Ist das Fanfest was für Fußballmuffel?
Fußball ist Leidenschaft, erfordert von Fans oft Leidensfähigkeit und trotzdem können sich einige nur leidlich für den Sport begeistern. Kann das Fanfest am Brandenburger Tor Abhilfe leisten? Oliver Noffke fragt für einen Freund.
Ich habe einen Freund. Der ist nicht unbedingt ein Fußballfan. Das ist natürlich tragisch. Gerade jetzt, da EM ist. Während alle feiern, ist mein Freund eher neutral begeistert. An fehlenden Vorbildern, was die Liebe zum Fußball angeht, liegt das nicht. Der Opa von meinem Freund war mal so entsetzt über den Sponsoringvertrag für einen Lokalrivalen, dass er auf Ökostrom umgestiegen ist. Echtes Commitment vom Opa und eine solide Grundlage für vererbbare Fanliebe. Der Funke sprang trotzdem nicht über.
Es ist auch nicht so, dass mein Freund Fußball nicht mag. Generell sortiert er jede Serie mit mehr als zehn Episoden direkt im Vorfeld aus. Das aufmerksame Folgen von Langzeitdramen wie der Bundesliga ist bei so geringer Aufmerksamkeitsspanne schwer vermittelbar. Wenn bei "Game of Thrones" elf Staffeln nacheinander Haus Lannister gewonnen hätte, wäre der Aufschrei auch groß gewesen. Eingefleischte Fußballfans wissen hingegen, ohne Leidenschaft und/oder Leidensfähigkeit kann es sich manchmal wirklich ziehen. Und im nächsten Jahr muss man eh wieder vom Startpunkt Richtung King's Landing aufbrechen.
Könnte die EM endlich ein Einstieg in die Fußballwelt sein, frage ich mich? Also für den Freund. Ein in sich abgeschlossenes Drama in übersichtlichen vier Wochen, das Ende garantiert emotionsgeladen, vielleicht gibt's Überraschungen. Spoiler sind nichtmal auf Reddit zu finden. Das klingt vielversprechend. "Geh doch mal zum Brandenburger Tor", sagen meine Freunde ... also, damit ich dann dem anderen Freund erzählen kann, ob das überzeugt.
Fanmeile und Fanzone am Brandenburger Tor sind so eine Art monothematischer Abenteuerspielplatz ohne Alkoholverbot. Am Eingang unweit der US-Botschaft beginnt das Uefa-Spektakel direkt mit einer Berliner Spezialität: Anstehen in einer Menge, die schiebt und drückt.
Anfänger würden sich darüber direkt aufregen. Experten wissen jedoch, dass das sinnlos ist. Lieber mitschwimmen. Viele Fußballfans nutzen die eingeengte Wartezeit mit großer Vernunft und sorgen dafür, dass nicht zu viel Müll auf dem Fanfest landet. Also schnell die Dose Jacky-Cola ansetzen und rein damit. Das Bad im Gedränge ist übrigens optional – am anderen Ende der Meile geht es eigentlich immer ohne rein. Fußball bedient eben viele Geschmäcker.
Generell ist die EM natürlich eine Herausforderung für den Verkehr. Insbesondere die Berliner Eigenart, Baustellen oder Absperrungen ohne nennenswerte Anzeichen einfach anfangen und aufhören zu lassen, scheint kulturell schwer übersetzbar zu sein. Als Ortskundiger weiß ich, dass so einzigartige Kommunikationsorte entstehen. An denen man, öfter als einem lieb ist, abgeschreckt, aufgeregt und mit erhobenem Arm seinen Mitmenschen noch einen guten Tag wünschen kann.
Für Ortsfremde scheint Berlin-Mitte hingegen einige Überraschungen bereitzuhalten. Es spielen sich ungekannte Szenen ab. Zum einen wundern sich Menschen. Etwa, wie sie gerade mitten auf der Straße landen konnten, obwohl sie einfach der Beschilderung gefolgt sind. Und dann entschuldigen sich diese Menschen tatsächlich, wenn sie angeblafft werden. Eindeutig nicht aus Berlin. Dabei ist doch der große Vorteil konfuser Verkehrsführung, dass es im Zweifel eh zu anstrengend ist, über die mögliche Schuld gerade noch verhinderter Unfälle zu diskutieren. Vielleicht kann die EM helfen, Berliner Ideen in die Welt zu bringen? Mein Freund schweift auch immer ab ...
Einmal drin wird deutlich, wie hart der Gruppendruck unter Fußballfans ist, was Mode angeht. Ein Nachmittag auf der Fanmeile ohne Trikot ist möglich, aber wird von vielen als sinnlos erachtet. Die Trends vom Fanfest: Herren tragen in dieser Saison das Trikot gern etwas enger in der Bauchgegend und Teenager den Verdruss über die Eltern wieder offen. Wer gerne experimentiert: In Gruppen ab vier ist modisch alles möglich.
Fußball ist ja vor allem Liebe. Also eindeutig im Bereich Magen zu verorten. Und kulinarisch kommt man auf der Fanmeile definitiv auf Kosten. Aber gut, wenn einem im Kino oder beim Konzert der Preis für ein Bier gesagt wird, bekommt man mittlerweile auch eine Idee davon, wie sich ein Herzinfarkt anfühlt.
Bei der Auswahl von Fettigem und weniger Fettigem gibt es hingegen nichts zu meckern. Alles tipptopp. Riesen-Slush-Eis-Waldmeister-ACE zum Curry kein Problem. Erstens wunderbar und zweitens: Ist ja nicht mein Teppich. Ich meine Kunstrasen. Überhaupt, der falsche Rasen. Der Vorteil wird direkt klar: Gibt keine grünen Flecken am Hintern. Der Nachteil: Bei dem Ambiente würde es mich nicht wundern, wenn nach der EM die nächste Grundsatzdebatte die Stadt entzweit. Straße des 17. Juni dauerhaft begrünen? Ja oder nein? Übrigens, wer sich nicht am Geräusch weinender Männer stört, kann hier auch in zweiten Halbzeiten prima ein Picknick veranstalten.
Wer geschichtsinteressierte Freunde vom Fußball überzeugen will, kann sich den Weg zur Fanzone allerdings sparen. Aus der Ferne scheinen die großen Vitrinen zwar wie aus einem Museum vom Star-Architekten, wie Fenster ins Innere des sagenumwobenen Ausrichters und seines Hauptsponsors. Doch die wirklich großen Fragen des organisierten Weltsports werden leider ausgespart. Wer hat wann was gewusst? Wie genau wird so ein Ball eigentlich hergestellt? Fehlanzeige. Immerhin bekommt man einen Ausblick in die nähere Zukunft geboten: die nächste Kollektion an Fußballschuhen.
Ob das Fanfest jetzt meinen Freund zum Fußballfan macht? Ich bin mir unsicher. Wahrscheinlich wäre es ihm dort so ergangen wie mir. Überall gibt es was zu entdecken oder zu hinterfragen oder besser nicht, hier eine Brezel, dort ein bisschen Smalltalk. Am Ende habe ich ganz vergessen, das Spiel anzuschauen. Rot hat gewonnen. Glaube ich.
Beitrag von Oliver Noffke
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