Herthas Sieg auf Schalke in der Analyse
Hertha BSC ist gegen Schalke 04 ein überaus wichtiger Sieg gelungen. Beim 2:1-Erfolg zeigten die Berliner zwar keine spektakuläre, aber eine sehr reife Leistung. Hertha hat einen neuen Entwicklungsschritt erreicht – und Trainer Pal Dardai mal wieder Recht. Von Marc Schwitzky
Hertha-Trainer Pal Dardai hat nahezu alle seiner Lebensjahre in der Fußballwelt verbracht. Seine frühesten Kindheitserinnerungen stammen aus den Kabinen der Mannschaften, die sein Vater trainierte. Dardai ist ein Kind des Fußballs. Mit dieser Lebensweise, diesen Erfahrungswerten entstehen gewisse Devisen, nach denen jemand lebt. Dardai ist ein Trainer mit zahlreichen Devisen, die er in prägnanten Sprüchen ausdrückt.
Vor allem in seiner ersten Amtszeit bei Hertha BSC gab der 47-Jährige viele dieser Sprüche zum Besten. Dardai betonte zum Beispiel immer mal wieder, sollten nur drei bis vier Spieler in einer Partie Normalform erreichen, nehme er das auf seine Kappe – denn dann müsse etwas in der Trainingssteuerung und/oder Spielvorbereitung falsch gelaufen sein. Nach spätestens sechs Niederlagen in Serie müsse man laut ihm als Bundesliga-Trainer gehen – die Entscheidung Herthas, ihn erstmals gehen zu lassen, erfolgt 2019 nach fünf Pleiten infolge.
Dardai ist auch ein Zahlenmensch. Einst sagte er, dass man als neuer Trainer eigentlich sechs Wochen Vorbereitung bräuchte, um die Mannschaft kennenzulernen und auf die eigenen Ideen einzustellen. Auch hier präsentiert er sich als Wahrsager: Herthas erster Sieg in seiner zweiten Amtszeit erfolgte am 6. März 2021 – fünf Wochen und fünf Tage nach seinem Amtsantritt.
Pal Dardai seziert zudem den Spielplan gerne in kleinere Einheiten, aus denen er eine gewisse Anzahl aus Punkten holen will. So auch in der laufenden Saison. Vor dem Spiel gegen den FC Schalke 04 sah er seine Mannschaft durchaus im Soll: "Nach meiner Rechnung haben wir minus einen Punkt. Bei Schalke war der Plan vor der Saison ein Punkt. Wenn wir drei holen, sind wir zwei im Plus", rechnete Dardai vor. "Daher ist es ein bisschen ein Schicksalsspiel, es kann viel öffnen. Das wird uns hoffentlich nicht hemmen, sondern für positive Motivation sorgen.“
Es ist bemerkenswert, wenn Trainer das Wort "Schicksalsspiel" selbst in den Mund nehmen, da sie – um den Druck nicht öffentlich zu erhöhen – sonst keiner Liga-Partie eine besondere Bedeutung zurechnen wollen. Doch Dardai tickt anders. Seit jeher versucht er, seine Schützlinge mit solchen Manövern zu kitzeln.
Als Trainerfuchs weiß Dardai natürlich auch im die Situation des Gegners. Schalke 04 stand nach zuletzt dramatisch schwachen Leistungen und der jüngsten 1:3-Niederlage gegen Paderborn massiv unter Druck. Hertha wollte diese Notlage ausnutzen: nicht indem die Berliner hemmungslos einen Angriff nach dem nächsten fahren, sondern durch eine auffällig kontrollierte Spielanlage. Dardai wollte offensichtlich kein wildes Spiel riskieren.
So kam die erste Halbzeit wenig spektakulär daher. Hertha lief zwar im Pressing sehr hoch und aggressiv an, um so Fehler bei den verunsicherten Gelsenkirchenern zu provozieren, doch mit dem Ball wurden leisere Töne gespielt. Die Berliner wollten Schalke keinesfalls durch eigene Fehler einladen. Schalke musste, das wusste Dardai. So kochte Hertha das Spiel durch lange Ballbesitzphasen und langsames Spiel herunter. Dabei entstanden zwar wenige eigene Angriffsmomente, doch Dardai spekulierte: Bei Schalkes so wackeliger Defensive – die "Königsblauen" kassierten in den drei Spielen zuvor neun Gegentore – werden die Chancen kommen, Hertha muss sie nicht erzwingen und dafür eine Unwucht im eigenen Spiel riskieren.
