Urs Fischer und Union Berlin
Union Berlin scheidet aus dem Pokal aus und verliert zum elften Mal in Folge. Dabei wirken die Maßnahmen des Trainers wie Verzweiflungstaten. Und die Leistung der Mannschaft wie ein Abgesang. Von Ilja Behnisch
Nimmt man es mit Humor - und das wäre angesichts der Alternativen unbedingt geraten - könnte man sagen: Es ist erstaunlich, dass an diesem 31. Oktober 2023 nicht viel mehr Menschen mit Trikots des 1. FC Union Berlin durchs Land gezogen sind. Denn was wäre aktuell eine gruseligere Halloween-Verkleidung als dieses Leibchen?
Man muss sich das nochmal vor Augen führen nach dieser 0:1-Niederlage in der zweiten Runde des DFB-Pokals: "NNNNNNNNNNN". Das ist nicht etwa der Arbeitsnachweis eines schläfrigen Beamten, der auf seinem beliebtesten Tastatur-Kürzel eingeschlafen ist. "NNNNNNNNNNN", das ist die Formkurve des Bundesliga-Vorjahresvierten. Elf Mal "N" wie Niederlage.
Dabei haben sie nichts unversucht gelassen, weil "irgendwas muss man ja tun", wie Kapitän Christopher Trimmel hinterher gestand. Also wechselte Trainer Urs Fischer mächtig durch, brachte im Vergleich zum Spiel bei Werder Bremen fünf Neue. Hätte sich Alexander Schwolow nicht beim Aufwärmen verletzt, wären es gar sechs Änderungen gewesen. Wobei der Wechsel im Tor schon anzeigt, dass inzwischen eine gewisse Verzweiflung Einzug gehalten hat bei den Berlinern. Aber irgendwas muss man ja schließlich tun. Weshalb Fischer auch gleich noch am System schraubte und erstmals in dieser Saison auf eine Viererkette und ein 4-2-3-1 setzte.
Ein System, mit dem Fischer dereinst in Basel äußerst erfolgreich war, so erfolgreich, dass es vor seinem Wechsel nach Berlin vor etwas mehr als fünf Jahren als sein Lieblingssystem galt. Was gefühlte 5.000 Union-Spiele mit Dreierkette später kaum mehr vorstellbar scheint. Aber auch darüber hinaus lassen sich gute Gründe für das System finden. Das 4-2-3-1 ist eine derart verbreitete und in der Jugend eines jeden Fußballers durchexerzierte Formation, dass jeder Profi selbst mit getrübter Wahrnehmung in der Lage sein sollte, es zu beherrschen. Union spiegelte damit zudem Stuttgarts Aufstellung. Ein durchaus bewährtes Mittel, in Zeiten der eigenen Unsicherheit. Auge um Auge, Stuttgart und Union.
Defensiv ging der Plan durchaus auf. Die Abstände stimmten, die sehr situativen Pressing-Auslösungen im Mittelfeldzentrum waren gelungene Gemeinschaftswerke. Dass der VfB Stuttgart in der Bundesliga-Tabelle derzeit auf Rang drei geführt wird, war dabei zumindest vom ersten bis zum dritten Blick nicht unbedingt ersichtlich. Die Schwaben spielten zwar mit dem Selbstbewusstsein eines Spitzenteams, allerdings ohne ein Spitzenteam zu sein.
Den gruselig harmlosen Berliner Angriffsbemühungen hingegen war die aktuelle Situation anzusehen. Wer den Union-Sturm an diesem Abend mit der Frage "Süßes oder Saures" hätte behelligen wollen, hätte nur eine Antwort erhalten: Niemand da.
