Sichtungsturniere und Internatsleben
Mit einem einzigartigen Nachwuchskonzept bestimmen die Füchse Berlin und der VfL Potsdam den Handball in der Region. Aber wie finden sie ihre Talente? Und was wird den jungen Spielern abverlangt? Von Jakob Lobach
Es ist eine Stadtrundfahrt der beschwerlichen Art, die Levin Seyboth tagtäglich für den Handball auf sich nimmt. Vom Waldgymnasium im Westend startet der 13-Jährige zu Fuß in Richtung S-Bahn, die ihn anschließend entlang des Rings vom Westen in den Nordosten Berlins bringt. Umstieg an der Landsberger Allee, mit der Tram bis zur Hohenschönhausener Straße, zehn Minuten Fußweg bis zum Sportforum. Dort wartet erst das Training mit der C-Jugend der Füchse Berlin, dann der Rückweg. Zwei bis drei Stunden Fahrtzeit an vier Tagen in der Woche mit einem Ziel: den Traum vom Profi-Handball Realität werden zu lassen.
Seitdem er sieben Jahre alt ist, verfolgt Levin diesen Traum – als kleiner Junge zunächst im Trikot des Charlottenburger HC. Es folgten Sprünge an die Stützpunkte des Berliner Handballs und im vergangenen Sommer schließlich der Wechsel zu den Füchsen Berlin. Dort ist der Rückraumspieler nun Teil einer gut geölten Talentmaschinerie, die in den vergangenen Jahren zahlreiche Profis und Nationalspieler wie Fabian Wiede, Paul Drux oder zuletzt Nils Lichtlein hervorgebracht hat.
Aber wie finden die Füchse Talente à la Wiede, Lichtlein und Levin Seyboth? Und wie gewinnen Brandenburger Klubs wie der Zweitligist VfL Potsdam und der Drittligist Oranienburger HC kleine Handballer mit großer Zukunft für sich? Die Antworten finden sich in einem engmaschigen regionalen System sportlicher Sichtungen. Ein System, das jungen Sportlern wie Levin viel abverlangt und in dem die Grenzen zwischen Vereinen, Verbänden und Sportschulen fließend sind.
Die Stationen zum Einstieg in den Handball sind in Berlin und Brandenburg die gleichen: kleine Vereine. Rund 13.000 Mitglieder haben im Jahr 2023 laut dem Handball-Verband Brandenburg in dessen insgesamt 92 Vereinen Handball gespielt. In Berlin waren es rund 12.000 Aktive, darunter circa 4.800 Jungen und Mädchen. Viel Breite also, aus der die Verbände allen voran in Kooperation mit den Füchsen und dem VfL Potsdam früh diejenigen mit Potenzial für die Spitze herausfiltern wollen.
Der Handball-Verband Berlin beispielsweise beginnt, Talente an vier Stützpunkten in der Stadt zu sammeln, wenn diese zehn oder elf Jahre alt sind. Talente wie Levin, der zu diesem Zeitpunkt bereits stets eine Altersklasse über seiner eigentlichen spielte und über eine Empfehlung und ein Probetraining an den "Stützpunkt West" kam. Ein Jahr und eine weitere Runde des großen Aussiebens später folgte der Schritt an den noch exklusiveren "Zentralen Stützpunkt".
Stützpunkte – sie sind das wohl wichtigste Werkzeug der Füchse Berlin beim Graben nach Talenten. So erzählt Levin von den Stützpunktturnieren, bei denen Ost, West, Nord und Süd gegeneinander antreten, und "bei denen auch die Trainer von den Füchsen und der Auswahl für meinen Jahrgang dabei sind". Auch der Rückraumspieler selbst hinterließ dort Eindruck, glänzte mit vielen Toren und guten Anspielen." Bei meinem zweiten Turnier wurde ich zum besten Angreifer gekürt", erzählt Levin, "danach kamen die Füchse auf mich zu und haben mich zum Probetraining eingeladen."
