Leistungsdruck im Nachwuchsfußball
Der Beruf des Profifußballers ist für viele Heranwachsende ein großer Traum. Wer den Weg einschlagen will, muss allerdings großem Leistungsdruck und mentaler Belastung standhalten. Im Nachwuchsfußball versucht man gegenzusteuern. Von Lukas Witte
Die Jugend von Leo-Jonathan Teßmann war geprägt von Erfolgen und großem Ehrgeiz. Bereits mit 15 Jahren machte er sein Abitur am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium in Berlin-Spandau. Direkt danach begann er ein Sportstudium an der Humboldt-Universität – und war zeitgleich auf dem besten Weg, Profifußballer zu werden. Während die ersten Seminare und Vorlesungen begannen, stand er mit Herthas U17 im Finale um die deutsche Meisterschaft.
Seit er sieben war, durchlief Teßmann die Jugendmannschaften des Berliner Bundesligisten, nahm an Lehrgängen der Nationalmannschaft teil und schnupperte an der Spitze. Er war lange Zeit Leistungsträger, Stammspieler und Kapitän seiner Mannschaft. Dann folgte der Sprung in die U19 - und plötzlich zerbrach der Traum in tausend Teile. "Da waren dann auf einmal Spieler, die besser waren als ich. Plötzlich saß ich nur noch auf der Bank, ohne eine realistische Chance, Einsätze zu haben. Das war ein ganz schöner Karriereknick, von dem ich mich nie wieder richtig erholt habe", erzählt Teßmann.
Um wieder mehr Spielzeit zu bekommen, versuchte er es mit einem Wechsel in die U23 von Hansa Rostock, musste aber auch dort feststellen, dass es trotz seines großen Ehrgeizes wohl niemals für den Profifußball reichen würde. Für den jungen Teßmann begann eine Identitätskrise. "Du hinterfragst plötzlich vieles. Wer bin ich eigentlich, wenn ich nicht mehr 'Leo der Fußballer' bin? Weil ich auch für alle in meinem privaten Umfeld immer derjenige war, der Fußballprofi wird."
So wie Teßmann ergeht es vielen jungen Talenten. Nur ein bis sechs Prozent der Spieler eines Jahrgangs schaffen es in die 1. oder 2. Bundesliga. Der Leistungsdruck an den Nachwuchsleistungszentren ist deshalb extrem hoch und die Jugendlichen müssen für ihren Traum viel opfern. Trotzdem zerplatzt er für die allermeisten von ihnen. Das sei eine enorme mentale Herausforderung für die Betroffenen, erklärt Moritz Anderten vom psychologischen Institut der Sporthochschule Köln. "Sie müssen in der Schule und im Sport ihre Leistungen bringen. Viele sind ja auch auf einem Internat und verlassen deshalb frühzeitig ihr Elternhaus, was eine weitere Belastung sein kann."
Das Problem der mentalen Belastung hat auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB) erkannt. Seit 2018 verpflichtet er die zertifizierten Nachwuchsleistungszentren (NLZ) dazu, mit Sportpsychologen zusammenarbeiten. Auch Moritz Anderten praktiziert in dieser Rolle für das NLZ des 1. FC Köln und weiß, wie wichtig das Angebot ist. "Aus meiner persönlichen Betreuungserfahrung heraus würde ich sagen, dass im Grunde jeder Spieler im Laufe seiner Fußballerkarriere immer wieder mit sehr belastenden Situationen konfrontiert ist und Unterstützung benötigt", sagt er.
Dabei ist es nicht immer leicht, die Folgen der Belastung zu benennen und zu erkennen. Aktuelle Studien [dw.com] zeigen, dass etwa fünf Prozent der Spitzensportler in Deutschland von Depressionen betroffen sind. Das entspricht ungefähr dem Abbild der Normalbevölkerung. Die mentale Belastung des Profisports macht es also nicht wahrscheinlicher, an einer Depression zu erkranken.
Doch alle anderen psychischen Probleme, die unterhalb des Krankheitsbildes einer Depression liegen, seien nur schwer zu erfassen, sagt Anderten. "Es gibt gerade im Männerfußball immer noch eine relativ große Scheu, sich anzuvertrauen und sich einzugestehen, dass einem etwas zu viel ist. Das System ist auf Stärke ausgelegt." Rückzug, Trauer und Nervosität, aber auch Hautausschlag und Schlafprobleme seien mögliche Indizien, auf welche die Sportpsychologen achten, wenn die Spieler nicht von allein Hilfe suchen.
Um Probleme frühzeitig zu erkennen, müssen die Jugendlichen also eng begleitet werden. Und auch die Schweigepflicht der Sportpsychologen ist enorm wichtig, um der Scheu entgegenzuwirken. "Spieler können unsere psychologischen Angebote wahrnehmen, ohne dass es jemand mitbekommt", erklärt Pablo Thiam, Leiter der Akademie von Hertha BSC. Auch bei dem Berliner Bundesligisten ist das Thema mentale Gesundheit längst angekommen. Zwei Sportpsychologinnen und mehrere Pädagogen arbeiten eng mit den Spielern zusammen. "Die Angebote werden sehr stark genutzt und wir denken derzeit darüber nach, sogar noch eine weitere Psychologin oder einen weiteren Psychologen hinzuzuziehen", sagt Thiam.
