60 Jahre Bundesliga | Teil 3
Am 9. Juli 1974 wird Dettmar Cramer als neuer Trainer von Hertha BSC vorgestellt. Seinen Vertrag annuliert der Trainer allerdings noch am selben Abend. Aus Gründen, die erst Jahrzehnte später aufgeklärt werden. Von Jonas Bürgener
Trainer in der Fußball-Bundesliga arbeiten nicht ein Leben lang für einen Verein, das ist nicht erst seit ein paar Jahren so. Die Kommerzialisierung und Professionalisierung des Sports, die von Fußball-Traditionalisten gerne als mittelschweres Übel verteufelt werden, sind hierfür aber ausnahmsweise mal keine Gründe: Trainer werden wegen Erfolgslosigkeit entlassen, sie wechseln spontan den Verein oder schmeißen einfach so plötzlich bei ihrem Arbeitgeber hin. Das war zur Gründung der Bundesliga schon nicht viel anders als heutzutage.
Kuriose Trainerentscheidungen hat es in mittlerweile 60 Jahren Bundesliga schon immer gegeben. Dennoch wird die Posse um Dettmar Cramer und Hertha BSC wohl immer besonders und in Erinnerung bleiben. Im Sommer 1974 wurde der ambitionierte Trainer in Berlin vorgestellt und mit offenen Armen empfangen - blieb allerdings nur wenige Stunden.
Von vorne: Helmut Kronsbein, damals bereits seit 1966 Trainer der Blau-Weißen, verließ Hertha BSC im letzten Drittel der Saison 1973/1974 vorzeitig in Richtung Hannover und zwang den damaligen Präsidenten Heinz Warneke so zum Handeln. Bis zur Sommerpause übernahm Assistenztrainer Hans Eder den Posten als Cheftrainer, doch zur neuen Saison sollte eine langfristige Lösung her. Große Namen wie Max Merkel wurden damals gehandelt, wie sich Journalist und Hertha-Chronist Michael Jahn erinnert.
Jahn hat sich viele Jahre für verschiedene Bücher mit Hertha BSC und so auch mit der Posse um Dettmar Cramer befasst. Er weiß, dass insbesondere Warneke ein großer Fan Cramers gewesen ist und ihn zu Hertha lotsen wollte. "Cramer war ein sehr bekannter Trainer in Deutschland", sagt Jahn. "Er war damals in Diensten der Fifa als Weltreisender in Sachen Fußball unterwegs." Für die Vertragsverhandlungen mit Cramer beauftragte Warneke im Sommer 1974 Wolfang Holst.
Dieser Name wird zur damaligen Zeit insbesondere mit dem Bundesligaskandal von 1971 in Verbindung gebracht. Holst war als Hertha-Manager in den wohl größten Eklat der Bundesliga-Geschichte involviert, als in einer Saison gleich mehrere Spiele manipuliert wurden. Aus diesem Grund wurde der Funktionär in den Jahren 1973 bis 1978 vom Deutschen Fußball-Bund gesperrt. Holst arbeitete im Hintergrund allerdings fleißig weiter für seinen Herzensverein Hertha BSC und dessen Präsidenten Warneke, der Holsts Einsatz trotz der Sperre billigte.
Genau das sollte Warneke und Hertha in der Causa Cramer noch zum Verhängnis werden. Zunächst führte Holst die Verhandlungen erfolgreich und konnte Cramer, wegen seiner Körpergröße "Napoleon" und wegen seines Fußball-Sachverstands auch als "Professor" bekannt, auf einer viel beachteten Pressekonferenz vorstellen.
Im Anschluss leitete Cramer dann auch sein erstes Training als Hertha-Coach. "Das war damals noch an der 'Plumpe' am Gesundbrunnen", sagt Jahn. Auf einem seltenen Foto ist der Trainer in einem Baumwoll-Trainingsanzug und in engem Austausch mit Spielern wie Uwe Kliemann oder Wolfgang Sidka zu sehen. Doch am Abend nach dem Training wartete dann die große Überraschung - Cramer schmiss plötzlich hin. Er annullierte seinen Vertrag aus "persönlichen Gründen", wie es damals hieß.
"Diese Gründe blieben für viele, viele Jahre sein Geheimnis", sagt Jahn. "Es wurde immer nur gemutmaßt, warum er sich so plötzlich wieder verabschiedete". Schnell verfestigt sich das Gerücht, Cramer seien große Spieler wie Paul Breitner, Berti Vogts oder Uli Hoeneß versprochen worden. Aus Enttäuschung, diese dann doch nicht in Berlin trainieren zu können, habe sich Cramer umentschieden.
Diese Legende hält sich über viele Jahre. Cramer wurde Trainer der US-amerikanischen Nationalmannschaft und des FC Bayern München, mit dem er 1975 und 1976 den Europapokal der Landesmeister gewann.
Aufgeklärt wird die Geschichte über Cramers kurzweiliges Intermezzo bei Hertha BSC erst 2015 - nach dessen Tod mit 90 Jahren. "Heinz Warneke sagte mir, die beiden hätten bis zum Tod vereinbart, die Legende so zu belassen", erinnert sich Jahn an ein Gespräch mit dem ehemaligen Hertha-Präsidenten. "In Wahrheit war es aber ein anderes, kleineres Vorkommnis. Cramer war ein überkorrekter Mann und konnte es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, mit dem damals gesperrten Holst zusammenzuarbeiten", sagt Jahn. Die beiden Männer hätten sich auf Stillschweigen über die Gründe des plötzlichen und schnellen Rücktritts Cramers geeinigt, um alle drei Parteien nicht zu beschädigen.
Das gelang erfolgreich: Heinz Warneke beschäftigte statt Cramer Georg Keßler, der die Mannschaft in seiner ersten Saison sofort auf Rang zwei führte - bis heute Herthas beste Bundesliga-Platzierung. Wolfgang Holst blieb Hertha treu, wurde nach seiner Sperre (auch offiziell) wieder im Verein aktiv und später sogar Präsident. Und Dettmar Cramer feierte insbesondere mit dem FC Bayern große Erfolge.
Etwas unklar bleibt, warum Cramer überhaupt erst in Verhandlungen mit Hertha und Holst trat, wenn ihn wenig später so große Gewissensbisse plagten. "Wahrscheinlich hat er sich vorher nicht so mit Holst und dessen Vita beschäftigt. Schließlich war der in den Bundesliga-Skandal auch eher indirekt involviert", mutmaßt Jahn. "Vielleicht ist er aber etwas blauäugig in die Gespräche gegangen."
Ein Geheimnis bleibt also doch rund um Dettmar Cramer und sein eintägiges Engagement bei Hertha BSC.
Sendung: rbb24, 15.08.23, 18 Uhr
Beitrag von Jonas Bürgener
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