Hertha verliert verdient gegen St. Pauli
Hertha BSC wurde bei der 1:2-Niederlage vom FC St. Pauli die Grenzen aufgezeigt. Ausschlaggebend für den Misserfolg waren ein übermächtiger Gegner, aber auch eigene taktische Defizite. Die große Panik sollte bei den Blau-Weißen aber nicht aufkommen. Von Marc Schwitzky
66.000 Zuschauer, Flutlichtspiel im Olympiastadion, die Chance auf den dritten Sieg in Folge und damit eine echte Serie, mit dem FC St. Pauli ein namenhafter wie qualitativ hochwertiger Gegner – es sind genau solche Rahmen, die Hertha BSC in den letzten Jahren eigentlich nie zu nutzen wusste. "Typisch Hertha" hieß es, wenn die Berliner solche Momente durch eine Niederlage liegen ließen. Immer dann, wenn es droht, so richtig schön zu werden, greift die "alte Dame" nicht zu – das Hertha-Syndrom.
Und so könnte sich auch die 1:2-Niederlage gegen St. Pauli am Samstagabend in jene Erzählung einreihen. Doch das Gefühl nach Abpfiff war ein anderes: Mannschaft und Fans gingen nicht enttäuscht oder gar gebrochen nach Hause. Stattdessen baute man sich gegenseitig auf. Als die völlig ausgelaugten Spieler in die Ostkurve gingen, wurden sie sogar gefeiert. Ihr kämpferischer Einsatz und ihre Moral wurden von den Fans honoriert, ein Vorsänger bestätigte der Mannschaft, sie sei eine ganz andere als die aus der Vorsaison. Es wurde miteinander gehüpft und gesungen – weil im Fußball Siegen eben nicht alles ist. Besonders nicht gegen ein St. Pauli, das an jenem Abend einmal mehr bewies, die vermutlich beste Mannschaft der 2. Bundesliga zu sein und die Hertha deutlich die Grenzen aufzeigte.
Oftmals werden belanglose 0:0-Unentschieden mit "ein Spiel für Taktikliebhaber" betitelt, wobei das nur sehr selten stimmt. Meistens fällt sowohl den Mannschaften als auch dem Kommentator in jenem Moment nur nichts Besseres ein. Doch auf die erste Halbzeit zwischen Hertha und St. Pauli passte jene Beschreibung, denn beide Teams agierten gegen den Ball eine lange Zeit auf sehr hohem Niveau, sodass die Begegnung Mühe hatte, Fahrt aufzunehmen.
Beide Mannschaften hatten in der Defensive wenig zugelassen. St. Pauli war das Selbstbewusstsein der besten Abwehr der Liga anzusehen, nur vier Gegentore hatten die Hamburger vor dem Spiel kassiert. Hertha, in der Aufstellung unverändert zum Spiel gegen Holstein Kiel, agierte äußerst diszipliniert im flachen 4-4-2 gegen den Ball. Die Berliner waren sehr darauf bedacht, die Abstände zu halten und so die Räume nicht zu groß werden zu lassen. Gegen St. Paulis äußerst gefährliches Positionsspiel mit vielen Positionswechseln hilft vor allem eine sehr geordnete Raumverteidigung – das schaffte Hertha in den ersten 25. Minuten hervorragend. Bis dahin war es eine sehr reife Vorstellung.
Und doch gingen die Blau-Weißen als Verlierer aus der ersten Halbzeit. In der 25. Minute waren die Hausherren erstmals nicht griffig genug, ließen Tempodribbler Elias Saad zu viel Platz, der Torschütze Johannes Eggestein bediente. Ein ärgerlicher Gegentreffer - hatte Hertha es bis dahin doch gut gemacht. Aber gegen das Spitzenteam aus Hamburg muss man einen möglichen Rückstand auch einkalkulieren.
Vielmehr war die fehlende Antwort das Problem. Hertha wusste gegen den Ball strukturell zu bestehen, war im direkten Zweikampf und Kreieren von Torchancen aber unterlegen. Eine alte Dame, die geistig zwar voll auf der Höhe ist, aber zunächst ihr Gebiss vergessen hatte und somit zahnlos wirkte. "Die erste Halbzeit war gar nichts, da waren wir nicht mutig genug", kritisierte Stürmer Haris Tabakovic nach Abpfiff.
