. Ironischerweise waren es ganz nach dem von Präsident Kay Bernstein ausgerufenen "Hertha-Weg" vier gebürtige Berliner und ein Rückkehrer, die in der zweiten Halbzeit mit ihren Einwechslungen für das benötigte Feuer sorgten.
Doch immer, wenn bei der Hertha scheinbar verstanden wurde, was die Stunde geschlagen hat, scheint der Verein zur nächsten Enttäuschung auszuholen. Das kommende Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach wird zeigen, ob sich nun wirklich etwas bei den Berlinern verändert. Dann kann die Niederlage in Frankfurt eine wichtige gewesen sein.
Sendung: Inforadio, 04.02.2023, 15:30 Uhr
Artikel im mobilen Angebot lesen