Sportliche Erkenntnisse, Mitglieder und Geld
Unions Ausflug in die Champions League ist vorbei. Die drei Monate in der Königsklasse brachten dem Fußball-Bundesligisten neue Aufmerksamkeit, wirtschaftlichen Auftrieb und viele Emotionen. Nun hat der Klub mehr Zeit, um das zu verarbeiten. Von Till Oppermann
Wer wissen wollte, was die Qualifikation zur Champions League dem 1. FC Union Berlin gebracht hat, bekam am Dienstag eine weitere Antwort: Schon mittags spielte die U19-Mannschaft der Köpenicker im Jugendwettbewerb Uefa Youth League gegen den Nachwuchs von Real Madrid. Und über die Kulisse hätten sich vor zehn Jahren selbst die Profis noch gefreut. Mehr als 20.000 Zuschauer drängten sich auf den Rängen der Alten Försterei.
Der Verein hatte zahlreiche Schüler eingeladen und durch diese Aktion mit Sicherheit einige neue Fans für sich gewonnen. Viele Menschen sind in den letzten Monaten und Jahren zu Union gekommen. Sie werden dem Verein auch noch lange nach der Champions League erhalten bleiben.
Das zeigte sich später am Tag auch im Berliner Olympiastadion. Zum dritten Mal in dieser Gruppenphase war es mit über 73.000 Zuschauern ausverkauft. Die Zugkraft von Union war noch nie so groß. Das verdeutlichte schon der Mitgliederzuwachs. Im Olympiastadion konnten sich alle, die dem Verein sein Wachstum nicht so ganz abgekauft haben, mit eigenen Augen überzeugen. Die Köpenicker sind ihrem Heimatstadtteil im Berliner Südosten schon lange entwachsen.
In Berlin und in Deutschland kennt jetzt jeder Union. Aber auch international: Spiele gegen Real Madrid werden weltweit wahrgenommen und die Leistung der Berliner stimmte. Wie schon im Hinspiel verlor Union am Dienstag erst in letzter Minute. "Es war nicht einfach", sagte Real-Kapitän Nacho nach der Partie.
26 zu 74 Prozent Ballbesitz, acht zu 23 Torschüsse, 302 zu 884 versuchte Pässe mit 78 zu 95 Prozent Passquote: Rein statistisch gesehen war Union gegen Real so klar wie ein Armdrückwettbewerb zwischen einem Maulwurf und einem Braunbären. Aber das Spiel hatte mehr zu bieten als diese Zahlen. In den roten Trikots spielte eine Mannschaft, die nie aufgab und immer ihre Chance suchte. Eine Mannschaft, die Real zeitweise ab dem gegnerischen Strafraum presste. Eine Mannschaft, in der Spieler wie Jerome Roussillon, die, obwohl sie sowieso schon die ganze Zeit damit beschäftigt waren, ihren Gegenspielern hinterherzulaufen, auf technische Schwächen und Fehlpässe reagierten, indem sie giftig nachsetzten, bis das ganze Stadion stand und jubelte.
"Die Mannschaft kann stolz auf sich sein", sagte Trainer Nenad Bjelica trotz der Unterlegenheit und der 2:3-Niederlage. Obwohl seine Spieler nach einer Champions League-Saison ohne Sieg und mit drei verspielten Führungen enttäuscht waren - sie haben ihr Herz in beide Hände genommen. Das bleibt.
Kapitän Rani Khedira fluchte nach dem Spiel trotzdem über die Naivität des Teams. "Sie lernen daraus", hoffte Bjelica. Insbesondere die späten Heimspielniederlagen gegen Braga und Real trennten Union davon, in Europa zu überwintern. Dass die Mannschaft nicht in der Lage war, auf der größten Bühne eine Führung zu verteidigen, hatte aber nicht nur mentale Ursachen.
Es mangelt auch an sportlicher Klasse, wenn man wie gegen Braga dreimal ein Gegentor auf ähnliche Weise aus dem Rückraum kassiert oder wie gegen Real in der 89. Minute nach einem unnötigen Fehlpass im eigenen Angriff in einen Konter läuft. "Real war leider zu stark für uns", ist ein Fazit, das viele Trainer so ziehen müssen. Trotzdem gab das Spiel Nenad Bjelica Aufschluss darüber, woran es seinem Kader noch mangelt.
Diese Erkenntnisse können ihm auch bei seiner Hauptaufgabe helfen: dem Klassenerhalt in der Liga. Dafür planen die Unioner im Winter Änderungen im Kader. Für Bjelicas bevorzugtes 4-2-3-1-System gibt es zu viele zentrale Mittelfeldspieler, aber zu wenige Außenverteidiger und Flügelstürmer. Dieser Investitionsbedarf kommt für Union zu einem günstigen Zeitpunkt: Die Champions League-Gruppenphase hat Millionen in die Kassen gespült, die Union im Winter investieren kann, um den wichtigsten sportlichen Erfolg der vergangenen Jahre, die Etablierung in der Bundesliga, zu konservieren. Keiner von Unions Konkurrenten im Tabellenkeller hat auch nur annähernd so viel finanziellen Spielraum, um im Winter nachzubessern.
Womöglich kam die sportliche Misere in der Liga parallel zum Champions League-Rausch als Realitätscheck genau richtig. Traditionell hat Union Berlin viel damit zu tun, auszuloten, wer der Verein sein will. Schrulliger Nostalgie-Klub aus Köpenick? Moderner Fußballverein aus Berlin? Für Investoren in der Liga oder dagegen? Umzug ins Olympiastadion? Erfolg um jeden Preis?
Mit diesen Themen hatten viele Unioner auch ohne die Champions League schon genug zu kämpfen. Denn der Erfolg ihres 1. FC Union in den vergangenen Jahren war für viele mindestens ebenso beängstigend wie berauschend. Gefühlt ist der Verein für die meisten Fans sowieso eher Klassenerhalt als Königsklasse. Dass Union in Zukunft vorerst nicht mehr alle drei Tage spielt, gibt allen Zeit, ihre Gefühl zu verarbeiten. Gut so.
Sendung: rbb24, 12.12.2023, 21:45 Uhr
Beitrag von Till Oppermann
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