Damit die vielen Talente, die es am Ende nicht in den Profibereich schaffen, nicht ihre ganze Jugend dem Fußball widmen und dann mit leeren Händen dastehen, wird bei Hertha außerdem großer Wert auf die schulische Ausbildung gelegt. Die Poelchau-Oberschule liegt direkt neben den Trainingsplätzen im Olympiapark und wird von den meisten jungen Herthanern besucht. "Die Spieler sollen mindestens ein Fach-Abi machen, viele machen aber auch Abitur. Zusätzlich gibt es bei den Jüngeren eine Nachmittagsbetreuung und eine verpflichtende Hausaufgabenbetreuung", erklärt Thiam.
Problematisch würde es für die später aussortierten Jugendlichen vor allem dann werden, wenn andere Partien mit ins Spiel kommen würden. "Gerade bei den Spielern, die denken, das Potential zu etwas Größerem zu haben, spielen die Eltern und Berater eine sehr große Rolle", sagt der Akademieleiter. Getrieben von Druck von außen setzen die Jugendlichen dann alles auf eine Karte. "Wir können unser Konzept nur darlegen und einen Weg aufzeigen. Schwierig wird es, wenn ich zum Beispiel das schulische Angebot ausschlage, das wir hier haben, und dann nicht zu den drei oder vier Prozent gehöre, die es am Ende schaffen", sagt Thiam.
Der Fußball-Landesverband Brandenburg setzt deshalb früher an, um die Erwartungshaltung der Eltern zu steuern. Schon bevor es ein Kind auf eine der ausgezeichneten Brandenburger Sportschulen in Cottbus oder Frankfurt schafft, soll nach Möglichkeit über die Vereine und Trainer das Gespräch mit den Angehörigen gesucht werden.
"Die Eltern sehen, dass das Kind Talent hat und haben dann den unbedingten Wunsch, dass es Profi wird und auf eine Sportschule geht. Sie wissen aber meist gar nicht, was das für ihr Kind bedeutet", erklärt Matthias Reer, der Vorsitzende des Verbandsjugendausschusses des Fußball-Landesverbands Brandenburg (FLB). "Das gilt es in den Vereinen abzufangen und abzufedern." Hier seien vor allem die Trainer gefragt. Daher sei das richtige Führen von Elterngesprächen inzwischen Teil der Trainerlizenz-Ausbildung des FLB. Außerdem gibt es Vereinsberater des Verbands, die zu den Klubs fahren und sie bei Problemen unterstützen.
Nur im Zusammenspiel aller Beteiligten sei es möglich, den Leistungsdruck möglichst gering zu halten, sagt Reer. "Das Thema mentale Gesundheit gewinnt immer mehr an Bedeutung, weil es den Druck in der Schule gibt, seitens der Eltern und auf dem Platz. Das Hobby sollte aber eigentlich ein Ventil sein, um über sportliche Bewegung Freizeit zu haben."
Als Leo-Jonathan Teßmann seine Karriere beendete, gab es vieler dieser Maßnahmen noch nicht. Die Erfahrungen, die er im Jugendfußball gemacht hat, haben eine große Leidenschaft für das Thema bei ihm hinterlassen. Gemeinsam mit Jugendtrainer Gora Sen hat der heute 26-Jährige das Buch "Denkfabrik Nachwuchsfußball" geschrieben, dass sich mit den Problemen der Fußball-Ausbildung in Deutschland beschäftigt. Auch Druck und mentale Gesundheit werden darin als Faktor beleuchtet.
Die beiden glauben, dass vor allem die Zielformulierung der NLZs angepasst werden muss. "In den meisten Vereinen ist immer noch die Ausbildung von Fußballprofis das einzige Ziel. Aber wenn das so ist, dann scheitern wir jeden Tag. Denn was passiert mit den 97 Prozent, die es nicht schaffen?", fragt sich Teßmann. Seiner Meinung nach bräuchte es mehr als nur Sportpsychologen und Unterstützung in der Schule. Er kritisiert das gesamte Umfeld der Nachwuchsleistungszentren, das sich voll auf die Leistung auf dem Rasen fokussiert.
"Um den Druck abzufedern, werden die Spieler bemuttert und ihre ganze Anpassungsfähigkeit abtrainiert. Sie können nicht Kochen, Wäsche waschen oder das Bett machen, werden gefahren und alles um sie herum wird organisiert", erklärt er. Das würde die vielen jungen Spieler, die an den NLZs aussortiert werden, dann zurück im normalen Leben vor große Probleme stellen. "Erst wenn wir uns darüber bewusstwerden, dass wir uns um den Menschen kümmern und es in erster Linie nicht nur darum gehen kann, Profis auszubilden, sondern auch Mitglieder der Gesellschaft, dann kann sich vieles ändern", sagt Teßmann.
Beitrag von Lukas Witte
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