Bob Hanning, der Manager der Füchse Berlin, listet gut vernetzte Trainer und eigens von den Füchsen durchgeführte Sichtungstage als weitere Methoden der Talentsuche auf. Dass Spieler aus anderen Regionen von Agenten angeboten werden, käme insbesondere in den älteren Jahrgängen ebenfalls vor, sagt Hanning, "aber Berliner Talent zu entwickeln, hat für uns immer Priorität". So wie für die Top-Vereine aus Brandenburg die Brandenburger Talente Priorität haben.
Eine, die den Weg eines solchen Handball-Talents aus Brandenburg hautnahe miterlebt hat, ist Katrin Wiede. Sie ist die Mutter von Nationalspieler und Füchse-Akteur Fabian Wiede, geboren in Bad Belzig und einer von vielen Spielern, deren Handball-Karriere an der Sportschule Potsdam ihren Ursprung nahm. Sie ist, neben zwei weiteren Sportschulen in Cottbus und Frankfurt (Oder), der Ort in Brandenburg, an dem Breitensport zu Leistungssport wird - ähnlich wie an den Stützpunkten in Berlin.
"Fabian wollte da unbedingt hin", erinnert sich Katrin Wiede an die Kindertage ihres schon damals talentierten Sohnes. Rund 45 Minuten Fahrtzeit von Belzig nach Potsdam und die Tatsache, dass Katrin Wiede sowohl berufstätig als auch alleinerziehend war, machten den Schritt zur Sportschule kompliziert. Einzige Lösung: Wie schon sein älterer Bruder Nico zog Fabian Wiede mit zwölf Jahren in das Internat der Sportschule. "Schlagartig war die Bude zu Hause leer", erinnert sich seine Mutter hörbar wehmütig.
Die stellvertretende Vorsitzende der Handballer vom MBSV Belzig ist überzeugt, dass "Leistungssport mit einer normalen Schule kaum zu verbinden ist". Dennoch blickt sie zwiegespalten auf frühe Umzüge ins Internat und auch den schon in jungen Jahren hohen Druck des Leistungssports. "Fabian ist durch Internat und Sportschule unheimlich schnell gereift und selbstständig geworden", sagt sie. "In Potsdam sind die Jungs Freitagabend fürs Wochenende nach Hause gekommen. In Berlin war es später anders, da mussten sie im Internat bleiben, wenn am nächsten Tag Punktspiel war."
Dennoch sei klar, dass die Umzüge nach Potsdam und später nach Berlin ihren Sohn sportlich weitergebracht hätten, sagt Katrin Wiede. "Aber ich denke schon, dass es auch Momente gab, in denen er das Ganze verflucht hat."
Auch Levin Seyboth kennt diese Ambivalenz aus Spaß und sportlichen Träumen, aber eben auch Belastung und Entbehrung. Seit vergangenem Sommer spielt er bei den Füchsen und dazu für die Berliner Auswahl. Das ergibt mindestens vier Tage Training und ein Spiel pro Woche. "Es macht mir immer Spaß, sonst wäre ich wahrscheinlich auch nicht so gut", betont Levin. Er bejaht allerdings auch die Frage nach dem Leistungsdruck und sagt mit Blick auf die langen Fahrten zum und vom Training: "Am Anfang fand ich das ziemlich stressig, und meine Hausaufgaben mache ich oft in der Bahn."
An der täglichen Fahrerei vom Westend nach Hohenschönhausen dürfte sich für den 13-Jährigen in den kommenden Jahren dennoch wohl nur die Uhrzeit der Hinfahrt ändern. Zum nächsten Schuljahr will Levin vom Waldgymnasium an das Schul- und Leistungssportzentrum Berlin (SLZB) im Sportforum wechseln. Nur ein paar hundert Meter vom Trainingskomplex der Füchse Berlin entfernt, ist das SLZB ein wichtiger Teil der Talententwicklung im Berliner Handball. Wobei die "Talententwicklung im Berliner Handball" im Grunde gleichbedeutend mit der bei den Füchsen Berlin ist.
