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Quelle: rbb / Anton Fahl

Reportage | Fußball-EM

Zeit, dass sich was dreht

In genau einer Woche beginnt die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland. Im Vorfeld ist immer wieder von einem potenziellen neuen "Sommermärchen" die Rede. Auf Spurensuche nach der EM-Euphorie am Endspielort Berlin. Von Anton Fahl

Im DFB-Pulli steht Basti in seinem Laden – und zumindest der Daumen auf seiner Kappe zeigt schon mal nach oben. Seit einem Dreivierteljahr führt er im Berliner Ortsteil Friedenau das Vintage-Geschäft "Basement": Dort finden sich Trikots, College-Jacken, Schuhe und sonstige Sammlerstücke mit Seltenheitswert aus zweiter Hand. Ein Hort der Raritäten. Ein Plüschtier erinnert an Erfolge längst vergangener Tage. Ein Ladenhüter im besten Sinne: "My Pet Monster", gekleidet in das Trikot, das die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bei ihrem bislang letzten EM-Triumph trug: 1996, Wembley, Bierhoff, Golden Goal.

In einer Woche nimmt die deutsche Elf bei der Europameisterschaft im eigenen Land den nächsten Anlauf (14. Juni bis 14. Juli 2024). "Generell ist jedes Fußballfest sehr schön. Wenn es im eigenen Land stattfindet, ist es noch umso schöner", sagt Basti, "ein Kind der 80er", wie er betont. "Ich denke, Deutschland ist ein bisschen underrated, steht aber gar nicht so schlecht da, wie viele behaupten. Bei einem Turnier ist alles möglich. Ich will es einfach auf mich zukommen lassen und Spaß haben. Das ist Priorität Nummer eins."

Geschichte des Public Viewings

Von der Fernsehstube zur Fanmeile

Berlin gilt seit 2006 als Public-Viewing-Hauptstadt und wartet zur Europameisterschaft wieder mit einer großen Fanmeile auf. Auch die Historie des öffentlichen Fußballfernsehguckens ist eng mit der Hauptstadt verbunden. Von Gunnar Leue

"Der Livestream wird laufen"

Um Tickets hat er sich nicht bemüht, erzählt er, "weil ich weiß, dass ich es aufgrund der Öffnungszeiten wahrscheinlich nicht schaffen werde, ins Stadion zu gehen. Ich schmeiße den Laden ja alleine." Die Spiele werde er also größtenteils im "Basement" schauen: "Der Livestream wird laufen und Freunde kommen so oder so sehr oft rum."

Neben Freunden und Bekannten haben sich bei Basti auch schon Fußballfans aus dem Ausland gemeldet, per Nachrichten in den sozialen Netzwerken ihre Ladenbesuche angekündigt. "Die Angst, überrannt zu werden, ist auch da, hält sich aber in Grenzen. Bisher hat sich hier jeder benommen. Dass Fußballfans ein Pöbel sind, ist ein Klischee", sagt der Ur-Berliner. "Ich hatte bisher nur gute Erfahrungen, auch im Umgang mit internationalen Fans und Kunden."

Was ihm außerdem auffällt: "Gerade englische und schottische Fans sind sehr fanatisch und sehr krass, was das Kaufverhalten angeht. Da wird alles vom eigenen Team gekauft, mit der Devise: Es wird schon irgendjemand in der Familie reinpassen. Da wird nichts liegengelassen. Deutsche Fans sind da etwas selektiver."

Fußball-Europameisterschaft

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Basti berichtet von einem jungen Mann, der vor wenigen Tagen bei ihm im Laden war, eine Marcelinho-Kappe kaufte und ein Arne-Friedrich-Trikot trug. Genau, der Arne Friedrich aus diesem einen Song von Xavier Naidoo.

Sommer 2006

Zwangsläufig werden Erinnerungen an die WM 2006 wach. Poldi, Schweini, Fanmeile, Zidanes Kopfstoß in Berlin – die Welt zu Gast bei Freunden. Schland hat Fußballfieber. Fähnchen an Autos und Gebäuden, Flachbildfernseher vor Spätis und Restaurants. Ein Getränkeunternehmen wirbt mit den Worten: "Statistisch gesehen wird Deutschland in Deutschland immer Weltmeister" – großflächig und großspurig, entlang der Berliner Stadtautobahn und in Mitte.

