Chronik des Hertha-Abstiegs
Nun ist es offiziell: Hertha BSC ist aus der Bundesliga abgestiegen. Die Berliner haben abermals eine rekordverdächtig chaotische Saison hinter sich. Dabei spielten Faktoren auf und neben dem Platz eine Rolle. Die Chronik des Absturzes. Von Marc Schwitzky
"Jetzt wartet die größte Aufgabe meines Lebens", sagte Kay Bernstein am 26. Juni 2022 - kurz nachdem er zum neuen Präsidenten von Hertha BSC gewählt worden war. Der 42-Jährige konnte damals kaum ahnen, wie viel Wahrheitsgehalt in dieser Prognose stecken würde. Mit ihm sollte - so das formulierte Ziel - alles anders, alles besser werden. Er hatte sich dafür eingesetzt, dass Hertha im neuen Gewand zu alten Wurzeln findet - und sich im Wahlkampf damit gegen Frank Steffel durchgesetzt. Hinaus aus der Ära Werner Gegenbauer, hinein in den Aufbruch.
Knapp drei Wochen zuvor - nur kurze Zeit nach der gewonnenen Relegation gegen den HSV - war Sandro Schwarz von Fredi Bobic zum neuen Cheftrainer der "alten Dame" ernannt worden. Auch der 44-Jährige stand für einen Neuanfang. Schwarz, so sagte Bobic, der damals noch als Geschäftsführer die sportlichen Geschicke verantwortlich war, würde "neben den fachlichen Qualitäten auch Begeisterungsfähigkeit, Leidenschaft und Emotionalität" mitbringen und so eine neue Euphorie in Berlin entfachen können.
Zunächst hatte Bobic jedoch einen erneuten Kaderumbruch zu bewerkstelligen. Ein finanziell und personell aufgeblähter Kader wollte ausgedünnt und in eine klare sportliche Richtung gelenkt werden. Ganze 30 Personalentscheidungen traf Bobic in den 100 Tagen nach der Relegation - 19 Abgänge, neun Neuzugänge und zwei Vertragsverlängerungen. Die Transfers machten damals ein recht stimmiges Bild, doch es war klar, dass die Etablierung einer neuen Achse Zeit brauchen würde.
Und so startete Trainer Schwarz nach einer von den vielen (späten) Kaderbewegungen etwas unruhigen Vorbereitung denkbar schlecht in die Saison 2022/23. Hertha schied in der 1. Runde des DFB-Pokals gegen Zweitliga-Aufsteiger Braunschweig aus und verlor drei der ersten vier Ligaspiele, darunter das Stadtderby. Ansätze des aggressiven Gegenpressing-Fußballs von Schwarz waren jedoch deutlich zu erkennen und schwächten die Kritik durch unterhaltsame Spiele zunächst ab - zumal das Auftaktprogramm denkbar schwer ausfiel.
Vom fünften bis neunten Spieltag verlor Hertha nicht ein Spiel, konnte jedoch auch nur eins gewinnen. Die Berliner belohnten sich für couragierte und fußballerisch sehr ansprechende Auftritte zu selten, oftmals verhinderten späte Gegentore eigentlich verdiente Siege.
Doch Hertha-typisch nahmen nun auch Ereignisse außerhalb des Platzes Einfluss auf die Saison. Ende September 2022 berichtete die Financial Times, Investor Lars Windhorst habe den ehemaligen Vereinspräsidenten Gegenbauer von einer israelischen Wirtschaftsdetektei ausspionieren lassen. Darüber hinaus sei versucht worden, durch gezielte Social-Media-Kampagnen, Fake-Accounts und herablassende Karikaturen bewusst Hertha-Fans Gegenbauer-kritisch zu manipulieren. Der Geschichte wurde nur öffentlich, weil Windhorst dem Unternehmen Shibumi Strategy Limited dem Vernehmen nach Geld schuldete - und der Fall kurzzeitig vor Gericht landete. Eine anwaltliche Prüfung von Hertha BSC bekräftigte später den Spionage-Vorwurf.
Nachdem die Verantwortlichen von Hertha eine Erklärung von Windhorst eingefordert hatten, erklärte dieser öffentlich, die Zusammenarbeit beenden und seine Anteile verkaufen zu wollen. Relativ schnell kam daraufhin das US-amerikanische Unternehmen 777 Partners als möglicher Abnehmer ins Spiel.
Nachdem zunächst nur die Ergebnisse ausblieben, brach später auch die Leistung der Mannschaft ein: Nach dem 2:2-Unentschieden gegen Freiburg am neunten Spieltag gewannen die Blau-Weißen bis zur WM-Unterbrechung nur zwei von sechs Spielen, der Rest ging verloren. Nach 15 Spielen belegte Hertha mit nur 14 Punkten Rang 15. Der Verein zeigte sich bis dahin jedoch nicht besorgt, das Vertrauen in Trainer Schwarz war aufgrund der größtenteils ordentlichen Auftritte noch vorhanden.
Bobic ließ hierbei keine Diskussion zu, machte bei sich selbst jedoch eine auf. Im Winter berichteten gleich mehrere Medien darüber, der DFB habe Bobic für die Nachfolge von Sportdirektor Oliver Bierhoff als Wunschkandidat im Auge. Bobic vermied es damals, sich öffentlich klar zu Hertha zu bekennen. Das Thema schwelte lange, letztendlich soll sich der Verband jedoch aus Kostengründen gegen Bobic entschieden haben. Das Verhältnis von Bobic und Präsident Bernstein litt in jener Zeit jedoch massiv.
