Andrich, Dardai, Pekarik und Co.
Die Fußball-Europameisterschaft wird auch von zahlreichen Fußballern geprägt, die in der Region Berlin und Brandenburg ihre Spuren hinterlassen haben. Ob sie geliefert haben und wie ihre Teams bislang abschnitten - hier im Überblick. Von Shea Westhoff
Wer hätte vor wenigen Jahren für möglich gehalten, dass der bei Hertha BSC ausgebildete und bei Union Berlin zum Profi gereifte Robert Andrich einmal Anteil daran haben würde, eine neue Fußball-Euphorie im Land zu entfachen?
Vor dem diesjährigen Turnier war die Stimmung eher mau. Drei teilweise mitreißende EM-Partien später zeigt sich: Vorne können die Zauberfüße um Gündogan, Musiala und Wirtz glänzen, weil ihnen der gebürtige Potsdamer Andrich den Rücken freigrätscht. Seine Position als Sechser interpretiert er flexibel, mal als Bestandteil der Abwehrkette, mal als letzte Angriffslinie. Gegen die Schweiz (1:1) gelang dem 29-Jährigen gar ein Distanz-Traumtor, das der Schiedsrichter aufgrund eines vorhergehenden Fouls von Jamal Musiala noch zurücknahm.
Wohl noch unvorhersehbarer war der steile Aufstieg des Maximilian Beier, ebenfalls in Brandenburg geboren. In der Vorbereitung galt der Schlacks als Streichkandidat von Julian Nagelsmann. Dann sammelte der 21-Jährige von der TSG Hoffenheim fleißig Argumente für einen Platz im Kader. Gegen die Schweiz wurde er schließlich für eine knappe halbe Stunde eingewechselt und machte sofort durch Dribblings und Zweikämpfe auf sich aufmerksam – und hätte fast einen Strafstoß gezogen, nachdem ihn Gegenspieler Silvan Widmer elfmeterwürdig umklammerte.
Kaum abzusehen war ebenfalls dies: Dass Maximilian Mittelstädt ein Jahr nach seinem Abstieg aus der Bundesliga mit Hertha BSC bei der Europameisterschaft teilnehmen würde - und dort so besonnen aufspielt, als wäre er einer der Erfahrensten. Kreative Offensivaktionen des Linksverteidigers in Diensten des VfB Stuttgart waren zwar selten zu bezeugen. Allerdings auch keine größeren Fehler. Auf den 27-Jährigen ist Verlass.
Der gebürtige Berliner Antonio Rüdiger stellte in den drei Vorrunden-Spielen seine Rolle als Abwehrchef unter Beweis. Mit elf gelungenen Rettungsaktionen ist er laut Uefa-Statistik die Lebensversicherung der Mannschaft. Allerdings zeigte er gegen den offensivstärksten Vorrundengegner, die Schweiz, seine bislang schwächste Turnierleistung. Dennoch ist er unverzichtbar, sein möglicher verletzungsbedingter Ausfall im Achtelfinale gegen Dänemark (Samstag, 21 Uhr) wäre schmerzhaft.
Der einstige Union-Spieler Nico Schlotterbeck kam bislang nur eine knappe halbe Stunde zum Einsatz. Wegen der Verletzung Rüdigers sowie der Gelb-Sperre Jonathan Tahs kann der Innenverteidiger, der auf eine starke Saison bei Borussia Dortmund zurückblickt, mit mehr Einsatzzeit rechnen.
Ungarns Nationaltrainer Marco Rossi vertraute in der Vorrunde auf die Kraft der Bundesliga, mit den Leipzigern Peter Gulacsi und Willi Orban sowie dem Freiburger Roland Sallai, dazu den beiden Berlinern Andras Schäfer (Union Berlin) und Marton Dardai (Hertha BSC). Die beiden Abgesandten aus der deutschen Hauptstadt hinterließen einen positiven Eindruck.
Während Schäfer in allen Partien über die volle Distanz spielte und dabei in der Zentrale den Offensivmotor Dominik Szoboszlais mit absicherte, war Marton Dardai eine gewissenhafte Größe in der Innenverteidigung.
Der gebürtige Berliner, Sohn des Hertha-Rekordspielers und Ex-Trainer Pal Dardai, hatte erst im Januar verkündet, künftig für Ungarn spielen zu wollen. Bei der diesjährigen EM spielte er in zwei Begegnungen von Beginn an, darunter beim 0:2 gegen Deutschland, beide Gegentore fielen nicht in Dardais Verantwortungsbereich. Die letzte Partie gegen Schottland gewannen die Ungarn 1:0. Überschattet wurde der Sieg von einer schweren Gesichtsverletzung und Gehirnerschütterung des Stürmers Barnabas Varga. Mittlerweile ist er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Für das Achtelfinale hat es für die Ungarn nicht gereicht, aufgrund der schlechteren Tordifferenz im Vergleich zu anderen Gruppendritten.
