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Quelle: IMAGO / Schöning

Obdachlose während der EM

"Ein Turnier hat auch die Wirkung, für ein paar Wochen diverse Problemlagen auszublenden"

Während die Fußball-EM bei vielen Menschen in Berlin für Partylaune und Ablenkung sorgt, stehen obdachlose Menschen in dieser Zeit vor besonderen Herausforderungen. Im Interview spricht ein Straßensozialarbeiter über Verdrängung und Stigmatisierung.

rbb|24: Herr Kretschmann, seit knapp zwei Wochen findet die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland statt. In Berlin sind Zigtausende Fans aus ganz Europa auf den Straßen unterwegs, pilgern zum Olympiastadion oder auf die Fanmeile am Brandenburger Tor. Inwiefern ist die EM für obdachlose Menschen ein Thema?

Tino Kretschmann: Natürlich interessiert sich auch unter Obdachlosen ein gewisser Teil für Fußball und für die EM – letztlich sind sie ein Ausschnitt der Gesamtgesellschaft und sehr divers. Es gibt Menschen, die das Turnier verfolgen, wichtig finden, darüber reden und versuchen irgendwie Fußball zu gucken. Und es gibt Obdachlose, die das gar nicht interessiert oder die so stark mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind, dass die EM für sie gar keine Rolle spielt.

Zur Person

Gibt es Angebote und Orte, die speziell an obdachlose Menschen gerichtet sind und an denen die Spiele gemeinsam geschaut werden können?

Ich weiß, dass in der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof mindestens ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft übertragen wurde. Ich vermute, dass es in den wenigen Tagestreffs, die es in Berlin gibt, hier oder da mal ein Angebot gibt. Den obdachlosen Menschen, die sich Fußball ansehen wollen, bleibt also nichts anderes übrig, als sich mal an einen Späti oder eine Kneipe zu stellen und durchs Fenster zu schauen.

Das Problem ist aber, dass fast alle Angebote damit verbunden sind, dass Geld damit verdient werden soll – und daran können Obdachlose eben nicht richtig teilnehmen. Es gibt zwar auch soziale, nette Kneipenbetreiber, die mal ein Auge zudrücken, wenn da ein Obdachloser mit dabeisitzt. Das ist aber nicht die Regel. Normalerweise sind diese Leute eher unerwünscht. Am besten wäre es natürlich, wenn alle zusammen schauen, obdachlose Menschen teilhaben können und keine Extrawurst bekommen. Denn ansonsten sind sie ja wieder nur unter sich.

Welche Auswirkungen hat die Fußball-EM auf das Leben obdachloser Menschen in Berlin?

Am Hauptbahnhof laufen täglich Lautsprecherdurchsagen, die vor "organisierten Bettlerbanden" warnen. Wir wissen, dass dort vor allem rumänische obdachlose Menschen unterwegs sind, die Zeitungen verkaufen wollen und betteln. Es ist offensichtlich, dass die Deutsche Bahn zur EM der Meinung ist, diese Menschen stigmatisieren und Reisegästen sagen zu müssen, dass den Obdachlosen kein Geld gegeben werden soll. Das finde ich eine Frechheit. Das ist deren Möglichkeit zu überleben.

Schon in den Tagen vor Beginn der EM gab es – insbesondere rund um den Alexanderplatz – Räumungsankündigungen. Insgesamt waren es allein im Bezirk Mitte innerhalb von zwei Wochen 25 Ankündigungen. Da liegt die Vermutung nahe, dass Obdachlose nicht ins Bild passen und vor der EM weggeräumt werden sollten, sodass Touristen ungestört feiern können. Auch wenn das die Politik und das Ordnungsamt in Berlin nie zugeben würden. So ein Turnier hat immer auch die Wirkung, für ein paar Wochen lang diverse Problemlagen auszublenden. Die Leute wollen feiern und Spaß haben – und Obdachlose erinnern einen daran, dass eben nicht alles toll ist.

