Analyse | Union Berlins Champions-League-Auftakt
Seit Jahren geht es für Union Berlin nach oben. Nun ist das Team in der Champions League angekommen. Das erste Spiel gegen Real Madrid ging verloren. Trotzdem haben die Eisernen gezeigt, dass sie sportlich mithalten können. Von Till Oppermann
Emotional anzukommen, das war beim 1. FC Union Berlin in den letzten Jahren das große Thema. Viel Zeit blieb dafür nicht. Auf den Aufstieg in die Bundesliga folgte der Klassenerhalt und dann direkt dreimal hintereinander die Qualifikation für den Europapokal – fünf Jahre wie ein Fiebertraum. Die meisten Unioner haben ihren Verein auf staubigen Stehplatztribünen kennengelernt, es roch nach Grillkohle und schalem Bier.
6.000 von ihnen haben ihre Unioner am Mittwochabend im frisch renovierten Estadio Santiago Bernabeu gesehen. Im vielleicht bekanntesten Fußballstadion der Welt hätten sie emotional kaum weiter entfernt sein können vom alten Union-Gefühl. Kein Wunder, dass es mal wieder darum ging, anzukommen. Und wie. Nachdem Real Madrid durch ein Tor in der Nachspielzeit gewann, könnte man sagen: Jetzt weiß Union, wie sich die Champions League anfühlt.
Real ist ein Mythos und das nicht nur, weil die Königlichen Rekordsieger der Königsklasse sind. Es ist die besondere Aura, um jeden Preis gewinnen zu wollen, die diesen Verein umweht. Diese Aura hat sich Real auch mit vielen späten Siegtoren erspielt. Sei es im Finale von 2014 auf dem Weg zur "La Decima", dem zehnten Triumph in der Champions League, als Sergio Ramos in der Nachspielzeit mit einem Kopfballtor die Verlängerung erzwang.
Oder das Halbfinale vor anderthalb Jahren, als Real mit Toren in der 90., 91. und 95. Spielminute gegen Manchester City das Finale erzwang. Union reiht sich da in eine illustre Liste ein. Nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch, weil eine späte Niederlage vorher ein enges Spiel erfordert. Anders als in den ersten Spielen in der Conference und Europa League haben die Eisernen im Bernabeu kein Lehrgeld gezahlt. Sie lieferten Real defensiv fast das perfekte Spiel. Union habe sehr gut verteidigt, lobte auch Real-Trainer Carlo Ancelotti: "Sie haben uns nicht viel Raum gelassen, um zwischen den Linien zu spielen".
Urs Fischer schickte seine Mannschaft in einer 5-4-1-Formation aufs Feld, in der Stürmer Sheraldo Becker ins Mittelfeld rückte, um Angriffe über Reals Linksverteidiger David Alaba zu unterbinden. Den verletzten Robin Knoche ersetzte Leonardo Bonucci, der zu seinem ersten Startelfeinsatz kam. Bonucci tat, was er schon immer tut, seit er vor 17 Jahren sein Profidebüt gab. Er organisierte die Abwehr, glänzte mit intelligentem Stellungspiel und verteidigte mit viel Ruhe gegen eine der besten Mannschaften der Welt.
Aber eben nicht alleine: Dass Union bis zur 90. Minute die Null halten konnte, lag auch an Bonuccis Nebenleuten Danilho Doekhi und Diogo Leite, die dem Europameister in nichts nachstanden. Sie segelten durch den Strafraum, blockten Schüsse und klatschten sich danach ab. Fußball im Kollektiv, so wie sie es bei Union lieben. Auch Frederik Rönnow bewies im Tor mindestens internationale Klasse. In der Summe ergibt das eine der besten Defensivabteilungen Europas. "Ich glaube, wir haben eine sehr gute Leistung gezeigt", war sich Frederik Rönnow sicher.
Feiern wollte der Torwart trotzdem nicht. Natürlich sei es bitter, in der Nachspielzeit zu verlieren, sagte er nach dem Spiel und kritisierte: "Wir hatten zu viele einfache Ballverluste." Ein leidiges Thema bei Union: Wenn es etwas an den Leistungen zu kritisieren gibt, ist es stets das Spiel im eigenen Ballbesitz. Gegen Real funktionierte besonders die Spielfortsetzung nach Ballgewinnen schlecht. Anstatt einen Konter auszuspielen oder die Defensive wenigstens durch eine eigene Ballbesitzphase zu entlasten, kloppten die Köpenicker die Bälle reihenweise senkrecht in den Madrider Abendhimmel.
Einen besonders schwierigen Abend erlebte Kevin Behrens, der die undankbare Aufgabe hatte, die langen Bälle gegen Antonio Rüdiger festmachen zu müssen: "Wir haben den Ball, den wir gewonnen haben, zu schnell wieder verloren und konnten in unserem Umschaltspiel auch nicht in die Konter kommen." Er erlebte es am eigenen Leib. Vor dem Spiel forderte Urs Fischer mehr Mut von seiner Mannschaft. Etwas mehr Ruhe nach Ballgewinnen hätte es auch getan.
Und trotzdem hat die Mannschaft ihre Mutprobe in Madrid bestanden. Es gehört mental einiges dazu, auch auf der größtmöglichen Bühne genau das Gleiche wie immer zu machen. Taktisch ist kaum ein Team in Europa so gut eingestellt wie der 1. FC Union. Zumal mit Knoche und Rani Khedira das Herzstück des Teams derzeit verletzt fehlt. Dazu standen mit Bonucci, Doekhi, Becker und Lucas Tousart einige Spieler mit Trainingsrückstand in der Startelf.
Zum Rückspiel in Berlin wird auf Real Madrid ein besserer Gegner warten. Im letzten Gruppenspiel könnte es für Union dann um die Qualifikation für das Achtelfinale gehen. Die K.o.-Runde der Champions League wäre ein Anlass, mal wieder irgendwo anzukommen.
Sendung: rbb24, 20.09.2023, 21:45 Uhr
Beitrag von Till Oppermann
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