Interview mit Ewald Lienen
Das "On Screen"-Kurzfilmfestival zeigt bis zum Finale der EM ausgewählte europäische Fußball-Kurzfilme, den Auftakt macht am Donnerstag Potsdam. Schirmherr und Ex-Bundesligatrainer Ewald Lienen spricht im Interview über die Wichtigkeit des Fußballs für die Gesellschaft.
rbb|24: Herr Lienen, wie kam es zu der Schirmherrschaft für das Kurzfilmfestival "On Screen"?
Ewald Lienen: Das hat vor allem mit Birger Schmidt (Projektleiter des On Screen-Festivals, Anm. der Red.) zu tun. Ihn kenne ich schon seit meiner Zeit beim FC St. Pauli. In Berlin hatte ich schon beim "11mm Filmfestival" an einer Podiumsdiskussion teilgenommen aufgrund seiner Einladung. Und dann gab es noch das Projekt "Lernort Stadion", was wir gemeinsam auf St. Pauli und in vielen anderen Stadien zusammen umgesetzt haben, wo Birger Schmidt eine große Rolle gespielt hat. Diese Projekte finde ich einmalig und deshalb war es auch keine Frage, dass ich mich damit beschäftigen möchte. Das Festival wird einen großen Beitrag für das Kulturprogramm im Vorfeld der EM leisten.
Werden Sie auch vor Ort sein?
In Potsdam werde ich auf jeden Fall vor Ort sein. Darüber hinaus gibt es verschiedene Anfragen. Ich lebe in der Nähe von Bielefeld und dort findet auch ein Screening statt, ebenso wie in Mönchengladbach, wo ein Großteil meiner Familie beheimatet ist. Aber sicherlich werde ich nicht in 24 Städten vor Ort sein können. Das wäre zu viel des Guten. (lacht)
Liegt Ihnen die Fußballkultur besonders am Herzen in Zeiten der extremen Kommerzialisierung des Sports? Stichwort moderner Fußball.
Das Problem der Kommerzialisierung haben wir ja nicht nur im Fußball, sondern überall in der Gesellschaft. Wir haben es geschafft, unser ganzes Leben zu kommerzialisieren und dabei einen hohen Preis auf vielen Ebenen bezahlt. Ich kann verstehen, dass wir alle Geld verdienen müssen, aber wir sind übers Ziel hinausgeschossen. Das zurückzufahren ist überlebensnotwendig. Deshalb ist es auch so wichtig, im Vorfeld einer EM diese Dinge nach vorne zu treiben, und darum bin ich den Initiatoren von "On Screen" auch so dankbar.
Was macht Fußballkultur für Sie aus?
Das sind nicht nur unsere Fans, die im Stadion sind. Ich engagiere mich schon mein ganzes Leben im Fußball, aber über den Wettbewerb hinaus. Zunächst war Fußball für mich eine Rettung, eine zweite Familie, wo ich mich zu Hause gefühlt habe. Und das gilt für viele andere Kinder, Jugendliche und Erwachsene in unserem Land. Nur die Politik begreift es nicht in dem Maße. Wir sind immer fokussiert auf große Ereignisse wie die Bundesliga oder die Europameisterschaft. Aber Fußball wird jeden Tag gespielt.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir meinen Jugendverein VfB Schloß Holte. Der hat 1.000 Mitglieder, davon 600 Kinder- und Jugendliche. Die haben einen Rasenplatz und demnächst einen zweiten Kunstrasenplatz. Dort passiert soziale Arbeit, das heißt, dass man Werte vermittelt wie Fairness, wie Loyalität, wie Rücksichtnahme. Das passiert nur noch an wenigen Stellen unserer Gesellschaftssysteme. Jeder Verein und alles, was mit Sport zu tun hat, hat eine viel größere Bedeutung als das, worüber die Medienwelt – also auch Sie – teilweise berichten.
Also ist es ein Problem der medialen Gewichtung?
Ich engagiere ich mich auch deswegen bei solchen Sachen wie dem Filmfestival, weil man im Fußball medial hinsieht. Auch deshalb habe ich mich in den 70er Jahren politisch engagiert, obwohl vielleicht andere geeigneter gewesen wären. Aber wenn ein Fußballer etwas gesagt hat, dann waren komischerweise alle da. Und das ist auch heute noch so, weil es da ebenfalls um Kommerzialisierung und ums Verkaufen geht, anstatt dazu beizutragen, was man aus dem Fußball lernen kann. Eine solche EM ist eine große Chance einen Blick darauf zu werfen, und dass spiegelt sich auch in den Kurzfilmen des Festivals wider, da wird es viel um Fairness, Diversität und zwischenmenschliche Beziehungen gehen.
Tut die Sportpolitik zu wenig für die Basis, also für die kleinen Vereine?
Etwas zu fordern, ist immer ganz einfach. Die Probleme liegen aber viel tiefer. Meistens liegt es daran, dass wir nicht genug haben, weil wir die Töpfe einfach anders verteilt haben. Wir versäumen es letzten Endes unsere Gesellschaft auf die Zukunft vorzubereiten und dazu gehört auch die Ausbildung und die Wertevermittlung an Kinder und Jugendlichen. Dabei kann der Sport eine riesige Hilfe sein.
Müsste dort mehr professionalisiert werden?
Es reicht nicht aus, dass wir das nur ehrenamtlichen Trainern überlassen. Wenn all die Ehrenamtlichen morgen nicht mehr in die Vereine gehen würden, würde unser System, unser Land zusammenbrechen. Die sind systemrelevant – und das müssen wir erkennen. Der Fußball und solche Filme sind kleine Mosaiksteine, um darauf hinzuweisen, welche Werte wir fördern sollten. Zu häufig fördern wir leider Egoismus und Individualismus. Aber der Fußball ist ein wunderbares Beispiel wie eine Gruppe gemeinschaftlich durch Zusammenarbeit, Loyalität und Akzeptanz etwas gemeinsam erreichen kann.
Ihre letzte Trainerstation war 2017 beim FC St. Pauli, für den Verein waren Sie auch technischer Direktor und bis 2022 Markenbotschafter. Wo werden wir Sie zukünftig sehen?
Seit 2017 habe ich parallel zu meiner Tätigkeit bei St. Pauli eine ganze Reihe von weiteren Dingen gemacht, die ich nach wie vor mache. Ich halte bei Firmen, Organisationen und Kongressen Vorträge über Führungsverhalten, Teambuilding, Nachhaltigkeit oder Gemeinwohl-Ökonomie. Im Kreis Lippe bin ich seit 2020 Klimabotschafter, da geht es zum Beispiel um alternative Verkehrskonzepte, aber da geht es auch um Sport, weil auch der Sport viel mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Und mit Nachhaltigkeit meine ich nicht nur die Umwelt, sondern auch die Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen.
Herr Lienen, wir danken für das Gespräch!
Das Interview führte Fabian Friedmann für den rbb Sport.
Sendung: rbb24 Inforadio, 29.02.2024, 11:15 Uhr
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