So kam es auch: in der 41. Minute erzielte Smail Prevljak das 1:0 für die Gäste. Für die Führung brauchte es lediglich einen weiten Einwurf, einen gewonnenen zweiten Ball, eine erneute Hereingabe und die mangelhafte Konzentration der Schalker Abwehr. Kein Hexenwerk. Da Hertha in nahezu allen Statistiken den entscheidenden Anteil besser war, war die Führung zwar nicht hochverdient, doch Schalke konnte sich aufgrund der fehlenden eigenen Spielanteile auch nicht wirklich beschweren. Dardai wusste, dass seine Mannschaft sowohl mental als auch in der Spielanlage weiter ist als der Gegner und spielte jenen Vorteil höchst pragmatisch aus.
Auch der Treffer zum 2:0 war ein Resultat dessen, dass Hertha um seine Stärken wusste. Immer wieder wurde Flügelspieler Fabian Reese in die direkten Duell mit dem gnadenlos unterlegenen Henning Matriciani geschickt. So auch kurz nach der Halbzeitpause in der 51. Minute: Reese setzte sich am Strafraum einmal mehr sehenswert per Tunnel gegen Matriciani durch, um dann auch Torhüter Justin Heekeren mit seinem Schuss zu tunneln – eine herausragende Einzelaktion zum 2:0.
Es war eine bis dahin überaus reife Leistung der Berliner Mannschaft. Defensiv erlaubt sich die "alte Dame" bis dahin kaum einen Schnitzer, in den Grundtugenden des Fußballs kaufte sie den Schalkern immer wieder den Schneid ab und offensiv war sie äußerst effektiv.
Doch so eine 2:0-Führung ist bekanntlich trügerisch. Schalke musste nun alles riskieren, um nochmal in die Nähe eines Punktgewinns zu kommen – und da begann Herthas Souveränität zu bröckeln. Auf Umschaltaktionen lauernd standen die Berliner ab der 60. Minute oftmals etwas zu tief, was Schalke Druck aufbauen ließ. Hier konnte sich Torhüter Tjark Ernst gleich mehrmals auszeichnen, mit insgesamt fünf Paraden wurde der erst 20-Jährige hinten raus zum heimlichen Matchwinner.
Ernsts Paraden, gelegentliche Entlastung nach vorne und auch das nötige Quäntchen Glück sorgten dafür, dass Hertha bis zur 80. Minute mit zwei Toren in Führung blieb. Dann erzielte Schalke den durchaus verdienten 1:2-Anschlusstreffer, der die Hauptstädter noch einmal zum Zittern brachte. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Hertha in der Schlussviertelstunde gleich zweimal das Aluminium traf, die Vorentscheidung also nur knapp verpasste. Und doch brauchte es starke Nerven, eine gute Mentalität und einen hervorragenden Torhüter, um das 2:1 über die Zeit zu retten.
Der Sieg auf Schalke, er ist ein immens wichtiger für Hertha BSC. Mit nun zwölf Punkten schieben sich die Berliner in die obere Tabellenhälfte und bringen fünf Zähler zwischen sich und S04. Darüber bestätigt der dritte Sieg aus den letzten vier Spielen die aufsteigende Form und fortschreitende Stabilisierung der Mannschaft. Hertha ist endgültig in dieser Saison angekommen. Ein großer Verdienst der Spieler, aber vor allem des Trainerteams rund um Pal Dardai.
In den letzten Wochen hatte Dardai nicht immer ein glückliches Händchen, doch der Sieg am 9. Spieltag geht auf den Ungarn zurück. Die pragmatische Spielanlage war sehr gut auf die mentalen Herausforderungen dieser besonderen Begegnung mit dem Mit-Absteiger abgestimmt, das Herunterkochen der Partie funktionierte über weite Strecken. Auch die überraschende Hereinnahme von Jonjoe Kenny und Deyovaisio Zeefuik für mehr Aggressivität gegen den Ball und eine bessere Defensivleistung hat sich bezahlt gemacht.
Es scheint, als würden Kader und Trainer immer besser zusammenfinden, als würden sie ein besseres Gefühl füreinander entwickeln. Doch wen sollte dies wundern? Seitdem das Sommer-Transferfenster geschlossen hat, sind beinahe sechs Wochen vergangen – jene sechs Wochen, die es laut Dardai bräuchte, um eine Mannschaft auf die eigenen Ideen einzustimmen. Hier geht die Rechnung des erfahrenen Vollblut-Fußballers einmal mehr auf. Seinen Kalkulationen zufolge ist Hertha nun "zwei Punkte im Plus" – es bleibt abzuwarten, ob der Sieg im "Schicksalsspiel" weiteres Überperformen ermöglichen wird. Pal Dardai hat sicher auch dazu eine Theorie.
Sendung: rbb24, 08.10.2023, 18 Uhr
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