Ngankams Abschied von Hertha BSC
Jessic Ngankam verlässt Hertha BSC nach 16 Jahren und wechselt zu Eintracht Frankfurt. Ein Wechsel, der der Fan-Seele weh tut, sportlich wie wirtschaftlich aber die richtige Entscheidung ist - für alle Seiten. Von Marc Schwitzky
Der 31. Spieltag der Fußball-Bundesliga-Saison 2022/23, Hertha BSC hat den VfB Stuttgart zu Gast. Der Tabellen-Achtzehnte gegen den Fünfzehnten, 22 gegen 28 Punkte. Ein Abstiegs-Krimi im Berliner Olympiastadion, es ist für Hertha die eigentlich letzte Chance, den Klassenerhalt noch zu ermöglichen.
Und tatsächlich: Lange Zeit führen die Berliner mit 2:1, doch das Spiel steht auf Messers Schneide. Es läuft die 79. Spielminute: Der 15 Minuten zuvor eingewechselte Jessic Ngankam behauptet gegen gleich zwei Gegenspieler den Ball und holt tief in der Stuttgarter Spielhälfte einen Einwurf. In einer Spielphase, in der sich Minuten wie Stunden anfühlen, ist jeder Aktion der Entlastung eine Wohltat.
Nach dem herausgeholten Einwurf jubelt Ngankam zusammen mit dem Stadion schon beinahe so, als hätte er das 3:1 erzielt. Der Stürmer wirft die Arme nach oben, will die Fans noch einmal anpeitschen. Anschließend zeigt auf das Hertha-Wappen seines Trikots, danach auf den Rasen des Olympiastadions.
Symbolisch für: Das Stadion gehört Hertha, die Punkte bleiben hier. Und das bleiben sie auch. Hertha gewinnt das Spiel, kann den Bundesliga-Abstieg aber nicht mehr verhindern.
Das Video von Ngankams emotionaler Geste im Stuttgart-Spiel spült nach Schlusspfiff die blau-weißen Kanäle der sozialen Medien. Es ist ein Hoffnungsschimmer in sonst so tristen Zeiten und Ngankam ein Symbol dafür, dass Hertha mit mehr Spielern seiner leidenschaftlichen Art womöglich einen ganz anderen sportlichen Werdegang in den letzten Jahren verzeichnet hätte. Endlich jemand mit Herz, Wille und Identifikation. Nachdem Ngankam in vorangegangenen Saison an die SpVgg Greuther Fürth verliehen war und die Hinrunde aufgrund einer Knieverletzung verpasst hatte, wurde er in nur wenigen Monaten zum wohl größten Liebling der Hertha-Anhängerschaft.
Dass sein nun vollzogener Wechsel zu Eintracht Frankfurt die blau-weiße Seele zerreißt, verwundert daher nicht. Die Kritik an seiner Entscheidung ist in Teilen des Fan-Lagers groß. Es wird moniert, dass Ngankam seinen Verein im Stich lassen würde und sich Gesten wie die eben beschrieben hätte sparen müssen, wenn er wenig später wechselt. Ngankam ist nicht irgendein Spieler für die Fans.
Mit bereits sechs Jahren kam er zu Hertha, 16 Jahre blieb er im Verein. "Hertha ist mein Herzensverein, ich habe hier meine ersten Schritte gemacht und Menschen kennengelernt, die mich mein ganz Leben lang begleitet haben", sagt Ngankam in seinem Abschiedsvideo. "Hertha hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin."
Ein Mensch, der auch durch seinen Karriereverlauf an Profil gewinnt. Der Umweg über Herthas U23, als viele seiner Akademie-Kollegen schon zu den Profis durften. Ein Kreuzbandriss im Sommer 2021, eine weitere Knieverletzung nur ein Jahr später. Doch Ngankam zeigte immer wieder Herz, steckte die Rückschläge weg und kam stärker zurück.
So avancierte er in der abgelaufenen Rückrunde trotz geringer Spielpraxis zum Berliner Hoffnungsträger, mit vier Toren und zwei Vorlagen tat er alles in seiner Macht stehende, um sich gegen den Abstieg zu stemmen.
Es ist also kein Wunder, dass Ngankam den Fans so imponierte. Mit ihm hatten sie das Gefühl, jemand Ihresgleichen auf dem Feld zu sehen. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, kein glattgezogener Karriere-Fußballer. Jemand mit Emotionen und einer Leidensgeschichte, jemand, der den Verein und die Stadt liebt und jemand, der das Stadion in sein intensives, leidenschaftliches Spiel stets miteinbezieht. Jemand, der für seinen Erfolg hart gearbeitet hat. Einer von uns.
Trotz all der echten Identifikation mit dem Verein muss Ngankam der Wechsel nach Frankfurt zugestanden werden. Aus sportlicher Sicht ist es absolut verständlich, dass sich ein 22-Jähriger gegen die 2. Liga und für Bundesliga wie auch europäischen Fußball entscheidet. Die Eintracht entwickelt seit vielen Jahren ihre Fußballer außerordentlich weiter, bietet ihn die europäische Bühne und rückt sie auch in den Dunstkreis der deutschen A-Nationalmannschaft – ein wichtiger Aspekt für einen aktuellen U21-Nationalspieler.
