Hertha vor Spiel in Köln
Hertha BSC ist Tabellenletzter. Und einmal mehr macht die katastrophale wirtschaftliche Lage des Vereins die Runde. Zumindest sportlich will Hertha am Freitagabend in Köln Hoffnung schüren. Von Dennis Wiese
Wie tief ist der Abgrund, in den Hertha BSC blickt - und zwar sportlich und wirtschaftlich? In diesen Tagen wird genau das wieder eifrig diskutiert. Im Auswärtsspiel in Köln (Freitag, 20:30 Uhr) würde die Mannschaft von Trainer Pal Dardai zu gerne da anknüpfen, wo sie mit dem emotionalen und eminent wichtigen 2:1-Sieg gegen Stuttgart aufgehört hat.
Dass die über Monate verunsicherte und desolate Mannschaft der Rechnung ihres Trainers folgt ("Vier Spiele, vier Siege") und mal eben so den nächsten Dreier aus dem Hut zaubern kann, muss sie erst noch beweisen.
Bei der Spieltagspressekonferenz am Mittwochmittag beschrieb Dardai, wie er seine Hertha wahrnimmt: "Geld haben wir nicht, aber Herz. Und zwar eine Menge. Das haben wir gegen Stuttgart gezeigt. Ich muss die Jungs wirklich loben. In den ersten zehn Tagen noch nicht, aber jetzt haben wir eine ganz andere Arbeitsatmosphäre: Jeder ist sehr konzentriert. Das ist schön."
Zur sportlich prekären Lage kommt die finanzielle: Bei der bevorstehenden Mitgliederversammlung (Sonntag, 14.05.) dürften dunkle Wolken über dem Messegelände aufziehen. Der Artikel der "Süddeutschen Zeitung" [sueddeutsche.de] hat zu Wochenbeginn Horrorszenarien in Sachen Lizensierungsverfahren skizziert. Schlagworte wie "Lizenzentzug" und "Neustart in der Regionalliga" machen seitdem die Runde. Einmal mehr wird es sehr spannend bei Hertha BSC.
...hat einen schlaksigen, stark tätowierten alten Bekannten in seinen Reihen: Davie Selke. Vier Jahre lang rannte, kämpfte, ruderte der im Hertha-Trikot über den Platz. Ein Torjäger war der Stürmer in Berlin aber nie. In 114 Bundesligaspielen für Hertha schoss Selke nur 19 Tore. Im Januar dann wollten die Blau-Weißen ihn endgültig von der Gehaltsliste streichen. Der 1,95 Meter große Angreifer wollte die oft zitierte neue Herausforderung annehmen - und trägt seitdem den Geißbock auf der Brust. Vier Tore in 14 Spielen für Köln lesen sich schon besser als die Torquote der Hertha-Jahre. Allein beim Derby-Sieg des FC in Leverkusen gelangen Selke zuletzt beide Treffer.
Da bekommt so mancher Hertha-Fan wohl schon feuchte Hände und wird sich vor einem "ausgerechnet Davie Selke" fürchten. Gefühlt trifft jeder gescheiterte Ex-Herthaner beim Wiedersehen besonders gerne.
Unter Pal Dardai debütierte Selke 2017 im Hertha-Trikot. Die Chemie habe sofort gestimmt, so der Trainer bei der Spieltagspressekonferenz. Dardai weiter: "Davie soll gesund bleiben, er kann gerne auch ein Tor gegen uns schießen. Aber am Ende gewinnen wir 2:1 und dann können wir zusammen ein Bier trinken."
Köln steht übrigens, mit zehn Punkten Rückstand auf die europäischen Plätze und zehn Punkten Vorsprung auf die Abstiegsregion, genau im Mittelfeld der Tabelle und könnte die Saison theoretisch locker ausklingen lassen. Mit Heißmacher Steffen Baumgart, der seinen Vertrag als Trainer in Köln vorzeitig um ein weiteres Jahr bis 2025 verlängert hat, wird es das aber garantiert nicht geben.
Der 12. November 2022 hielt für Hertha BSC viele Besonderheiten parat: Wegen der Winter-WM in Katar war es schon das letzte Spiel des Bundesliga-Jahres. Und Hertha konnte, Überraschung, Überraschung, tatsächlich einmal einen Sieg feiern. Mit 2:0 gewannen die Blau-Weißen gegen müde Kölner, die zu diesem Zeitpunkt schon acht (Europa-Conference-League-)Spiele mehr als die Berliner in den Knochen hatten.
Hertha verließ vor der langen Winterpause den Relegationsplatz. Und die Hertha-Fans unter den gut 60.000 Zuschauern dachten nach diesem emotionalen Brustlöser wohl: "Na bitte, geht doch, jetzt kann es endlich losgehen." Neben Wilfried Kanga traf Marco Richter für Hertha.
Nach dem Spiel sagte Richter: "Endlich können wir durchatmen. Aber im neuen Jahr greifen wir richtig an. Es kann nicht unser Anspruch sein, da unten rumzugurken." Richter lag falsch. Nichts wurde es mit dem Angreifen. Und jetzt, kurz vor Saisonende, würde Hertha sich nichts sehnlicher wünschen als diesen 15. Tabellenplatz, auf den die Blau-Weißen sich mit dem Sieg im Hinspiel gegen Köln geschossen hatten.
Pal Dardai und seine Hertha müssen weiter auf Angriff setzen. Drei Punkte beträgt der Rückstand auf den VfB Stuttgart, der aktuell auf dem Relegationsplatz steht.
Und Dardai hat, was Bereitschaft, Einsatzwillen und Gier angeht, wohl seine bestmögliche Elf gegen Stuttgart ins Rennen geschickt. Deshalb will Herthas Trainer ebendiese Mannschaft auch in Köln starten lassen. Sportdirektor Benjamin Weber lobt "Geschlossenheit, Gemeinsamkeit und Kommunikation."
So könnte Hertha beginnen: Christensen – Kenny, Uremovic, Kempf, Plattenhardt – Tousart, Dardai – Lukebakio, Jovetic, Richter – Niederlechner
Der Autor dieser Zeilen verfolgt Hertha BSC seit drei Jahrzehnten. Und sein Gefühl sagt: In Köln könnte das was werden. Und dann zu Hause gegen Bochum, wenn alles auf dem Silbertablett liegt, dann geht plötzlich wieder gar nichts und Hertha verliert am Ende eklig mit 0:1.
Soweit zu meiner Gefühlswelt. Aber klar, das Auswärtsspiel in Köln ist eine ganz schwere Aufgabe. Der FC ist gerettet, kann ohne Druck ins Spiel gehen. Für Hertha geht es ums Überleben. Den zweiten Sieg in Serie gibt es nicht für die Dardai-Elf.
Der rbb|24-Tipp: 1:1
Sendung: rbb24, 10.05.2023, 18 Uhr
Beitrag von Dennis Wiese
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