Die DFB-Elf begeistert, scheitert im Halbfinale am späteren Weltmeister Italien und feiert einen versöhnlichen Sieg im Spiel um den dritten Platz gegen Portugal. Ein fast perfektes "Sommermärchen". "Ich hab' damals alles miterlebt und mitgenommen, was nur ging: Von der Fanmeile am Brandenburger Tor bis hin zu den Mini-Stadien, die damals von adidas aufgebaut wurden", erinnert sich Basti an den Sommer 2006. "Komplett Spaß gehabt, mit jedem Besucher, der da war – egal aus welchem Land. Das war ohne Frage eine schöne Zeit. Und ich hoffe, dass Selbiges jetzt wieder passiert."

Doch er ist skeptisch. "Aktuell nehme ich das Stadtbild komplett anders wahr. Es kann auch täuschen, aber ich sehe keine großen Plakate, ich sehe keine Fähnchen, ich sehe keine Schilder draußen, die auf Public Viewing hinweisen und so weiter. Das fehlt", meint er. "Ich bin schon etwas enttäuscht, dass die Stadt Berlin nicht noch mehr getan hat und nicht noch mehr trommelt."

Taxifahrer Dogan und das Berliner Olympiastadion. | Quelle: rbb / Anton Fahl

Einmal Istanbul und zurück

Ähnlich wie die Sonne, die sich Anfang Juni in Berlin noch weitgehend hinter dichten Wolkendecken bedeckt hält, bricht sich auch die EM-Euphorie noch nicht bedingungslos Bahn.

Die Spurensuche geht weiter und es stellt sich heraus: Ein Taxi zu bekommen, ist gar nicht so leicht. Zumindest nicht, sofern man während der Fahrt über Fußball sprechen möchte. Der erste Fahrer, vor einer Bäckerei parkend, wehrt ab. Freundlich, aber bestimmt. "Ich bin gar kein Fußballfan", sagt er. "Ich hab' gar keinen Bezug dazu." Ein anderer wäre gesprächsbereit, will aber nicht zitiert werden. Er würde mich zwar bei sich aufnehmen, will aber selbst nicht aufgenommen werden.

Der Dritte, Dogan, nimmt mich mit – und ist mehr als gewillt, über Fußball zu reden. Wir sind nur wenige Minuten gefahren, da stecken wir schon mitten in der Saisonanalyse von Fenerbahce. 99 Punkte – und trotzdem hat es nicht für den nationalen Titel gereicht. Jose Mourinho heißt der neue Heilsbringer in Istanbul. Die erste Meisterschaft seit 2014 soll endlich her. Erfahrene Mannschaft, viel individuelle Klasse.

Die Europameisterschaft ist nur noch wenige Tage entfernt. Und auch dem Ort, an dem das große Finale stattfinden wird, kommen wir immer näher: Wir fahren in Richtung des Olympiastadions. "Natürlich freue ich mich darauf", sagt Dogan, angesprochen auf das Turnier.

Zwei Herzen in der Brust, ein Autokorso am Ku'damm

Ein 60-jähriger Taxifahrer erzählt aus seinem Leben. In der türkischen Stadt Konya geboren, dreizehn Jahre in Istanbul gelebt, vor zehn Jahren mit seiner Familie nach Berlin gezogen. In seiner Brust schlagen längst zwei Herzen. So wird er auch bei der Europameisterschaft sowohl Deutschland als auch der Türkei die Daumen drücken. Er räumt zwar ein, noch nicht allzu tief ins Gegnerscouting eingetaucht zu sein, doch er ist zuversichtlich, dass die Türkei ein gutes Turnier spielen kann. Arda Güler, der vor einem Jahr von Fenerbahce zu Real Madrid gewechselt ist, und Kaan Ayhan, der für Fenerbahces ewigen Rivalen Galatasaray spielt, hebt Dogan besonders hervor.