"Ich bin mittlerweile der Einzige in meiner Mannschaft, der noch nicht auf dem SLZB ist", sagt Levin. Auch ein Blick auf die Auswahlteams des Handball-Verbands Berlin (HVB) zeigt, dass diese den Teams der Füchse-Jugend häufig personell sehr ähnlich sind. Von den 54 Talenten, die aktuell in den vier männlichen HVB-Teams der Jahrgänge 2007 bis 2010 spielen, sind 42 bei den Füchsen. Auch strukturell und bei den Trainern gibt es Synergien, die mit für eine Monopolstellung des Vereins im Berliner Handball sorgen.
Manager Bob Hanning bezeichnet die einzigartig enge Zusammenarbeit zwischen Verein, Verband und Sportschule als "Schlüssel zum Erfolg" seines Klubs. Die Rolle des SLBZ hebt er explizit hervor: "Wenn du Eliteausbildung willst, brauchst du eine Eliteschule", sagt Hanning und erklärt: "Dreimal in der Woche zusätzlich morgens Training, hauptamtliche Athletiktrainer und Physiotherapeuten, dazu Videoanalysen – das könnten Breitensportvereine gar nicht leisten."
Gleichzeitig sieht Hanning auch die Kritikpunkte, die andere Akteure aus dem regionalen Handball am Konzept der Füchse und des Verbands in den vergangenen Jahren ausgemacht haben. Es hätte geheißen, dass die Füchse den anderen Vereinen "die Talente wegnehmen". "Am Anfang wurde das sehr kritisch gesehen", sagt Hanning.
Eine Einschätzung, die nicht nur Katrin Wiede teilt. Zwar wolle sie sich deswegen keinesfalls beklagen oder gar einen Vorwurf an die Füchse oder den VfL Potsdam formulieren, dennoch sagt sie: "Wir vom MBSV haben insgesamt 14, 15 Jugendliche an die Sportschulen abgegeben. Das kann so ein kleiner Verein wie wir nicht kompensieren."
Sie wünsche sich daher eine für alle fruchtbare Zusammenarbeit der Sportschulen, deren großen Partnervereinen und den kleineren Heimatvereinen der Talente. "Gerade die Kooperation der Füchse mit dem VfL Potsdam funktioniert doch hervorragend", sagt sie und fragt: "Wieso sollte das nicht auch im kleineren Rahmen und in niedrigeren Ligen funktionieren?"
Levin Seyboth jedenfalls dürfte man so schnell wohl eher nicht mehr im Trikot des Charlottenburger HC sehen. Sein Vater Achim wird in den kommenden Jahren öfter für die Spiele des Füchse-Nachwuchs ins Sportforum fahren. Ihn freut zu sehen, wie viel Spaß sein Sohn am Handballspielen hat. Aber er hat auch leise Bedenken. "Levin liebt und lebt den Handball", sagt Seyboth, "aber es ist auch super viel." Die langen Fahrten nach Hohenschönhausen, die stetig steigende Zahl an Trainingseinheiten, das sommerliche Training, das längere Familienurlaube nahezu unmöglich macht. All das liegt in der Natur des Leistungssports, ist somit auch im Handball unausweichlich, darf aber nicht unterschätzt werden.
So wie die Tatsache, dass der Traum vom Profisport – aller Opfer zum Trotz – für die allermeisten Talente nicht zur Realität wird. "Das lernt man bei den Füchsen schnell. Wenn es nicht läuft, wird man abserviert und ist raus. Das ist das Geschäft", sagt Vater Achim. "Ich werde alles geben, solange ich kann", sagt Levin, "alles geben und dann wird das klappen."
Sendung: rbb24 Inforadio, 02.02.2024, 15:15
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