Unentschieden im letzten Testspiel
Hertha BSC hat eine Woche vor dem Saisonstart in Düsseldorf ein letztes Testspiel bestritten. Das 1:1-Unentschieden gegen Standard Lüttich hat viel über die Verfassung der Berliner verraten – positiv wie negativ. Von Marc Schwitzky
"Ich bin schon froh, dass das losgeht. Ich brauche dieses Adrenalin eines richtigen Spiels und keines Freundschaftsspiels", sagte Hertha-Trainer Pal Dardai nach Abschluss des Trainingslagers. Womöglich meinte der Ungar jedoch gar nicht den bevorstehenden Saisonauftakt gegen Fortuna Düsseldorf am 29. Juli, sondern das letzte Testspiel gegen Standard Lüttich, das am Freitagabend stattfand. Die Begegnung mit dem belgischen Erstligisten stellte die Generalprobe vor dem ersten Zweitligaspiel der Berliner nach zehn Jahren dar und wurde als genau diese angenommen, denn: im Testspiel ging es heiß her.
Hertha BSC nutzte die Partie vollends, um für den Saisonauftakt auf Betriebstemperatur anzukommen. Die Blau-Weißen gingen die Partie mit dem Ernst eines Pflichtspiels an, das war jedem Zweikampf anzusehen. Während Testspielen oftmals die Aussagekraft fehlt, kann das 1:1-Unentschieden gegen Lüttich daher vieles über Herthas Verfassung nach einigen Wochen der Vorbereitung verraten. Hier sind fünf Erkenntnisse aus der Generalprobe.
Eine entscheidende Frage für die kommende Saison war, wie Trainer Dardai seine Mannschaft taktisch auftreten lassen will. Sowohl aus den vorherigen Testspielen als auch aus dem gegen Lüttich ist ein sehr klarer Spielstil herauszulesen – und der will vor allem eins: Vertikalität. Hertha treibt im 4-2-3-1 oder 4-4-2 das Offensivspiel nach Balleroberung rasend schnell an und sucht durch längere, vertikale Pässe die Tiefe. Dabei sind vor allem die schnellen Flügelspieler, Neuzugang Fabian Reese und Eigengewächs Marten Winkler, aber auch Angreifer Marco Richter sehr entscheidend. Herthas offensives Mittelfeld soll durch einstudierte Läufe dynamische Anspielstationen bieten, sodass die Berliner möglichst zügig viel Raum überbrücken und den Gegner überrumpeln. Das klappte gegen Lüttich auch immer wieder, Herthas explosive Umschaltmomente stellen Gegner vor Probleme.
Jene Spielidee mit Ball ist allerdings auch aus der Not geboren. Auch gegen Lüttich zeigte sich, dass Hertha ein viel zu dünn besetztes Mittelfeldzentrum besitzt. Die Doppelsechs bilden aktuell Marton Dardai und Pascal Klemens, die beide kaum Erfahrung auf der Position besitzen und sie eher defensiv interpretieren. Die Rolle des Balltreibers, der das Spielgerät dynamisch ins letzte Drittel tragen kann, fehlt und macht Herthas Angriffsplan durchaus eindimensional – auch wenn es derzeit die wohl beste Idee ist, die schnellen und dribbelstarken Flügelspieler in den Fokus zu stellen. Da Richter seine Position im Zentrum nur selten hält, findet Herthas Angriffsspiel dort kaum statt – ein Umstand, der sich innerhalb der Saison bessern muss, um nicht zu ausrechenbar zu werden.
Die letzten Tage der "alten Dame" waren einmal mehr von großem Chaos geprägt – und auch auf dem Platz fehlt es noch an der nötigen Ruhe. Das vertikale Angriffsspiel birgt mit seinem Tempo viele Vorteile, doch gegen Lüttich zeigte sich klar, dass Hertha noch die Balance fehlt. Sowohl im Spielaufbau als auch im letzten Angriffsdrittel vermisst der Bundesliga-Absteiger noch das beruhigende Element. Das Innenverteidiger-Duo aus Marc Oliver Kempf und Toni Leistner besticht nicht durch eine gute Spieleröffnung, der Doppelsechs aus Dardai und Klemens fehlt mangels Erfahrung die Ruhe am Ball und mit Richter als vermeintlichen Zehner verfügt Hertha eher über einen verkappten Mittelstürmer als über einen klassischen Spielmacher.
Derzeit ist noch nicht ersichtlich, welcher Spieler in Herthas Gebilde während einer Partie auch mal auf die Bremse treten kann. Die Mannschaft bringt sich durch das schnelle wie kampfbetonte Spiel auf eine ungesunde Frequenz, die kaum Spielkontrolle ermöglicht und individuelle Fehler wie Ballverlust provoziert. Hier braucht es, vermutlich durch weitere Neuzugänge, eine weitere Geschmacksrichtung in Herthas Spiel.
