Nach 2:5-Niederlage in Köln
Hertha BSC hat eine deutliche Niederlage beim 1. FC Köln kassiert und dabei all die Argumente für einen verdienten Bundesliga-Abstieg aufs Feld geführt. Nach einer kläglichen Leistung bräuchte es ein blau-weißes Wunder, um die Klasse noch zu halten. Von Marc Schwitzky
Wenn es eigentlich nicht mehr schlimmer kommen kann, die Emotionen am Boden liegen, dann kann nur die Häme die Wunde noch weiter aufreißen. Nach dem Schlusspfiff in Köln-Müngersdorf, als Mannschaft und Fans von Hertha BSC mit der bitteren Realität des drohenden Abstiegs so hart wie noch nie konfrontiert werden, singen und hüpfen die Köln-Anhänger ausgelassen. "Hey, das geht ab! Die Hertha steigt endlich ab. Steigt endlich ab", schallt aus der Fankurve des Effzeh, die den Liedtext der Atzen spontan umgedichtet haben. Ein Spottgesang.
Eine Hommage an das Jahr 2009, als Hertha unter Trainer Lucien Favre beinahe die Meisterschaft gelang. Als die Stimmung bei der "alten Dame" ein Rekordhoch erreichte. Als die Atzen in der Kurve standen und ihren Erfolgshit in "Hey, das geht ab! Wir holen die Meisterschaft!" umdichteten. Als ein Haufen von No Names zu kleinen Legenden aufstieg. Es wirkt wie aus einem anderen Jahrhundert.
Nun könnten Spieler, die eingekauft wurden, um zu Legenden aufzusteigen, mit dem bevorstehenden Abstieg zu No Names werden.
In Berlin kennt man sich mit Cocktails bestens aus. Doch niemand vermag solch einen tollkühnen Mix anzubieten wie Hertha BSC. Die in den letzten Jahren zusammengetragenen Zutaten für den drohenden Abstieg, sie sind so spektakulär wie bitter. Am Freitagabend um 20:38 Uhr ist eine weitere Geschmacksnote hinzugekommen, als ausgerechnet – oder eher natürlich – Davie Selke die Kölner nach einer hohen Hereingabe in Führung brachte.
Der Davie Selke, der im vergangenen Winter noch von der Spree an den Rhein wechselte. Ohne Ablöse, Hauptsache die klamme Hertha spart einen Teil des viel zu groß geratenen Gehalts. Nach nur einem Tor in der Hinrunde hatte der damalige Manager Fredi Bobic keine Verwendung mehr für den 28-Jährigen. "In Berlin wollte man ihn loswerden, das muss man so deutlich sagen", sagte Köln Trainer Steffen Baumgart vor dem Spiel.
Das Tor gegen die Berliner war übrigens Selkes fünftes für seinen neuen Arbeitgeber – bis auf Dodi Lukebakio und Marco Richter hat niemand bei Hertha so viele Tore in der gesamten(!) Saison erzielt, Selke brauchte hingegen nur 15 Spiele für diese Ausbeute. Weil er Vertrauen spürt, weil er in einer funktionierenden Mannschaft mit klarem Spielplan spielt – all das, was er und viele andere in Berlin nicht hatten oder haben. Ein symbolisches Gegentor.
Es muss einiges vorfallen, damit ein Trainer höchst selbst die Mentalitäts-Debatte anstößt. Normalerweise sträuben sich die Übungsleiter dagegen und fauchen jeden an, der es wagt, das Thema anzusprechen. Pal Dardai blieb nach der 2:5-Niederlage am Freitag aber kaum etwas anderes übrig. "Wir wussten, was die Stärken sind von Köln und auch, was wir dagegen machen müssen - und dann haben wir es nicht hinbekommen", so der Ungar. "Das sind einfache Sachen: Wie ich anlaufe, mit Tempo, mit welchem Tempo, mit welchem Willen - wenn ich nicht bereit bin, mit vollem Tempo anzulaufen, dann haben wir ein Mentalitäts-Problem."
Hertha war am 32. Spieltag zu keinem Zeitpunkt wirklich bereit für ein Fußballspiel auf Bundesliga-Niveau. In eigentlich jeder Disziplin waren die blau-weißen Hüllen von Profi-Fußballern unterlegen, teilweise wurden sie regelrecht vorgeführt. "Jedes Mal beim Konter sind wir viel zu langsam. Das ist eine so eingekaufte Mannschaft, wenn die Kölner Tempo gemacht haben, haben wir riesige Defizite", holte Dardai zum Rundumschlag aus.
