Dardai-Dynastie bei Hertha
Mit der Rückkehr von Palko sind nun alle vier Dardais bei Hertha BSC vereint - eine historische Konstellation. Mancherorts wird der Vorwurf der Vetternwirtschaft laut. Doch ist es so einfach? Von Marc Schwitzky
Stell dir vor, du bist Sportdirektor eines deutschen Zweitligisten, der aufgrund gravierender Fehlentscheidungen der vorher tätigen Verantwortlichen nicht nur völlig verdient aus der Bundesliga abgestiegen, sondern auch in eine verheerende wirtschaftliche Lage geraten ist. Du hast wenig bis gar kein Geld und dazu keinerlei Identität in deinem Profi-Kader. Du rufst daher vor wenigen Monaten einen Kurswechsel aus, der zukünftig die eigenen Talente und volle Identifikation mit dem Verein in den Fokus stellt.
Wenige Tage vor dem Saisonstart hast du noch ein paar Fragezeichen im Kader zu beseitigen. So fehlt dir unter anderem ein Spieler, der sowohl auf dem rechten Flügel als auch im zentral-offensiven Mittelfeld spielen kann. Dort hattest du bislang jeweils nur einen Profi – zu wenig für eine gesamte Saison. Und du findest einen Kandidaten! Erst frische 24 Jahre alt, kann beide Positionen spielen, war für seinen Verein in einer etwas schwächeren Liga in 89 Spielen an 42 Toren direkt beteiligt. Zudem spricht er deutsch, kennt sogar die Stadt und deinen Klub bestens und er kostet auch nur eine niedrige bis mittlere sechsstellige Summe.
Ein für deine Situation überaus passender Spieler, oder?
Nun ist die Sache bei Hertha BSC und Palko Dardai nicht so einfach wie eben beschrieben. Denn Palko Dardai ist nicht irgendein Spieler, wie sein Nachname verrät. Er ist einer von drei Söhnen der Vereinslegende und des Cheftrainers der Berliner, Pal Dardai. Der 47-Jährige hat nicht nur selbst sehr erfolgreich die Fußballschuhe geschnürt, auch seine direkten Nachkommen scheinen über besonderes Talent zu verfügen.
Palko, mit 24 Jahren der älteste der drei Brüder, hat 2017 sein Profi-Debüt für Hertha gefeiert und von der U18 bis U20 in den Talentgängen der deutschen Nationalmannschaft gespielt. Mittelkind Marton Dardai folgte 2020 mit seinem ersten Profi-Einsatz, der 21-Jährige ist seit der U16 deutscher Jugendnationalspieler. In der diesjährigen Saisonvorbereitung war auch der jüngste, Bence Dardai Teil der Profi-Mannschaft, zuletzt wurde der 17-Jährige mit der DFB U17-Europameister. Ja, sogar der 2017 verstorbene Opa der drei Brüder, ebenfalls mit dem Namen Pal, war Fußballprofi und Trainer in Ungarn.
Die Familie Dardai, sie ist im Fußballkontext eine ganz besondere. Der Umstand, dass nun der Vater seine drei Söhne trainiert, dürfte im Profifußball einmalig sein.
Die Rückkehr von Palko Dardai, der bis 2021 zehn Jahre für Hertha gespielt hatte, ist demnach eine Familienzusammenführung und damit eigentlich überaus fußballromantisch. Viele Hertha-Fans zeigten sich in den Sozialen Netzwerken ob des Wechsels sehr entzückt, das Identifikationspotenzial ist förmlich zu greifen. Schließlich verkörpert wohl keine Familie die "alte Dame" mehr als die Dardais – seit nun schon 1997, als Pal Dardai sich dem Verein als junger Spieler anschloss, ist man miteinander verbunden.
Doch nicht alle zelebrieren den Transfer Palkos, der das Dardai-Quartett perfekt macht. Vorwürfe der Vetternwirtschaft machen sich breit, die Familie würde sich die Verträge zuschieben, ohne dem Leistungsprinzip zu folgen. Ein reiner Folklore-Transfer, der kurzzeitig die Fan-Herzen bedienen soll, aber kein strategisches Gefühl vermittelt – mit Professionalität habe das nichts zu tun. Die besondere Familienkonstellation könnte zudem die Folge haben, das Teamgefüge zu sprengen, sollte Pal Dardai seine Söhne merklich bevorzugen.
Sollte Pal Dardai mit jenen Vorwürfen konfrontiert werden, wird er sie nicht nur abstreiten, sondern auch die fragende Person unter seiner schäumenden Wut begraben. In der Vergangenheit reagierte der Ungar auf keine Vokabel so allergisch wie "Trainersohn". Er stellt klar, dass seine Kinder genauso für den Erfolg arbeiten müssen wie andere Fußballer, unter ihm als Trainer womöglich sogar mehr, um den Vorwurf der Bevorzugung gar nicht erst zu füttern. Das bestätigte Sohn Marton vor kurzem gegenüber dem kicker: "Wir wissen, dass das vielleicht eine ungewöhnliche Konstellation ist, aber für mich fühlt es sich normal an. Wir haben klar abgesteckt, wie wir uns da verhalten. Klar behandelt er mich ein bisschen strenger, damit es nicht so rüberkommt, dass ich bevorzugt werde - aber die Jungs spüren das auch. Es ist schwieriger, mich in der Mannschaft zu beweisen. Ich muss natürlich das Doppelte zeigen."
