Lob auf die Sommerpause im Fußball
Schrecklich sei die Sommerpause, mag so mancher Fußball-Fan denken. Dabei ist sie eigentlich die schönste Zeit des Jahres. Auch, weil der Saison-Alltag gravierende Mängel aufweist. Von Ilja Behnisch
Es hilft ja nichts, wir müssen mit einer Majestätsbeleidigung beginnen. "Die Leute gehen ins Stadion, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht", sagte Sepp Herberger einst und lag damit streng genommen daneben. Nun hat der Mann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft 1954 sensationell zum Weltmeister-Titel trainiert und tatsächlich, damit rechneten damals die Wenigsten. Im Großen und Ganzen jedoch ist Herbergers Ausspruch zumindest längst überholt. Korrekt müsste es heißen: "Die Leute gehen ins Stadion, obwohl sie wissen, wie es ausgeht."
Bayern München gewinnt selbst in Krisen-Jahren die deutsche Meisterschaft. In der Champions League wechseln die Sieger zwar, allerdings innerhalb eines sehr beschaulichen Kreises von üblichen Verdächtigen. Und wann immer vor Europa- oder Weltmeisterschaften ganz besonders laut von vermeintlichen Geheimfavoriten (Belgien!) auf den Titel gesprochen wird, kann man im Prinzip beliebig hoch dotierte Wetten darauf eingehen, dass die es schonmal garantiert nicht schaffen werden.
Nun bestätigen Ausnahmen bekanntlich die Regel. In Berlin zum Beispiel. Dass der 1. FC Union nach Klassenerhalt, Conference League und Europa League nun auch die Champions League erreicht hat, hätten sich vermutlich nicht einmal die kühnsten Union-Anhänger träumen lassen. Womit wir beim Thema sind. Denn eine der unangenehmsten Begleiterscheinungen des Lebens ist bekanntlich die sogenannte Realität. Die Planstellen für Popstars, Bundeskanzler oder Wimbledon-Sieger sind nunmal begrenzt.
Träume mögen endlos sein. Die Realität aber setzt auf das schmerzhafte Mittel der Verknappung. Im Fußball spiegelt sie sich Spieltag für Spieltag und in der Tabelle wider. Meister wird nur einer, also immer Bayern München. Und wenn sich vor einer Spielzeit ungefähr zehn Klubs Hoffnungen auf einen Europapokal-Platz machen, schaut mindestens irgendwer immer in die Traurigkeit. Ein Glück, dass es die Sommerpause gibt. Eine Reha-Klinik für das geschundene Verhältnis zwischen Fan und Verein und Wirklichkeit. Nehmen wir das Beispiel Hertha BSC.
Spötter könnten behaupten, auch bei der Hertha sei absehbar gewesen, wie es ausgeht. Wenn ein Investor wie Lars Windhorst kommt, Jürgen Klinsmann, viele Millionen und noch größere Visionen im Gepäck. Denn wer Visionen hat, alte Helmut-Schmidt-Weisheit, soll zum Arzt gehen. Aber träumen durfte man ja schon als Hertha-Fan. Vielleicht nicht von der Meisterschaft, aber doch wenigstens vom internationalen Wettbewerb. Oder zumindest von schönem Fußball. Es müssen selige Wochen und Monate gewesen sein, in denen Hertha-Fans nach dem Windhorst-Einstieg die Schönheit der Chance erkannten, ehe die Realität sie in den Folgejahren langsam, aber stetig bis zum Abstieg quälte. Der sich rückblickend vielleicht gerade auch wegen des Windhorst-Investements angekündigt hatte. Das Gute wiederum nun ist, dass es im Fußball "weiter, immer weiter" geht, wie der Fußball-Philosoph und Ex-Torhüter Oliver Kahn einst verkündete.
Also auch für Hertha BSC, wenn auch in Liga zwei. Die erholsamen, die Fan-Seele massierenden Hoffnungen und Träumereien der Sommerpause verrichten auch im Unterhaus ihr gutes Werk. Der Abstieg ist nur ein paar Wochen her, aber ach, weiter, immer weiter. Und plötzlich mehren sich doch auch die Zeichen, dass es direkt wieder aufwärts geht! Schon nach wenigen Wochen wurden schließlich mehr Dauerkarten verkauft als noch in der Vor-Saison. Pal Dardai bleibt Trainer. Die Lizenz ist gesichert. Die Personalentscheidungen im Team hinter dem Team sitzen, und der Berliner Weg, jetzt aber wirklich, wird mit Leben gefüllt.
Der Spielplan meint es doch auch gut mit der Hertha, sechs Siege aus den ersten fünf Spielen sind locker drin! Klar, ein paar Baustellen hat es noch im Kader, aber das Fundament ist doch da! In Internet-Foren lesen sich die schönsten Gerüchte über ungeschliffene Diamanten, die schon als Kind in Hertha-Bettwäsche geschlafen haben. Dieses eine Zweieinhalb-Minuten-YouTube-Video vom argentinischen Linksaußen, der vielleicht kommt und der einen Blogger namens Diego10 zu Messi-Vergleichen angeregt hat, lässt hoffen. Und für die Hertha-Bubis ist die zweite Liga eh das richtige Becken, um schwimmen zu lernen. Im Prinzip holt der Klub gerade nur so richtig Schwung.
Die Sommerpause ist einfach die schönste Zeit des Fußball-Jahres. Keine Termine, leicht einen sitzen. Und wenn es nur Träume von einer besseren Zukunft sind, die einem zu Kopf steigen. Es kann ja niemand widersprechen. Keine Auswärtsniederlage in der 90. Minute, kein Null-Tore-Stürmer, keine Tabelle. Und bei Union? Dort, wo die kühnsten Träume übertroffen wurden? Bleibt die Realität noch ein Weilchen makellos. Noch ist Union in der Champions League ungeschlagen. Und wer weiß, vielleicht kommt ja sogar Real Madrid in die Union-Gruppe. Zu einem Pflichtspiel! Stell’ Dir das mal vor! Da wirste doch verrückt. Und wer weiß, vielleicht geht das eiserne Märchen auch einfach immer so weiter und Urs Fischer lotst die Seinen selbst noch durch die Gruppenphase der Königsklasse. Sollte es anders kommen, durften Unioner und Unionerinnen zumindest ein paar Monate lang träumen.
"Was nützt die Liebe in Gedanken", fragte 2004 ein deutscher Film-Titel. Zumindest im Fußball ziemlich viel. Und wer immer in den kommenden Wochen und bis zum Saisonstart Ende Juli (Hertha), Anfang August (Union) und angesichts fehlender Pflichtspiele Langeweile aufsteigen spürt, sollte sich zurücklehnen und seine Träume fliegen lassen. Von Herthas Wiederaufstieg und Unions Durchmarsch in der Champions League. Ehe es wieder ins Stadion geht, obwohl man zumindest eine Ahnung hat, wie es ausgeht. Denn so schön wie in den Sommerpausen-Träumen wird der Fußball nie wieder.
Sendung: rbb24 Inforadio, 02.07.2023, 19:15 Uhr
Beitrag von Ilja Behnisch
Artikel im mobilen Angebot lesen