Hertha verspielt Sieg gegen Kiel
Hertha BSC hat am Freitagabend in letzter Sekunde einen Sieg gegen Holstein Kiel und damit die wohl letzte Chance auf den Aufstieg verspielt. Das 2:2 war ein Spiel, das die Idee von Pal Dardai klar aufzeigte, aber auch die Unzulänglichkeiten der Mannschaft. Von Marc Schwitzky
Fußballspiele haben sehr oft gleich mehrere Wahrheiten. Gerade das macht diesen Sport womöglich so reizvoll und massentauglich – jede Person kann zu einer Partie eine eigene Perspektive einnehmen, es gibt tausende Blickwinkel.
So kann und wird es die Sichtweise geben, dass Hertha BSC am Freitagabend völlig verdient nicht gegen Holstein Kiel gewonnen hat – schließlich hatten die Berliner weniger Schüsse, eine deutlich höhere Fehlpassquote und am Ende nur 32 Prozent Ballbesitz. Gegner Kiel war optisch völlig überlegen und hatte die reifere Spielanlage mit Ball.
Daneben existiert aber auch die Interpretation, dass Hertha bis zur 81. Minute mit 2:0 geführt hatte – und das aufgrund der Effizienz und Defensivstärke auch nicht unverdient. Solch einen Vorsprung durfte die "alte Dame" eigentlich nicht mehr verspielen.
Und dann ist da ja noch die Sache mit dem ewig kontroversen Videobeweis - die nächste gefühlte Wahrheit. Doch auf einen Fakt können sich wohl die meisten Fußballfans einigen: Hertha-Anhänger dürfen anscheinend nichts Schönes haben. Denn wahr ist: Ein Ausgleichsgegentor in der 98. Minute tut jedem gleich weh. Und Nackenschläge haben Hertha-Fans in den letzten Jahren nun wirklich genug erlebt.
Hertha-Trainer Pal Dardai sagte vor zwei Wochen, dass die Berliner "keine Ballbesitzmannschaft, sondern eine Umschaltmannschaft" seien. Nach jenen Charaktereigenschaften hatten die Blau-Weißen ihre letzten beiden Siege gegen Fürth und Magdeburg geholt. Es war auch die Erklärung dafür, weshalb Hertha im vergangenen Spiel gegen Konter-Compagnon Braunschweig spielerisch große Probleme hatte - denn wenn keine Mannschaft den Ball will, wird es krampfig.
Gegen Holstein Kiel - eine überaus ballaffine und dominant aufspielende Mannschaft - sah Hertha jedoch wieder in der defensiven Kompaktheit und dem blitzartigen Umschalten sein Heil. So wirkte es am Freitagabend von Beginn an so, als hätten die Kieler "Störche" die klare Oberhand, schließlich hatten sie deutlich mehr Ballbesitz und waren optisch überlegen. Hertha wurde regelrecht in die eigene Hälfte hineingedrängt.
Doch da sind sie wieder, die vielen Wahrheiten eines Fußballspiels. Denn ja, Kiel war optisch überlegen - aber eben nur optisch, nicht faktisch. Tatsächlich ging der Plan von Pal Dardai voll auf.
Es war eine der ersten Weisheiten, die Dardai während seiner ersten Amtszeit bei Herthas Profis teilte. Er predigte immer wieder, dass man Fußballspiele aus der Defensive heraus kontrollieren kann. Was der Ungar damit meint: Durch cleveres und leidenschaftliches Verteidigen können Lücken geschlossen werden, die mit noch so viel gegnerischen Ballbesitz nicht geöffnet werden können; das disziplinierte Arbeiten gegen den Ball kann den Ballbesitz des Kontrahenten vergiften und durch Umschaltmomente wie zusätzliches Pressing eigene Gefahr entwickelt werden. So auch geschehen gegen den Tabellenzweiten aus Kiel.
Hertha öffnete im Mittelfeldpressing defensiv einzig die eigens gewollten Räume. "Taktisch hatten wir uns gut vorbereitet, wir haben im Zentrum Manndeckung betrieben, sodass Kiel wenig Tiefe ins Spiel bekommt", so Dardai nach dem Spiel. Die Norddeutschen wurden immer wieder auf die Außenbahnen gelenkt, von wo aus sie Flanken schlagen mussten - Hertha hatte aber durch Linus Gechter und Toni Leistner in der Innenverteidigung die klare Lufthoheit und gewann ein Kopfballduell nach dem anderen.
So entstand quasi keinerlei Gefahr aus den vielen Angriffsversuchen der Kieler, die ligaweit immerhin die meisten Großchancen herausspielen. Viel Ballbesitz hin oder her - am Ende gab Kiel nur drei Schüsse auf den Berliner Kasten ab.