Tatsächlich ist der Vorwurf der Bevorzugung bislang nicht haltbar. Alle drei Dardai-Söhne sind oder waren deutsche U-Nationalspieler, haben sich – auch schon im Profi-Bereich - unter mehreren anderen Trainern als ihrem Vater durchgesetzt. Andere Experten, die in diesem Sport arbeiten, halten offenbar also ebenso viel von ihnen. Hätten die Dardais nicht das nötige Talent und würden sie nur von ihrem Status leben, wären diese Entwicklungen nicht möglich. Genügend Söhne anderer ehemaliger Fußballprofis haben denselben Weg nehmen wollen und sind gescheitert – der Weg des Brüder-Trios im Profi-Geschäft hält jedoch an.
Zumal sich Rückkehrer Palko eindeutig weiterentwickelt hat. Fehlte ihm in seinen ersten Profi-Jahren bei Hertha vor allem die nötige Körperlichkeit, ist er in den vergangenen Jahren deutlich athletischer und robuster geworden. "Ich habe mich in Ungarn fußballerisch und menschlich weiterentwickelt - bin als Junge hier weggegangen und komme als gereifter Spieler zurück", bilanziert Dardai, der 2022 in der Uefa Conference mit einem herausragenden Distanztreffer gegen den 1. FC Köln auf sich aufmerksam machte.
Darüber hinaus bestätigten sowohl der Verein als auch mehrere Medien, dass die Verantwortlichen des Hauptstadtklub schon einige Monate an der Rückkehr Palkos gearbeitet haben, also bereits vor dem erneuten Amtsantritt Pal Dardais – davon, dass der Trainervater einfach nur seinen Sohn zurückhaben wollte, kann also keine Rede sein. Doch auch ohne Dardai als Trainer wäre die Rückkehr Palkos womöglich kritisch gesehen worden, da sie "zu naheliegend" ist. Der "Berliner Weg" als Wohlfühloase alter Herthaner, die in ihrer eigenen Suppe schwimmen wollen und wo die sportliche Tauglichkeit zweitrangig ist.
Die eingangs illustrierte Sichtweise auf den Fußballspieler und nicht auf den Namen zeigt jedoch: Sportlich und wirtschaftlich ergibt die Verpflichtung Palko Dardais auf dem Papier Sinn. Und doch zeigt die Verpflichtung die schmerzhaft limitierten Möglichkeiten Herthas im Sommer 2023 auf. Der wirtschaftliche und sportliche Absturz haben die "alte Dame" zu einem für Spieler überaus unattraktiven Ziel gemacht. Hertha kann weder großes Geld noch eine herausragende sportliche Perspektive bieten, sondern nur den Raum, etwas Neues aufzubauen und es allen zu zeigen. Das lockt keine Hochkaräter nach Berlin, sondern entweder zuvor gescheiterte Profis oder junge Talente, die etwas zu beweisen haben. Die Unbekannten und Vergessenen dieses Sports. Kein Wunder, dass sich Hertha vor allem mit ablösefreien Neuverpflichtungen wie Toni Leistner, Jeremy Dudziak oder Anderson Lucoqui etwas notdürftig behelfen musste.
So mag die Rückholaktion Dardais nicht sonderlich inspirierend sein und eine gewisse Verzweiflung ausdrücken, dasselbe gilt jedoch für Neuverpflichtungen mit anderem Nachnamen. Allerdings wird Sportdirektor Benjamin Weber hierbei ein besseres Gespür als bei Tolga Cigerci beweisen müssen. Der Mittelfeldspieler kehrte vergangene Rückrunde nach einigen Jahren zu Hertha zurück, konnte die Erwartungen jedoch nicht erfüllen und verließ den Verein nach nur einem halben Jahr wieder.
Hertha kann derzeit keine schillernden Transfers tätigen, Hertha muss bei Neuverpflichtungen ein neues Netzwerk entwickeln und dabei teilweise auf das hemdsärmelige "Man kennt sich halt" zurückgreifen, Hertha hat ein sensibles Mannschaftsgefüge, das sich erst noch festigen muss, Hertha kann unkreative Kaderplanung vorgeworfen werden.
All das sind keine neuen Erkenntnisse. Der Verein muss sich nach vier miserablen Jahren, die im Abstieg und einer wirtschaftlich existenzbedrohenden Lage mündeten, neu beweisen. Das gilt für alle: ob Verantwortliche oder Spieler. Skepsis ist somit vollkommen legitim, doch sich hierbei in der Argumentation auf den Namen Dardai zu beschränken und dabei Begriffe wie "Vetternwirtschaft" zu verwenden, ist zu einfach und der Arbeit wie auch dem Talent jener vier gegenüber nicht gerecht. Bei Hertha hat man in den letzten Jahren gelernt: Ging es schief, lag es selten an einem Dardai.
Sendung: rbb24 inforadio, 18.00 Uhr, 26.07.2023
Beitrag von Marc Schwitzky
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