Berlin und Brandenburg

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Er freut sich auf die Menschen aus anderen Ländern, die nach Berlin reisen und auf die Restaurants, die dann besonders gut gefüllt sein werden. "Power", sagt er. Und: "Autokorso am Ku'damm". Grundvoraussetzung: erfolgreiche Auftritte der türkischen Nationalmannschaft.

Ein Problem macht er dann aber doch aus. Ein Problem, von dem er einmal mehr unmittelbar betroffen sein wird: der Berliner Verkehr. "Überall Stau. Da werde ich früh Feierabend machen", sagt Dogan mit einem Schmunzeln. Gerade an den Tagen, an denen Spiele im Olympiastadion stattfinden, wolle er versuchen, seine Fahr- und Arbeitszeiten anzupassen. "Die Spiele werde ich dann nach Feierabend zu Hause gucken", so der Taxifahrer, der in seiner Freizeit für eine Ü60-Auswahl des Vereins Tübiks kickt. "Im Eichkamp, Kühler Weg", sagt Dogan.

Mit etwas bedrückter Stimme berichtet er von Gewalt im türkischen Fußball, besonders gegen Schiedsrichter, die seiner Wahrnehmung nach immer weiter zunehme. In Hinblick auf das Großereignis in Deutschland hat Dogan derweil keinerlei Sicherheitsbedenken. "Nee, nee, bei der Europameisterschaft nicht", wiegelt er ab.

Shohreh und der "Imbiss Olympische Brücke". | Quelle: rbb / Anton Fahl

Sonnendeck Olympische Brücke

Wir sind am Endspielort angekommen. Dogan fährt zurück Richtung Innenstadt. Zeit für eine Stärkung: Currywurst mit Pommes am "Imbiss Olympische Brücke".

"Für uns ist es das erste Mal, sowas hier zu erleben. Es kann sein, dass Tage kommen werden, an denen wir die Nase voll haben. Wir werden aber alle mit voller Kraft dabei sein und sind vorbereitet", sagt Shohreh, die hinter der Theke steht – und sich schon auf die Mehrarbeit während des Turniers freut. "Alle müssen darauf vorbereitet sein, dass es in dieser Zeit besonders voll sein wird. Damit müssen alle klarkommen. Natürlich hat das Vor- und Nachteile. Wir freuen uns aber darauf!"

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Da kiekste

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Den Trubel rund um Fußballspiele sind sie natürlich längst von Hertha-Heimspielen oder dem DFB-Pokalfinale gewohnt. Doch ein internationales Turnier ist eine andere Hausnummer. Anfang 2023 wurde der Imbiss – eine Institution im Westend – neu eröffnet, nachdem die langjährige Inhaberin Claudia sich zur Ruhe gesetzt hatte. Ein bestuhltes Sonnendeck lädt die Kundschaft nun zum Verweilen ein.

König Fußball diktiert die Ferienpläne

An den Spieltagen werden sie zu sechst vor Ort sein, um die Leute möglichst schnell bedienen zu können und Wartezeiten zu verkürzen. "Sonst sind wir hier zu zweit, jetzt bin ich hier mit meiner Schwester, vorhin war mein Sohn noch da, dem das hier gehört", skizziert die Frau mit persischen Wurzeln den Dienstplan des Familienbetriebs.

"Mein Neffe und ein paar Freunde werden auch kommen – wenn sowas ansteht, sind wir alle dabei." Selbst die Ferienpläne richten sich nach König Fußball. "Wir haben alle unseren Urlaub verschoben, um hier zu sein", sagt Shohreh. "Ich bin eigentlich nicht so ein Fußballfan. Ich setze mich nicht hin und gucke Fußball. Manchmal bin ich aber neugierig, wer gewonnen hat."

Für die kommenden Wochen hofft sie darauf, dass die DFB-Elf möglichst oft gewinnen wird. "Dann haben alle bessere Laune", sagt Shohreh mit einem Lachen.

Zeit, dass sich was dreht.

Beitrag von Anton Fahl

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