Dass die Slowakei den Sprung ins Achtelfinale schafft, war in der Gruppe mit Rumänien, Ukraine und den Belgiern, welche die Slowaken zum Turnierstart sensationell 1:0 bezwangen, nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Anteil an der Überraschung hatten die mit Hertha-Biographie ausgestatten Routiniers Ondrej Duda und Peter Pekarik. Letzterer, inzwischen 37-jährig und nach wie vor in Diensten bei der Alten Dame, wetzte in allen drei Spielen wie in jungen Tagen über die rechte Abwehrseite und erwies sich als zuverlässige Defensivkraft.
Peter Pekarik war bereits bei der WM 2010 dabei, wie damals schon sowie bei der EM 2016 zieht der Slowake mit den zweitmeisten Länderspielen (129) nun ins Achtelfinale eines großen Turniers ein. Charakterlich sei er laut Nationaltrainer Francesco Calzona sowieso "ein Vorbild für uns alle".
Sein einstiger Bundesliga-Teamkollege Ondrej Duda (2016-20 bei Hertha) fungiert als Spielmacher für den Turnieraußenseiter. Seine Rolle als Ballverteiler erfüllt der 29-Jährige, der mittlerweile für Hellas Verona spielt, weitgehend akkurat. Gleichzeitig bewies er in der Vorrunde mehrfach Qualitäten als robuster Zweikämpfer. Zudem traf er mit einem mustergültigen Kopfball im letzten Vorrundenspiel gegen Rumänien zur Führung. Auch der 1:1-Entstand genügte zum Einzug ins Achtelfinale.
Auf das Spiel gegen England am Sonntag (18.00 Uhr) blickt der Außenseiter mit großer Vorfreude. "Wir bereiten in den nächsten Tagen das Spiel unseres Lebens vor", betonte Slowakeis Trainer Francesco Calzona.
Die Belgier um Superstar Kevin De Bruyne lieferten in der schwächsten aller Gruppen eine enttäuschende Vorstellung und mussten sich im letzten Spiel gegen die Ukraine ins Achtelfinale zittern (0:0). Einzig beim 2:0 gegen Rumänien präsentierte sich der von Domenico Tedesco trainierte ewige Geheimfavorit in guter Form. Beim Sieg durfte zum ersten Mal der ehemalige Herthaner Dodi Lukebakio, der mittlerweile für den FC Sevilla spielt, von Beginn an neben Romelu Lukaku stürmen. Ein einziger gefährlicher Abschluss gelang Lukebakio, kurz nach der Pause wurde er ausgewechselt. Weil er gegen Rumänien bereits die zweite gelbe Karte gesehen hatte, war er für das dritte Gruppenspiel gegen die Ukraine gesperrt. Im Achtelfinale gegen Frankreich muss sich die Mannschaft enorm steigern.
Polen ist ausgeschieden, als Letztplatzierter der wohl kompliziertesten Euro-Gruppe mit Frankreich, Niederlande, Österreich. Ganz ohne Turniereinsatz blieb dabei Tymoteusz Puchacz. Zur Erinnerung, der 25 Jahre alte Linksverteidiger steht seit drei Jahren bei Union Berlin unter Vertrag, ohne sich allerdings durchgesetzt zu haben. Leihverträge verschlugen ihn stattdessen zu Trabzonspor, Panathinaikos Athen und zuletzt zum 1. FC Kaiserslautern. In den Vorrundenspielen war für Puchacz auf der linken Abwehrposition kein Vorbeikommen an Nicola Zalewski (AS Rom).
Diesen einen Turnier-Moment, der wohl ein Leben lang bleiben dürfte, den erlebte Puchacz’ Nationalmannschaftskollege Krzysztof Piatek. Ausgerechnet im Olympiastadion, wo der zweitteuerste Einkauf in Herthas Klubgeschichte im blau-weißen Trikot selten die an ihn geknüpften Erwartungen erfüllen konnte, sorgte er durch seinen zwischenzeitigen Ausgleichstreffer gegen die Österreicher für Ekstase unter den polnischen Fans.
Kroatien musste sich vorzeitig und völlig überraschend von der EM verabschieden. Die deftige 0:3-Pleite gegen Spanien hatte das Aus eingeleitet – da stand der Unioner Josip Juranovic allerdings nicht auf dem Platz. Allein beim zweiten Gruppenspiel gegen Albanien (2:2) war der Rechtsverteidiger über die volle Spielzeit auf dem Feld, außerdem auffälliger Akteur mit acht Flanken und zahlreichen Spieleröffnungen. Im dritten Gruppenspiel gegen Italien wurde Juranovic bei einer 1:0-Führung in der 90. Minute nur gebracht, um Zeit von der Uhr zu nehmen. Es half nichts: In der achten Minute der Nachspielzeit kassierten die Kroaten das 1:1, es war gleichbedeutend mit dem Aus von Weltstar Luka Modric, bei seinem wohl letzten Turnier mit Kroatien.
Die Serben mussten trotz dreier kämpferischer Auftritte als Gruppenletzter die Heimreise antreten. Zwei Unentschieden gegen Dänemark und Slowenien reichten nicht, weil die erste Partie 0:1 gegen England verloren ging. Der gebürtige Berliner Lazar Samardzic, mittlerweile bei Udinese Calcio unter Vertrag, konnte das Aus bei zwei kürzeren Einsätzen nicht verhindern.
Sendung: rbbUM6, 27.06.2024, 18 Uhr
Beitrag von Shea Westhoff
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