Hertha stand gegen Köln unter Dauerbeschuss: 9 zu 31 Schüsse, 3 zu 16 davon direkt aufs Tor. Von der ersten bis zu letzten Minute war es ein Klassenunterschied. "Mit diesen Werten kommst du in der Bundesliga nicht weit. So müssen wir nicht mehr von Hoffnung reden, das bringt nichts", wurde Dardai deutlich. Obwohl von Beginn an klar war, wie der 1. FC Köln zu Toren kommen wollte – Dreiecksbildung auf den Außen, um den Raum für Flanken in den Strafraum zu öffnen – wurde Hertha regelrecht überrollt. Fünf Gegentore waren eigentlich noch zu wenig. Es war den elf Paraden von Torhüter Oliver Christensen, dem Aluminium und der fehlenden Abschlussstärke der Domstädter zu verdanken, dass die Berliner nicht noch weitaus mehr Treffer kassierten. Es wäre verdient gewesen.
Es waren die immer gleichen Angriffsmuster Kölns, die Hertha aufgrund fehlender Absprache, taktischer Disziplin und Handlungsschnelligkeit Angriffswelle nach Angriffswelle aufrieben. Keine Ordnung, kein Zugriff. Dass die Gäste aus der Hauptstadt lediglich mit 2:3 in die Halbzeitpause gingen, hing auch mit der individuellen Qualität Lukebakios und Stevan Jovetics zusammen. Die beiden Offensivspezialisten hielten Hertha im Spiel. Jovetics genialer Pass auf Marco Richter leitete den Ausgleichstreffer von Lucas Tousart in der 18. Minute ein. Lukebakio erlief in der 33. Minute einen langen Ball, legte für Jovetic auf, der trocken zum zwischenzeitlichen 2:1 einschob.
Tore aus dem Nichts, die einerseits die offensiven Möglichkeiten des Kaders aufzeigten, durch den Mangel an weiteren Gelegenheiten andererseits offenbarten, wie wenig systematisch Herthas Offensivbemühungen sind. Ohne Geistesblitz keine Torgefahr. Gegner Köln war das Paradebeispiel dafür, wie durch klare Abläufe jeder Spieler offensiv entscheidend sein kann.
Die zweite Halbzeit kam einem Offenbarungseid gleich. Dardai war es in der Halbzeitansprache nicht gelungen, in die völlig verunsicherten Köpfe seiner Spieler zu kommen, denn auch danach verteidigte Hertha vogelwild und offensiv gelang den Berlinern noch weniger als im ersten Durchgang. Spätestens mit dem 2:4 in der 69. Minute – abermals eine kaum verteidigte Hereingabe – hatte Köln den berühmten Stecker gezogen. Die nahezu feststehende Niederlage und der damit näher rückende Abstieg hatte Hertha die Kraft genommen. Es stemmte sich nur noch Schlussmann Christensen gegen ein noch dramatischeres Ergebnis. Doch auch er konnte den Treffer zum 2:5-Endstand – natürlich nach einer Flanke – nicht verhindern. Die einzige Reaktion der Spieler mündete in Frustfouls und gelben Karten.
Die erschreckende Niederlage in Köln war der letzte Beweis dafür, dass Hertha mit der Aufgabe, gegen einen stabilen Bundesligisten defensiv sicher und gleichzeitig offensiv gefährlich zu spielen, grenzenlos überfordert ist. Gegen den FC Bayern funktionierte die Abwehr, da sich Hertha einzig und allein darauf konzentrieren durfte. Gegen den VfB Stuttgart sorgten zwei Standardtore für einen dankbaren Spielverlauf. Gegen Köln aber hätte Hertha echte Widerstände überwinden müssen – dazu war diese schief zusammengestellte, qualitativ heruntergewirtschaftete und mental komplett zerrüttete Mannschaft schlicht nicht in der Lage. Das kann auch Pal Dardai nicht mehr reparieren.
So ist die Lage zwei Spiele vor Saisonende nahezu aussichtslos. Hertha müsste sowohl gegen den VfL Bochum als auch VfL Wolfsburg gewinnen, um eine minimale Restchance auf den Klassenerhalt oder zumindest Relegation zu behalten. Dafür dürften Bochum und der VfB Stutgart allerdings jeweils kein Spiel mehr gewinnen. Die Fehler der vergangenen Jahre stauen sich auf und drücken allmählich durch die Tür, gegen die sich Hertha verzweifelt wirft. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Aber sie stirbt.
Sendung: rbbUM6, 13.05.2023, 18 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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