"Ich bin zufrieden mit der Moral der Mannschaft hier. Letzte Saison waren es 70 Prozent faule Spieler und 30 Prozent gewillte Spieler - und jetzt ist es genau umgekehrt", lobte Dardai zuletzt den Mentalitätswechsel seiner Schützlinge. Der Ungar würde eine deutlich willigere Mannschaft erleben, die die Grundtugenden des Fußballs wieder mit Leidenschaft füllt. Genau diese Einstellung war auch gegen Lüttich zu erkennen. Obwohl es sich nur um ein Testspiel handelte, gingen die Blau-Weißen überaus engagiert, kampfstark und körperbetont an die Sache. Jeder Zweikampf wurde voll angenommen, die Rückwärtsbewegung nach Ballverlusten ging überaus flott vonstatten und individuelle Fehler wurden immer wieder im Kollektiv bereinigt.
Dardai scheint in der Vorbereitung die richtigen Knöpfe bei seinen Spielern gedrückt zu haben, gegen Lüttich war eine Einheit und nicht wie in der Vorsaison ein zusammengewürfelter Haufen zu sehen. Hertha schenkte Gegner Lüttich nichts und legte in jede Aktion die nötige Portion Intensität und Galligkeit. Besonders in der so kampf- und körperbetonten 2. Bundesliga sind jene Attribute überaus wichtig, um überhaupt die Basis für das eigene Spiel zu legen. Hier zeigt Hertha deutliche Fortschritte im Vergleich zur Vorsaison. "Es sieht langsam aus wie eine Mannschaft. Wir sind vorbereitet", zeigt sich Dardai zufrieden.
"Toni kam und dirigiert schon. Das ist sehr gut", lobte Dardai Neuzugang Leistner. Auch Reese, der sich schnell in die Mannschaft integriert habe, gefällt dem 47-Jährigen: "Ich bin hochzufrieden, wie Reese angekommen ist. Fabian kommt und es wirkt, als wäre er schon hundert Jahre hier und funktioniert." Gegen Lüttich war gut zu erkennen, dass die beiden Neuzugänge Teil der neuen Achse sind, die Dardai etablieren will.
Während sich die Torhüter-Position aufgrund der Suspendierung von Marius Gersbeck unerwartet in der Schwebe befindet, hat sich die Innenverteidigung davor sehr schnell gefunden. Leistner und Kempf agierten gegen Lüttich überaus souverän. Zwar glänzt das Duo nicht durch filigrane Aktionen und spielerische Lösungen, doch mit all ihrer Erfahrung und körperlichen Präsenz sind sie ein souveräner und resoluter Rückhalt.
Marton Dardai als Ankersechser, der seine Position hält und mit präzisen langen Ballen auftrumpft; Richter, der als freischwebendes, offensives Element die nötige Portion Unberechenbarkeit einbringt; Reese, der durch Tempo wie Durchsetzungsvermögen glänzt und Florian Niederlechner, der als pressender Stürmer viel Arbeit für seine Mannschaft verrichtet und Bälle sichert, sind bereits fester Bestandteil der neuen Hertha-Achse. Hier scheint Coach Dardai wichtige Säulen gefunden zu haben.
In der zweiten Halbzeit ließ Dardai nur die Innenverteidigung und das defensive Mittelfeld durchspielen, auf allen anderen Positionen wechselte er zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Dabei wurde deutlich, dass es dem Kader momentan deutlich an der Breite fehlt – die Einwechselspieler fielen im Vergleich zu den Startelfnominierten qualitativ deutlich ab. Im zweiten Durchgang gelang Hertha kaum noch etwas, offensiv fanden die Hauptstädter nur noch durch einen Eckentreffer von Marc Oliver Kempf (58. Minute) und eine Einzelaktion von Richter, der einen Ball abfing und ihn an die Latte setzte (69.), statt. Auch defensiv präsentierten sich die Berliner nach Wechseln auf den Außenverteidigerpositionen deutlich wackeliger.
Das Testspiel hat eklatant aufgezeigt, dass Hertha die Kaderbreite fehlt und es noch mehrere Neuzugänge brauchen wird, um einen gesunden Konkurrenzkampf zu schaffen. Wechselwillige Profis und blutjunge Eigengewächse können keine nützliche Bank besetzen. Das zentrale Mittelfeld ist aktuell sogar so dünn besetzt, dass Dardai und Klemens mangels Alternativen durchspielen mussten. Hier ist Sportdirektor Benjamin Weber klar gefordert.
Sendung: rbb24 inforadio, 7.00 Uhr, 22.07.2023
Beitrag von Marc Schwitzky
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