Vor dem Start in die erste Runde
Vor den Bundesliga-Start hat der Fußballgott den Auftakt in den DFB-Pokal gestellt. Der hat bekanntlich seine ganz eigenen Gesetze. Welche das genau sind und warum nicht alle für Freude sorgen. Von Ilja Behnisch
Absolutes Basis-Wissen Fußball: Der Pokal hat seine eigenen Gesetze. Weiß jeder, sagt man so vor sich hin. Aber was heißt das eigentlich genau? Zeit für eine ultimativ unvollständige und ganz sicher streitbare Übersicht.
Zunächst aber noch etwas Grundlagenarbeit, wir sind hier schließlich nicht zum Vergnügen. Spricht man vom Pokal und seinen ganz eigenen Gesetzen, dann natürlich nicht von Gesetzen im Sinne verbindlicher Rechtsnormen, sondern vielmehr von Gesetzmäßigkeiten respektive Denkschulen. Denn was anderes ist der Fußball als Erkenntnis-Theorie und damit Philosophie? Eben. Oder um es mit Leibniz zu sagen, der so etwas wie der Max Kruse der deutschen Philosophie war: "Und das des zureichenden Grundes, kraft dessen wir erwägen, dass keine Tatsache als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage als richtig, ohne dass es einen zureichenden Grund dafür gibt, dass es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen." Hätten wir das geklärt.
Dass der Pokal seine eigene Gesetze hat, heißt in des Pudels Kern (Schopenhauer!) ja vor allem: Da kann alles passieren! Der Sechstligist kann den Bundesligisten schlagen und manchmal, aber nur manchmal, erwischt es auch den großen FC Bayern München in der ersten Runde. Das passierte allerdings zuletzt in der Saison 1994/95 und mithin zu einer Zeit, in der nicht schon vor dem ersten Bundesliga-Spieltag festzustehen schien, wer denn diesmal Meister wird. Gegner damals war die TSV Vestenbergsgreuth.
Wobei angemerkt werden muss, dass der Turn- und Sportverein aus dem mittelfränkischen damals immerhin Regionalligist war, was gleichbedeutend mit dritter Liga war. Trotzdem fühlte sich der 1:0-Erfolg über den deutschen Rekordmeister an, als würde ein Grundschüler gegen Mike Tyson in den Boxring steigen und durch K.O. gewinnen. Ähnlich episch geht es längst nicht jedes Jahr zu. Weil wir hier aber evidenzbasiert arbeiten, lässt sich belegen, dass zumindest mittelschwere Erschütterungen von Favoritenrollen an der Jahresordnung stehen. So setzte sich im vergangenen Jahr der Drittligist Elversberg gegen den Champions League-Teilnehmer Bayer Leverkusen durch. 2021 wiederum siegte der Drittligist Preußen Münster über Champions League-Teilnehmer VfL Wolfsburg. Ein Jahr zuvor wiederum war es mit Rot Weiß Essen gar ein Viertligist, der über den Bundesligisten Arminia Bielefeld triumphierte.
Der Pokalsensation als Grundgesetz der Pokalgesetze quasi als Zusatz angefügt ist die Tatsache, dass es in jedem Jahr immer auch diesen einen, meistens Zweitliga-Verein gibt, der es trotz überschaubarer Leistungen in der Liga mindestens bis ins Viertelfinale des Pokals schafft. Nürnberg 2022/23, Hannover 2021/22 und Essen 2020/21 liefern den Beweis. Womit wir bei Hertha BSC wären.
Blickt man auf den überschaubar gelungenen Saisonstart der Hertha in Liga zwei, ließe sich der zuvor aufgezeigten Logik folgend auf einen kleinen, blau-weißen Pokal-Lauf hoffen. Wenn da nicht das eherne Pokal-Gesetz wäre: Hertha schafft es niemals ins Finale im eigenen Stadion. Der flockige Ausflug der Hertha-Amateure ins Finale 1993 darf eher als Untermauerung denn Gefahr für diese These gelten. Die Hertha-Highlights der vergangenen 20 Jahre: zwei Mal Viertelfinale (2006/07 und 2011/12) sowie das Halbfinale 2015/16. Trainer damals wie heute: Pal Dardai. Immerhin. Aber vermutlich wird es mit dem Herthaner Pokalfinale erst etwas, wenn der Klub in sein neues, eigenes Stadion zieht. Dann aber wahrscheinlich sofort.