Ein ähnliches Paket hätte Ngankam auch beim Stadtrivalen Union Berlin gehabt, doch die Offerte der Köpenicker lehnte er aufgrund seiner tiefen Verbundenheit zu Hertha ab. Dennoch musste er damals überlegen, "weil ich so oft neu angreifen musste, so oft meinen Arsch aufgerissen hab und Dinge gemacht habe, worauf ich eigentlich gar keine Lust hatte, um einfach mal erfolgreich Fußball zu spielen. Und dann will dich eine Mannschaft haben, die Champions League spielt."
Nach all den persönlichen Rückschlägen eine nachvollziehbare Sichtweise. Der Schritt nach Frankfurt steht nun symbolisch dafür, dass Ngankam sich endgültig im Profi-Fußball auf höchster Ebene etabliert hat. Er hat es geschafft: sportlich wie finanziell. Fußballer haben nur zehn bis 15 Jahre, um diesen Status zu erlangen. Sie haben nur diese eine Karriere.
Womöglich hätte es Ngankam gut getan, ein Jahr als absoluter Stammspieler bei Hertha möglichst viele Partien zu absolvieren - eine Situation, die er im Profi-Bereich noch nicht hatte. Allerdings hätte sich seine sportliche Perspektive dadurch kaum verbessert. Aufgrund noch vieler Fragezeichen kann niemand sagen, ob Hertha direkt wieder aufsteigt. Das Risiko besteht, in Liga zwei zu versacken.
Für solch eine Perspektive ist Eintracht Frankfurt als Gegenentwurf schlicht zu attraktiv. Würde Ngankam ein Jahr guten Zweitligafußball spielen, würden zudem kaum bessere Adressen als Frankfurt oder Union anklopfen – der Markt für ihn bliebe nahezu derselbe. Wozu sich also einem unsicheren Zweitliga-Jahr aussetzen, das er nur bedingt beeinflussen kann?
Hertha, so betont Sportdirektor Benjamin Weber, wollte Ngankam von einem Verbleib überzeugen. Aufgrund dessen individueller Qualität und dem großen Identifikationsstatus ist das Bemühen verständlich, doch gegen das frische Geld wird sich der so klamme Verein nicht wehren. Vier Millionen Euro kassierte Hertha laut zahlreichen Medienberichten für ihr Eigengewächs, hinzukommen wohl etwaige Bonuszahlungen und eine Weiterverkaufsbeteiligung. Ein fairer Deal, der Hertha den finanziellen Spielraum gibt, andere Problemzonen im Kader anzugehen.
Fair, weil auch Hertha Unsicherheiten ausgesetzt war. Ngankam hat mit fast 23 Jahren erst 43 Spiele im Profi-Bereich absolviert, nur 14 von Beginn an. Aufgrund gleich zwei schwererer Knieverletzungen war der Angreifer nur selten wirklich fit, erst zwei Partien hat er über die vollen 90 Minuten bestritten. Bei allem Potenzial, das in ihm gesehen wird, ist die bisherige Stichproben-Größe bei ihm sehr gering. So ist es keinesfalls garantiert, dass Ngankam in den kommenden Jahren die explosive Entwicklung nimmt, die ihm manche bescheinigen.
Wie bereits angesprochen: Mit einer ordentlichen bis guten Zweitliga-Saison hätte Ngankam seinen Marktwert allenfalls gehalten, aber nicht ausgebaut. Der wirtschaftlich so erheblich angeschlagene Hauptstadt-Verein braucht jedoch jetzt (!) Geld. So ist es eine realpolitisch sinnvolle Entscheidung, den wechselwilligen Spieler nicht mit allen Mitteln zu halten. Es ist möglich, dass Ngankam in einem Jahr für eine irrwitzige Summe nach England wechselt – es ist nur nicht hoch wahrscheinlich und Hertha ist momentan nicht in der Situation, sich solchen Träumen hinzugeben.
Beide Parteien wussten nicht genau, was sie voneinander zu erwarten hatten. Hertha nicht, ob sie einen absolut fitten Ngankam bekommen, der sie entweder zum Aufstieg schießt oder in einem Jahr für viel Geld wechselt. Und Ngankam nicht, ob Hertha ihm den direkten Wiederaufstieg als wichtige Entwicklungsmöglichkeit bieten kann.
So mag der Verlust eines Symbols für den neuen "Berliner Weg" emotional weh tun, sportlich wie wirtschaftlich ist der Transfer jedoch nachvollziehbar. Wäre Hertha erstklassig geblieben, würde sich die Wechselfrage womöglich gar nicht stellen, so aber zahlt der Verein nun den Preis für seine jahrelange schlechte Arbeit. Die sportlichen und wirtschaftlichen Faktoren bei den Berlinern sind momentan so schlecht, dass es begehrenswerten Spielern nicht zu verübeln ist, wenn sie einen anderen Weg gehen wollen.
Wer Ngankam einen Strick daraus drehen will, dass er vor zwei Monaten in einer sportlich überlebenswichtigen Phase seines Herzensvereins auf das Logo klopfte, der setzt einen unfairen moralischen Standard an – besonders an einen 22-Jährigen in einer emotionalen Ausnahmesituation. Der Wechsel stellt nicht die Vereinsverbundenheit Ngankams in Frage, sondern zeigt auf, in welch schlechte Lage sich Hertha gebracht, dass selbst er nicht bleibt.
Sendung: rbb24 inforadio, 14.07.2023, 13:15 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
Artikel im mobilen Angebot lesen