Champions League
Union Berlin, das ist Understatement und Bescheidenheit. Ausgerechnet zum Debüt in der Königsklasse tritt der Verein bei Real Madrid an, wo es um Inszenierung und Übersteigerung geht. Warum das weiße Ballett der größte Klub der Welt ist. Von Shea Westhoff
Ganz unsortiert, das sind die ältesten Erinnerungen, die ich, Autor des Textes, von diesem irgendwie entrückten Verein Real Madrid habe: ölige, zurückgegelte Haare, melancholische Blicke, schöne Namen, ein aus den Fernsehlautsprechern dröhnendes Pfeifkonzert der Real-Fans bei gegnerischem Ballbesitz, lange wachbleiben dürfen, Herzklopfen. Und das Wissen, dass es gegen diese Mannschaft in Weiß eigentlich nichts zu holen geben kann.
Festgesetzt haben sich diese Eindrücke aus den TV-Übertragungen zum Ende der 1990er Jahre. Aber ebenso gut könnten diese Eindrücke von einer Kindheit in den 1970ern stammen oder auch, sagen wir, dem Jahr 2023, wenn nämlich Union Berlin in seiner Champions-League-Premiere auf Real Madrid trifft. Die Aura des Klubs ist unveränderlich. Deswegen vermittelt er seit Generationen ein ähnliches Gefühl.
Geht es gegen Real Madrid, ist der Spieltermin Fixpunkt des gegnerischen Saisonkalenders. Weil Real Madrid das Nonplusultra des Fußballsports ist. Es gibt Spitzenklubs, und es gibt Real Madrid. Ein Mythos in Weiß.
Eine Mannschaft, die immer gewinnen will und gewinnen muss. Klingt ein wenig nach Bayern München. Nun ja. Wenn man in München unzufrieden ist mit der abgelaufenen Saison, dann kauft man Harry Kane. Wenn sie aber in Madrid hadern, wie 2009 nach einer Vizemeisterschaft, dann holen sie Cristiano Ronaldo und Karim Benzema. Und Kakà. Und Xabi Alonso. Innerhalb weniger Wochen. Und dann wird gefälligst gezaubert.
Dass Real Madrid zum Großteil aus Show besteht, liegt auch am Naturell des Fan-Anhangs. Für den ist das Beste nicht einmal gerade gut genug, sondern das Beste soll bitte auch schön sein.
Wenn Fußball der Inhalt ist, so ist Real Madrid seine Form. Nirgends kann die Schönheit dieses Sports so umfänglich ausgelotet werden wie bei den Königlichen. Deswegen strebten die größten Genies des Fußballs immer schon zu Real.
Um es deutlich zu sagen: Einen formvollendeten Rotwein bekommst du eben nicht, wenn du ihn im Planschbecken reifen lässt, sondern in Fässern lagerst. Inhalt und Form. Das wussten auch die Sommeliers Puskas und di Stefano und Netzer und Zidane und Figo und Ronaldo und manche Virtuosen mehr. Real Madrid war ihre Bestimmung.
Und das ist ja das Schönste: Weil der gesamte Klub so theatralisch und prätentiös auftritt, macht er auch seine Gegner größer. Weil da plötzlich eine Bühne ist. Eine Begegnung mit den Königlichen bedeutete für so manch späteren Weltstar einen Vorgeschmack des späteren Ruhms. Für Bastian Schweinsteiger, der 2003 als Einwechselspieler des FC Bayern plötzlich auf Zinedine Zidane angesetzt wurde und mit seinem unbeschwerten Auftritt die Fußballwelt entzückte. Für Robert Lewandowski, dessen vier Tore gegen die Disco-Rausschmeißer Pepe und Sergio Ramos dem endgültigen Durchbruch als weltweit begehrter Angreifer gleichkamen. Für den damals 19 Jahre alten Leroy Sané, der Real Madrid in einem Achtelfinal-Rückspiel mit Schalke 04 mit unwiderstehlichen Dribblings fast das sicher geglaubte Weiterkommen verhagelte.
Nicht nur Fußballer lässt Real Madrid leuchten. Nachdem 1998 im Halbfinale der Champions League ein Tor im Bernabeu-Stadion plötzlich umgefallen war, bewältigten Günther Jauch und Marcel Reif die unvorhergesehene Situation im Vorfeld der Begegnung mit Borussia Dortmund durch eine schmissige, spontane Moderation, für die sie sogar mit einem TV-Preis ausgezeichnet wurden. Die TV-Einlage ist längst Legende. Die Frage ist, ob sie auch Legendenstatus erreicht hätte, wenn der BVB gegen, sagen wir, Deportivo La Coruna gespielt hätte.
Eine Partie gegen Real Madrid schreibt die unwahrscheinlichsten Geschichten, ist Schauspiel, Drama. Obwohl es ja eigentlich ohnehin nichts zu holen gibt gegen diesen Klub. Und genau darauf kann sich Union Berlin am meisten freuen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.09.2023, 08:15 Uhr
Beitrag von Shea Westhoff
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