Die erste Runde im DFB-Pokal bedeutet für viele Vereine auch: Pflichtspielauftakt in die neue Saison. Was auch bedeutet, dass die Neuzugänge der Klubs zum ersten Mal unter Wettkampfbedingungen vor den Fans aufspielen. Und weil der Fußball bekanntlich nichts anderes ist als ein Spiegelbild des sonstigen Lebens, zählt der erste Eindruck ganz besonders. Wer zum Aufgalopp in die neue Spielzeit einen lethargischen Eindruck macht auf die Anhänger, wird diesen Stempel schwerlich los. Und wem als Bundesliga-Stürmer gelingt, dem Fünftligisten drei Tore einzuschenken, hat mindestens die Hinrunde über Kredit im Anhang.
Auch unumstößlich: Wie immer ein neuer Spieler von Stadionsprechern und/oder Radio- bzw. TV-Kommentatoren ausgesprochen wird im ersten Pokalspiel der Saison; es wird an ihm kleben. Man erinnere nur an Fernseh-Legende Rolf Töpperwien, der die Fußball-Republik nach einer Pokal-Partie zwischen Werder Bremen und dem MSV Duisburg fälschlicherweise darüber aufzuklären versuchte, der dänische Spieler Leon Andreasen werden Andrösen ausgesprochen.
Man kennt das: Sieg im Länderpokal für den Underdog der Staffel und dann knallen die Sektkorken. Ehe ein paar Wochen später der große Kater über dem Verein einbricht, da er sich mit dem Anforderungskatalog des DFB konfrontiert sieht. Unzählige TV-Kameras müssen im Stadion untergebracht werden können, VIP-Logen vorhanden sein und Horden an Security-Mitarbeitern in Dienst gestellt werden. Es braucht jede Menge Parkplätze und selbst der Abstand der Haken in den Umkleidekabinen ist Teil eines 80-seitigen Anforderungskatalogs.
Für viele Klubs ist das im gewohnten, heimischen Umfeld überhaupt nicht zu stemmen, weshalb sie in größere Stadien umziehen und sowohl sportlich als auch atmosphärisch ins Hintertreffen geraten. Ganz zu schweigen von den Kosten, die damit verbunden sind. Und so bleibt für viele unterklassige Vereine kaum etwas übrig vom zunächst so üppig klingenden Startgeld in Höhe von inzwischen 215.600 Euro. Wir lernen: Auch Pokalgesetze können ätzend sein.
Und trotzdem: So schön wie in der ersten Pokalrunde wird es eigentlich nie wieder in der Saison. Ob es um den traumhaften Pokaleinzug von Makkabi Berlin geht oder nur darum, dass irgendein Viertliga-Spieler, der im Hauptberuf Klempner ist, einem Bundesligisten wenigstens für eine Halbzeit die Schweißperlen auf die Stirn wemst.
Im Pokal wird Deutschland vermessen. Oder wussten sie, dass Bersenbrück, Gegner von Bundesligist Mönchengladbach, eine Kleinstadt an der Hase im niedersächsischen Landkreis Osnabrück ist? In der ersten Pokalrunde scheint der große Fußball noch ganz nah, ehe er sich spätestens mit Beginn der Champions League-Saison anfühlt wie die Verlängerung eines Playstation-Spiels. In der ersten Pokalrunde ist der Volkssport Fußball noch am ehesten bei sich. Bratwurst statt VIP-Loge. Und trotzdem großer Sport. Ließe sich das als Gesetz formulieren, es fände wohl viele Anhänger.
Sendung: rbb24, 12.08.2023, 18 Uhr
Beitrag von Ilja Behnisch
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