Rechtsaußen Benedict Hollerbach zeigte bei seinem Startelf-Debüt für Union, dass er über einen stabilen Körper und schnelle Beine verfügt, in Sachen Handlungsschnelligkeit jedoch noch nicht auf Bundesliga-Niveau angekommen ist. Zuweilen konnte man ihm das Grübeln förmlich ansehen, wobei Verzweiflung ja selten Unterhaltungswert hat. Immerhin trat Hollerbach überhaupt in Erscheinung. Von der hängenden Spitze Kevin Volland konnte man das wahrlich nicht behaupten.
Der Ex-Nationalspieler hatte in der gesamten ersten Halbzeit lediglich neun Ballkontakte. Mit Abstand die wenigsten auf dem Platz. Immerhin seine Zweikampf-Quote lag bei 100 Prozent. Was vermutlich daran lag, dass er keinen einzigen Zweikampf bestritten hatte. Der vor ihm postierte Kevin Behrens machte sich vor allem durch cheffige Anweisungen in Richtung seiner Mitspieler bemerkbar. Und dadurch, in der 50. Minute die einzige, sehr gute Konterchance Unions auf eine Art zu verstockfehlern, dass man sich hinterher selbst als neutraler Beobachter beim Ball entschuldigen wollte.
Mit dem hatte der als Linksaußen aufgestellte Sheraldo Becker weniger Probleme. Dafür zur Genüge mit seiner ungewohnten Position, die er zuletzt im Juli 2021 für die Nationalmannschaft Surinames bekleidet hatte (2:1 gegen Guadeloupe).
Später wechselte Trainer Fischer unter anderem noch Mikkel Kaufmann für Behrens ein, stellte erst auf Zweier- dann auf Dreiersturm um. Kurzum: Sie machten und taten und rannten und kämpften. Allein Christopher Trimmel dürfte an diesem Abend um drei Tage gealtert sein, so sehr quälte er seinen für Profi-Fußballer ja schon methusalem-artigen Körper. Weshalb er in der 80. Minute durch Links- und Nationalverteidiger Robin Gosens ersetzt wurde, positionsgetreu wohlgemerkt. Spätestens jetzt war die Messe gelesen, die Mannschaft auseinander gefallen. Wobei, um mal ein Kompliment in die Beschissenheit der Union-Dinge zu stellen: Vermutlich gab es selten eine Mannschaft, die so konstant erfolglos und dennoch so konstant ok spielte.
Allein es nützte nichts. Unions Schluss-Offensive betonte vor allem ein Wort: Schluss. Die Mannschaft erspielte sich keine einzige Torchance, spielte wie ein Ungläubiger, den es zum Gebet treibt. Die anwesenden Fotografen dürften häufig "Urs Fischer, verzweifelt" in ihre Bildbeschreibungen getippt haben an diesem Abend. Immer wieder verschränkte er die Arme hinter dem Rücken, presste die Hände gegeneinander, quetschte die Anspannung aus sich heraus. Irgendwas muss man ja tun. Auch nach Schlusspfiff.
Also eilte Urs Fischer nach dieser elften Niederlage in Folge auf den umsichtigen Schiedsrichter dieser Partie zu, um nach offenbar zu deutlichen Worte die rote Karte gezeigt zu bekommen von Sascha Stegemann. Man will es nicht wahrhaben. Dafür ist das, was Urs Fischer mit Union Berlin, was dieser Verein in den vergangenen fünf Jahre erreicht und geleistet hat, zu groß. Aber alles an diesem Zweitrunden-Aus deutet auf Abgesang hin.
Die Personal-Rochaden, der Systemwechsel, die rote Karte des Trainers. Verzweiflungstaten, so scheint es. Sollte sich der 1. FC Union Berlin dennoch zusammen mit Urs Fischer aus dieser Nummer befreien, dann wäre das wohl höher zu bewerten als der Aufstieg in die Bundesliga. Und Union-Trikots wären auch an 364 anderen Tagen im Jahr wieder zum Fürchten. Für die Gegner.
Sendung: rbb24 Inforadio, 1.11.2023, 9:15 Uhr
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