Dass Hertha den Gegner aus der Hansestadt offensiv vor nur wenige Probleme stellte, hatte maßgeblich mit einem Problem zu tun, das eigentlich der Vergangenheit angehören sollte, mit der Verletzung von Palko Dardai aber wiederkehrte: die fehlende Besetzung des Zehnerraums. Mit Marton Dardai und Andreas Bouchalakis hatte Hertha eine Doppelsechs, der es klar an Dynamik und Bewegung ohne Ball mangelte. So war das spielerische Zentrum der Berliner überaus statisch angelegt. Dem Problem konnte mit dem sehr agilen Palko Dardai noch entgegengesteuert werden, doch seit dessen Ausfall spielte Smail Prevljak. Der bosnische Stürmer sollte als hängende Spitze in einem 4-4-1-1 agieren, doch er hatte größere Probleme, den großen Raum hinter Tabakovic auszufüllen.
So fehlte Hertha wie zu Saisonbeginn das verbindende Element im Mittelfeldzentrum. In den ersten Spielen, als neben Marton Dardai noch Pascal Klemens und auf der vermeintlichen Spielmacherposition Marco Richter spielte, fehlte es ebenfalls an genügend Spielübergängen – andere Spieler, das gleiche Problem. Da Herthas Doppelsechs sich so statisch verhielt und keine Räume schuf, konnten auch die so spielstarken Außenverteidiger, die eigentlich so essenziell für Herthas Spielaufbau sind, nicht effektiv eingebunden werden. So strahlte Hertha beinahe über die gesamte Partie zu wenig Agilität und dadurch Torgefahr aus, was besonders gegen einen defensiv so stabilen Gegner zu Frustration führte. Hier wird Trainer Pal Dardai neue Lösungsansätze finden müssen, um Hertha weniger ausrechenbar zu machen.
In der zweiten Halbzeit versuchte das Trainerteam, sich mit mehreren Umstellungen bis hin zu einem 3-4-3 ab der 70. Minute zu behelfen. Hinzu kam, dass Übungsleiter Dardai seinen Spielern ein deutlich aggressiveres Zweikampfverhalten verordnet hatte. Beide Faktoren führten zusammen zu einem insgesamt offeneren, aber auch zerfahreneren Spiel, in welchem Hertha durch klareren Zugriff und vertikaleres Spiel etwas mehr Druck entwickeln konnte, St. Pauli aber weiter die besseren Torchancen hatte. Das Offensivspiel St. Paulis war deutlich flüssiger.
So war es folgerichtig, dass die Kiezkicker trotz einer leicht verbesserten Hertha in der 73. Minute das 0:2 erzielten. Doch Hertha gab sich nach dem erneuten Rückschlag nicht auf, bäumte sich zur stärksten Druckphase der Begegnung auf und erzielte in der 83. Minute den 1:2-Anschlusstreffer. Hohes Pressing und aggressive Zweikampfführung führten zum Tor von Derry Scherhant - Faktoren, die zuvor über weite Teile gefehlt hatten. "In der zweiten Halbzeit haben wir eine andere Körpersprache gezeigt. Natürlich: top oder flop - wir sind viel Risiko eingegangen. In der Endphase kannst du sogar den Lucky Punch setzen, das wäre aber auch nicht verdient gewesen", fasste Trainer Dardai zusammen.
Herthas Kampf in den letzten Minuten sollte nicht mehr belohnt werden, die Berliner verloren absolut verdient mit 1:2. Gegen den FC St. Pauli, der nun von der Tabellenspitze grüßt, waren die Blau-Weißen in nahezu jeder Phase des Spiels unterlegen. Die Mannschaft von Trainer Fabian Hürzeler hat den Hauptstädtern aufgezeigt, dass es noch ein langer Weg sein wird, sich zu einem echten Topteam der 2. Bundesliga zu entwickeln. So ist die Heimniederlage vor allem in der Stärke des Gegners begründet, was zu einem milden Urteil beiträgt. "Seien wir ehrlich: St. Pauli war zu viel für uns, die sind weiter", hielt Trainer Dardai nach dem Spiel fest.
Hertha steht, das hat St. Pauli als Gradmesser gezeigt, noch am Anfang eines Prozesses. Das zeigt sich zum einen darin, dass die neu zusammengestellte Mannschaft noch nicht in der Lage ist, ein Spiel über die volle Laufzeit in einer kohärenten Spielweise zu bestreiten. Zum anderen fehlt es den Berlinern noch an Lösungen, wenn Plan A nicht funktioniert. Das ist angesichts der erst vier Wochen, in denen der Kader erst in seiner finalen Zusammenstellung arbeitet, wahrlich kein Grund zur Panik, muss jedoch der Ansporn sein, es zukünftig besser zu machen. Ein Auftrag an Mannschaft wie Trainerteam.
So ist es den Berlinern am Samstagabend zwar noch nicht gelungen, die Floskel "typisch Hertha" umzudeuten, doch erste positive Veränderungen in der Ausstrahlung von Verein, Mannschaft und Fans sind nicht zu leugnen.
Sendung: rbb24, 30.09.2023, 21:45 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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