Zumal es sich da teilweise auch um Platten (Orte, an denen sich obdachlose Menschen für längere Zeit aufhalten und an denen sie meistens auch schlafen; Anm. d. Red.) handelt, die sehr gut funktionieren und an denen die Obdachlosen gut mit der Berliner Stadtreinigung zusammenarbeiten. Es ist nicht so, als wäre es immer und überall nur dreckig und vermüllt. Auch am Hackeschen Markt hat es Schlafplätze von obdachlosen Menschen aus EU-Staaten gegeben, die ebenfalls kurz vor der EM geräumt wurden.

Fondue, Alphörner und Skigondeln

Wie die "Schwarze Heidi" während der EM zu einer Schweizer Fußball-Oase wird

Die "Schwarze Heidi" ist das bekannteste Schweizer Restaurant Berlins. Wo einst Urs Fischer einkehrte, wird aktuell auf Schwizerdütsch die EM gefeiert. Nach jedem Schweizer Tor gibt es einen Schnaps aufs Haus. Von Jakob Lobach

Und an welche Orte gehen diese Menschen dann?

Zum Teil tauchen die Leute nicht wieder auf, manche versuchen ihr Glück in einem anderen Bezirk. Bei manchen Obdachlosen, zu denen wir über lange Zeit Kontakt und Beziehungen aufgebaut haben, besteht meistens eine Möglichkeit, herauszufinden, wo sie sind. Das Problem ist aber, dass viele von ihnen nicht telefonisch erreichbar sind.

Das ist oftmals ein Kreislauf, die Menschen verschwinden ja nicht: Eine Platte wird geräumt, die Leute müssen den Ort wechseln, versuchen, all ihre Sachen mitzunehmen und einen neuen Platz zu finden. Nach einer Räumung kommen andere Menschen an den Platz und es geht wieder von vorne los. Um dieses Problem zu lösen, bräuchten diese Menschen irgendeine Möglichkeit, in einer Wohnung leben zu können. Es fehlt an Wohnraum und einem Willen aus der Politik. Nur die wenigsten Menschen auf der Straße sagen, dass sie auf keinen Fall wieder in eine Wohnung ziehen wollen und dass sie glücklich darüber sind, draußen zu wohnen.

Ist es während der EM bislang zu Auseinandersetzungen zwischen Fußball-Fans und Obdachlosen gekommen, von denen Sie mitbekommen haben?

Natürlich gibt es Fans, die gerne mal leicht betrunken unterwegs sind, um es vorsichtig auszudrücken. Es gibt unter ihnen auch welche, die rassistisch sind. Bislang habe ich in Zusammenhang mit der EM aber noch von keinen Vorfällen etwas mitbekommen. Manchmal kommt so etwas aber auch erst etwas später heraus.

Spricht etwas dafür, dass sich die Situation für Obdachlose in Berlin nach der Europameisterschaft wieder etwas entspannt?

Dieses Verdrängungsphänomen läuft unabhängig von der EM weiter. Wir nehmen da eine klare Tendenz wahr. Wir haben das Gefühl, dass es immer häufiger heißt: Weg mit denen! Und dass die obdachlosen Menschen aus den Innenstadtbereichen in Randgebiete getrieben werden. Vermeintlich geht es dabei um Ordnung und Sicherheit - das ist aber ein ganz seltsamer Ordnungs- und Sicherheitsbegriff.

Wir sehen das in Berlin zum Beispiel auch auf der U-Bahn-Linie 8. Da wird behauptet, es ginge um Sauberkeit, am Ende geht es aber um Menschen, die stören und verdrängt werden - mit allen Problemlagen, die dazugehören. Gott sei Dank ist es bei uns aber noch nicht so schlimm wie in Frankreich, wo in Vorbereitung auf die Olympischen Sommerspiele viele Tausende aus Paris in die Provinz gebracht werden [spiegel.de]. Das wird da rigoros durchgezogen - und ganz so schlimm ist es in Berlin noch nicht. Wir haben aber die Befürchtung, dass sich die Stimmung immer weiter in diese Richtung entwickelt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anton Fahl.

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