Am 31. März 1993 zogen Herthas Amateure ins Pokalfinale ein. Die "Hertha-Bubis" waren der erste Drittligist, dem das Kunststück glückte. Wohl auch, weil das Team um Carsten Ramelow den Wettbewerb locker nahm. Von Shea Westhoff
"Locker". Den Begriff benutzt Carsten Ramelow während des Gesprächs über die Beinahe-Pokalsensation mit den Hertha-Amateuren immer wieder. "Wir waren total locker in jedem Spiel", sagt der 49-Jährige über die Spielzeit 1992/93, als die Mannschaft völlig überraschend ins DFB-Pokal-Finale vordringen konnte.
Ramelow war damals 19 Jahre alt, sein ältester Teamkollege 23. Als "Hertha-Bubis" gingen die Spieler in die Fußballgeschichte ein.
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Ramelow muss anfangs zuschauen
Lockerheit. Wahrscheinlich ist es ein Gefühl, nach dem sich auch der spätere Fußballstar Carsten Ramelow während seiner Profikarriere immer wieder zurückgesehnt hat. Er spielte im Finale der Champions League, im Finale der Weltmeisterschaft. Doch über die Saison mit den Hertha-Amateuren sagt er, es sei "mit die schönste Zeit" gewesen, "die ich erlebt habe im Fußball". Denn: "Alles war so unbefangen, so locker."
Die Heimspiele trugen die Nachwuchskicker auf einem Sportplatz an der Osloer Straße im Wedding aus. Zunächst schlugen sie die Amateure des SGK Heidelberg, eher wenig überraschend, mit 3:0. In der darauffolgenden Pokalrunde war der Gegner mit dem damaligen Zweitligisten VfB Leipzig schon namhafter. Auch hier ist Hertha II erfolgreich, gewinnt 4:2.
Ramelow selbst muss die Spielzeit weitgehend aussetzen, er hatte sich einen doppelten Fußbruch zugezogen – möglicherweise in Folge einer Überbelastung: Der aufstrebende Mittelfeldakteur spielte mit den Amateuren zum einen in der Oberliga und absolvierte zum anderen bereits Trainingseinheiten mit den Profis.
"Mischung aus Kämpfern und guten Fußballern"
Als Mannschaft hätten die Hertha-Amateure einfach gut funktioniert, sagt Ramelow heute. Den Kader der Bubis schätzt er aber keineswegs als amateurhaft ein. "Erfolg kommt nicht nur vom Teamgeist, sondern eine gewisse Qualität muss auch da sein."
Der ein oder andere schaffte es tatsächlich in höhere Gefilde. So zum Beispiel Torwart Christian Fiedler, der sich später auch bei den Profis der Hertha durchsetzen sollte. Abwehrspieler Oliver Schmidt gelang der Durchbruch im Profibereich ebenfalls, mit Stationen wie Greuther Fürth, dem FC Augsburg und nicht zuletzt Hertha.
Dessen Zwillingsbruder, Andreas Schmidt, blieb den Berlinern während seiner gesamten Fußballerkarriere treu, spielte mit Hertha sogar in der Champions League. Zum rbb sagt Andreas Schmidt: "Wir waren eine gute Mischung aus Kämpfern und guten Fußballern."
Kämpfer und guter Fußballer, beide Facetten vereinte Carsten Ramelow auf sich. Nachdem dieser allerdings verletzungsbedingt auch die Sensationssiege gegen Titelverteidiger Hannover 96 (4:3) und gegen den 1. FC Nürnberg um Keeper Andreas Köpke (2:1) nur als Zuschauer bezeugen konnte, mischte der Blondschopf im Halbfinale endlich aktiv mit. Und wie.
Die Bubis hatten die Hauptstadt längst in ihren Bann gezogen. So sollte die Halbfinalpartie am 31. März gegen den Chemnitzer FC im Olympiastadion stattfinden, vor 56.000 Zuschauern.
Bereits nach vier Minuten lässt Ramelow das Publikum mit seinem Treffer zum 1:0 ausrasten. "Sowas werde ich nie vergessen. Ich habe danach in meiner Karriere Champions-League- Finale spielen dürfen, WM-Finale, ich habe schon noch einiges erlebt. Aber ich kann mich da nur wiederholen: Die Amateurzeit bei Hertha war mit am schönsten gewesen." 2:1 gewann Hertha am Ende, zog ins Finale ein.
Mit Ghettoblaster in der Kabine oder auch mit regelmäßigen Ausflügen zum italienischen Stammrestaurant habe man in der Mannschaft einen Teamgeist geschaffen, der den entscheidenden Unterschied gemacht haben könnte.
Natürlich habe sich der öffentliche Fokus vor dem anstehenden DFB-Pokalfinale immer mehr auf die Mannschaft gerichtet, doch die Lockerheit im Team habe nicht nachgelassen, selbst auf dem Weg zum Finalspiel gegen Bayer Leverkusen: “Wir haben gesungen im Bus. Mit der Polizei-Eskorte wurden wir zum Stadion gefahren. Jede rote Ampel wurde bejubelt. Es war unglaublich schön. Das erfährst du nachher in der Bundesliga dann nicht mehr.”
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Passanten jubeln Amateuren zu
Die Mannschaft um Carsten Ramelow kämpft gegen die Stars aus Leverkusen, lange hält sie die Null. Doch in der 77. Minute erzielt Stürmer Ulf Kirsten das entscheidende Tor für den Favoriten. Ramelow sollte später jahrelang bei Bayer Leverkusen mit Kirsten zusammenspielen. "Er war für mich einer der besten Stürmer der 90er Jahre", sagt Ramelow.
"Man muss ehrlich sagen, die Leverkusener waren besser in dem Finale." Trotzdem waren Herthas Nachwuchsfußballer geknickt nach der Pleite im Endspiel. Doch viele Menschen in der Hauptstadt trösteten ihre Hertha-Bubis, jubelten den Kickern zu, als diese einen Autokorso bildeten.
"Die Leute standen an der Straße, obwohl das Wetter auch nicht so berauschend war", erinnert sich Ramelow. Und dann der schöne Satz, den man wohl sagt, wenn man Dinge einfach locker nimmt: "Wir haben genauso gefeiert, als hätten wir gewonnen"