Wegen Corona-Lockdowns
Die motorische Entwicklung von Kindern hat sich in den letzten drei (Corona-)Jahren offenbar dramatisch verschlechtert. Das zeigt eine neue Studie des Landessportbunds Berlin. Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Kiezen sind besonders betroffen.
Vor Kurzem hat der Landessportbund Berlin (LSB) und die Berliner Bildungs- sowie Innenverwaltung eine Studie zur motorischen Entwicklung von Kindern veröffentlicht, die es in sich hat. Aus dieser wird deutlich, dass die Lockdowns während der Corona-Pandemie für eine drastische Verzögerung der motorischen Fähigkeiten bei Kindern gesorgt haben. Die Forscherinnen und Forscher sprechen von einer Verlangsamung der Entwicklung um ein Jahr.
Dass der Schulunterricht zumindest in Präsenz und vor allem der Sportbetrieb in Vereinen in den letzten Jahren immer wieder unterbrochen war, spüren viele Kinder - insbesondere in benachteiligten Kiezen - noch heute. Die Studienleiter warnen gar vor Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter. Demensprechend alarmiert zeigt sich der LSB und will gegenwirken.
"Das Studienergebnis ist für uns nicht ganz überraschend", sagt LSB-Präsident Thomas Härtel. Man habe bereits anhand anderer Studien gesehen, dass die Corona-Jahre insbesondere bei Kindern für Einschränkungen und nachhaltige Auswirkungen in der Entwicklung gesorgt hätten. "In welcher Breite Kinder durch die Corona-Pandemie aber in Mitleidenschaft gezogen worden sind, hat uns dann doch überrascht. Das hat enorme Auswirkungen", sagt Härtel.
Jochen Zinner von der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS) sowie sein Team haben die Daten von rund 75.000 Drittklässlerinnen und Drittklässlern ausgewertet und dabei festgestellt, dass nur 12 Prozent der Kinder motorisch fit sind. Im Rahmen des Deutschen Motorik-Tests wurden Fähigkeiten in den Bereichen Ausdauer, Koordination, Kraft und Schnelligkeit geprüft. Vor der Pandemie lag der Wert bei fast 20 Prozent - laut Zinner ein ordentliches Ergebnis.
Insbesondere in den Bereichen Kraft und Schnelligkeit habe sich der Wert arg verschlechtert - verzeichnet wurde ein Rückgang von 16 und elf Prozent. Härtel spricht bei der Pandemie vor allem von einem "Brandbeschleuniger", der ein nicht unbekanntes und bereits vorhandenes Problem noch größer gemacht habe.
Die Pandemie habe dazu geführt, dass sich die motorische Fähigkeit in den letzten Jahren insgesamt, also bei allen Kindern, um vier Prozent verschlechtert habe. Laut der Studie bedeutet dieses Ergebnis allgemein einen rund einjährigen Rückstand der motorischen Entwicklung bei den Kindern. Dadurch würden nachhaltige und langfristige gesundheitliche Probleme wahrscheinlicher. "Wenn man das ein Stück dramatischer ausdrücken will, kann man den Effekt mit dem Einfluss vergleichen, den das Rauchen auf das Risiko für Lungenkrebs hat", sagt Studienleiter Zinner.
Doch das ist nicht das einzige Problem, dass die Studie aufzeigt: Durch mangelnde Bewegung stieg der Anteil übergewichtiger Kinder während der Pandemie von 19,5 Prozent auf 21,2 Prozent. Insbesondere Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen sind hiervon betroffen, wie die Forscherinnen und Forscher in ihrer Studie erklären. Zinner betont: "Es ist besonders besorgniserregend, dass es eine Verkettung von Fitness, Übergewicht, Vereinszugehörigkeit und dem sozialen Status, in dem sich die Kinder aufhalten, gibt. Das Problem war zwar schon vor der Pandemie bekannt, aber die Lockdowns verstärken diese Effekte." Zinner und seine Kollegen empfehlen dementsprechend, vorzugsweise in benachteiligten Bezirken verstärkt Sportangebote zu machen.
"Natürlich werben wir als LSB für Aktivitäten in unseren Vereinen", sagt Härtel. Tatsächlich spürt der Verband nach einem Einbruch der Mitgliederzahlen während der Pandemie mittlerweile wieder ein deutlich gestiegenes Interesse, sich in Sportvereinen zu betätigen. "Wir versuchen aber auch passgenaue Angebote zu machen. Für Kinder, die einen hohen Nachholbedarf haben, aber auch für Kinder, die trotz der Corona-Pandemie schon gewisse Leistungen erbringen. Hinzu kommt, dass wir bald unsere schon bekannten Sportfeste direkt in den Bezirken dezentral anbieten werden und dort die breite Palette des Berliner Sports vorstellen werden", sagt Härtel.
Man sei dabei aber auch auf die Eltern angewiesen, die ihre Kinder unterstützen müssten. "Für uns gilt, nachhaltig entsprechende Angebote zu unterbreiten, damit diese Familien erreicht werden", so Härtel. Neben den Angeboten in den betroffenen Bezirken verweist Härtel vor allem auf das Bildungs- und Teilhabepaket, das es Familien mit geringem Einkommen zum Besipiel ermöglicht, einem Verein beizutreten.
Sowohl Härtel als auch Zinner sind optimistisch, dass sich der Trend mit den richtigen Maßnahmen aufhalten und wieder umkehren lässt. Insbesondere Zinner weißt aber auch daraufhin, dass die Verbände und die Politik mit den Erfahrungen der letzten Jahre auf mögliche kommenden Lockdowns besser vorbereitet sein müssten. Es hätte durchaus Angebote gemacht werden können, die die dramatische Entwicklung hätten aufhalten können.
Sendung: rbb24, 14.08.23, 18 Uhr
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