Nachdem der Start ins neue Jahr mit drei deutlichen Niederlagen sportlich misslang, trennte sich Hertha von Bobic. Nach eineinhalb Jahren war Ende Januar 2023 Schluss. Vor allem Bobics schwache Transfer- und Trainerbilanz, sein Auftreten nach innen und außen und die unterschiedliche Auffassung der Vereinszukunft führten zu jener Entscheidung, die aktuell noch ein Gerichtsverfahren nach sich zieht.
Mit der Trennung von Bobic wollte sich Hertha unter Bernstein auf die neue alte Identität besinnen. Mit Sportdirektor Benjamin Weber und Leiter des Lizenzspielerbereichs Andreas "Zecke" Neuendorf kehrten bekannte Gesichter in den Verein zurück. Es wurde der "Hertha-Weg" ausgerufen: ein Weg der wirtschaftlichen Konsolidierung, stärkeren Einbindung der Akademie und von Verantwortlichen, die "für den Verein und die Aufgabe brennen".
Dass Hertha ab diesem Zeitpunkt wieder kleinere Schrippen backen will, liegt auch an der wirtschaftlichen Schieflage. Die vergangenen Jahre, in denen der Verein deutlich über seine Verhältnisse gelebt hatte, hatten ein dramatisch großes Loch in die Finanzen gerissen. Der im März veröffentlichte Finanzbericht alarmierte - das Geld war weg, Rücklagen keine mehr da. Zur rechten Zeit gab Hertha am 11. März bekannt, 777 Partners übernehme die Anteile der Tennor Holding und stocke sie für weitere 100 Millionen Euro auf 78,8 Prozent auf. "Ein guter Tag für Hertha BSC" und die "Beerdigung des Big City Club" laut Präsident Bernstein.
Es sollten - bis auf die Verkündung der Hertha-Frauenabteilung am 6. April - jedoch wenig gute Tage folgen. Mit zwischenzeitlich sieben Punkten aus drei Heimspielen konnte die Mannschaft die sportliche Krise zu Jahresbeginn zwar etwas abfedern, die taktischen Umstellungen von Schwarz brachten jedoch keine nachhaltige Verbesserung.
Nach der 2:5-Niederlage gegen Schalke 04 und insgesamt 28 Spieltagen - Hertha war nun mit 22 Punkten Tabellenletzter - trennte sich der Verein von Schwarz. Ihm war es nicht gelungen, die Mannschaft über Ansätze hinaus weiterzuentwickeln. Zuvor mussten bereits Kaderplaner Dirk Dufner und Chefscout Babacar Wane ihren Posten räumen - ein weiteres Zeichen für die verfehlte Kaderplanung unter Bobic und den angestrebten Sparkurs.
Pal Dardai kehrte am 16. April einmal mehr als Cheftrainer zurück, sechs Spiele blieben dem Ungarn zur Rettung des Hauptstadtklubs. Wirkte Dardai zunächst noch gelassen, zog er nach der deutlichen Auftaktniederlage andere Saiten auf. Als Spieler Ivan Sunjic mit Disziplinlosigkeiten beim Training auffiel, schickte ihn Dardai mit den Worten "Was denkst du hier? Geh weg! Tschüss. Verpiss dich!" in die Kabine. Sunjic wurde anschließend suspendiert. Jene disziplinarische Maßnahme sollte zunächst Wirkung zeigen: Eine aufgrund der Leistung annehmbare Niederlage gegen Bayern München und der so wichtige Sieg gegen Konkurrent Stuttgart sorgten für etwas Hoffnung an der Hanns-Braun-Straße.
Doch auch das klitzekleine Zwischenhoch half nicht mehr. Mit der abermals derben 2:5-Pleite gegen den 1. FC Köln brachte Hertha bei noch zwei auszuspielenden Partien fünf Punkte zwischen sich und den Relegationsrang. Ein Medienbericht über den drohenden Lizenzverlust Herthas und das lautstarke Hinwerfen von Präsidiumsmitglied Ingmar Pering trugen erheblich zur Unruhe im Verein bei. Das Spiel gegen Bochum passte schließlich ans Ende dieser total verkorksten Saison. Noch einmal gab es - kaum noch erwartete - Hoffnung. Bis in die dritte Minute der Nachspielzeit. Um dann doch auf bitterste Weise den endgültigen K.o. zu erleben.
Die anfängliche Aufbruchsstimmung unter Bernstein und Schwarz, einer der höchsten Zuschauerschnitte der Vereinshistorie und ein sichtliches aufeinander zugehen von Verein und Fans sollten nichts bringen. Die sportlichen und wirtschaftlichen Verfehlungen der vergangenen Jahre sowie die erneuten Unruhen der laufenden Saison lasteten zu stark auf Hertha BSC. Eine schief zusammengestellte, qualitativ heruntergewirtschaftete und führungslose Mannschaft konnte sich letztendlich nicht mehr dagegenstemmen. Der erste Bundesliga-Abstieg seit 2012 ist die logische Konsequenz.
Sendung: rbb Spezial 'Hertha BSC steigt ab', 20.05.2023, 20:15 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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