Im ersten Durchgang erinnerte Herthas Spiel oft an Dardais erfolgreichste Zeit als Trainer der Blau-Weißen, als mit herausragender defensiver Stabilität und gnadenloser Effizienz reihenweise Gegner zur Verzweiflung getrieben und Europa erreicht wurde. Leistner in der Rolle des einstigen Abwehrchefs Sebastian Langkamp, Pascal Klemens als Mittelfeldstaubsauger Per Skjelbred, Ibrahim Maza als Freigeist Salomon Kalou - und Haris Tabakovic als eiskalter Vollstrecker Vedad Ibisevic.
Erst nutzte Tabakovic in der 17. Minute einen kapitalen Fehlpass von Kiels Philipp Sander aus, um alleingelassen Torhüter Timon Weiner zu umkurven und das 1:0 erzielen. Rund 30 Minuten später spielte Hertha einen Umschaltmoment sauber aus, Palko Dardais Flanke fand Tabakovic, der erneut zu freistehend zum 2:0 verwandelte. Bis dahin ging der Plan von Trainer Dardai voll auf. Doch das sollte sich im zweiten Durchgang ändern.
Nicht weil Hertha defensiv auseinandergebrochen wäre, sondern weil etliche überaus aussichtsreiche Konterchancen auf das 3:0 liegen gelassen wurden. Selbst Kiel-Trainer Marcel Rapp gab nach Schlusspfiff zu, dass Hertha den Sack hätte früher zumachen müssen. "Es fehlte der letzte Pass, die letzte Überzeugung im Abschluss sowie der letzte Punch. Wir hätten das Ergebnis relativ einfach nach Hause bringen können und müssen uns vorwerfen lassen, dass wir das nicht geschafft haben. Es gab riesige Räume, die wir nicht genutzt haben", stellte Fabian Reese nach dem Spiel frustriert fest.
So verpasste Hertha die Vorentscheidung und das Schicksal nahm seinen Lauf. Erst agierte Hertha in der 81. Minute defensiv zu unentschlossen und kassierte unnötigerweise den 1:2-Anschlusstreffer. Es begann das große Zittern, Kiel warf noch einmal alles nach vorne – und sollte für den Aufwand belohnt werden. Es kam zum Elfmeter, nachdem Gechter Kiels Patrick Erras im Strafraum gefoult haben soll. Zugegeben, aus den bislang gezeigten Bildern geht nicht hervor, ob Gechter oder Erras bei der Hereingabe zuerst am Ball war und ob daraus resultiert, dass Berlins Verteidiger nur Erras‘ Fuß getroffen haben soll.
Und so lassen sich sowohl die anschließende Prüfung des Videobeweises, die Definition von einer "klaren Fehlentscheidung" und der letztendliche Elfmeterpfiff von Schiedsrichter Bastian Dankert sehr kritisch betrachten. Auch der VAR (Video Assistant Referee) hat seine ganz eigenen Wahrheiten. "Ich glaube nicht, dass es eine klare Fehlentscheidung war, die man hätte zurückpfeifen müssen. Aber keine Ausreden! In der zweiten Halbzeit hast du bestimmt 20 Konterchancen, um das Spiel zu töten", hielt Dardai nach dem Spiel fest.
Den 47-Jährigen frustrierte vielmehr die Leistung - oder eher das Leistungsvermögen - seiner Mannschaft. "Wir haben nicht die Qualität, um das Spiel zuzumachen. Du musst das 3:0 und 4:0 machen, wir hatten genug Chancen dazu. Wir sehen, wo wir uns nach der Übergangssaison für den gewünschten Aufstieg verstärken müssen", so Dardai deutlich. "Man kann nicht mehr Raum für Tore haben, die Chancen reichen eigentlich bis Saisonende."
Das Ende was für einer Saison? Der 2:2-Ausgleichstreffer in der 98. Minute schien nicht nur den Sieg, sondern auch die letzte Chance, noch einmal ganz oben angreifen und um den Aufstieg mitspielen zu können, verhindert zu haben. Mindestens sieben Punkte Abstand auf Rang drei werden in zehn Partien wohl nicht mehr aufgeholt werden. So wird die Spielzeit 2023/24 wohl die von Dardai definierte "Übergangssaison" gewesen sein. Klar ist: In der kommenden Saison, in der Hertha rein wirtschaftlich zum Aufstieg verdammt ist, dürfen solche Spielverläufe kaum bis gar nicht mehr passieren. Das ist die eine Wahrheit.
Sendung: rbb UM6, 02.03.2024, 18 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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