Herthas U19-Trainer Oliver Reiß
Oliver Reiß gilt als eines der Gesichter der erfolgreichen Jugendarbeit von Hertha BSC. Im Interview sagt er, wie er seine Schützlinge menschlich prägen will, wie sich die Arbeit im Laufe der Jahre verändert hat und ob er sich einen Job bei den Profis vorstellen kann.
rbb: Herr Reiß, behalten Sie bei all den erfolgreichen Absolventen eigentlich noch den Überblick, wie viele Ihrer Jugendspieler den Sprung in den Profifußball geschafft haben?
Oliver Reiß: Ja, schon. Ich verfolge gerne die Jungs, die es gepackt haben. Und zwar egal wo. Am liebsten natürlich bei uns, aber auch woanders. Das beste Beispiel dafür ist Hany Mukhtar in Nashville in den USA. So etwas verfolge ich einfach gerne. Ich habe nicht mit allen noch Kontakt, aber kriege schon auf die Reihe, wo die überall gelandet sind.
In der abgelaufenen Saison haben einige Ihrer Absolventen als Leistungsträger bei Hertha überzeugt. Zum Beispiel Ibrahim Maza, Pascal Klemens, Linus Gechter oder Marten Winkler. Das sind doch traumhafte Voraussetzungen als Jugendtrainer, wenn man weiß, dass die Profi-Mannschaft dem Nachwuchs vertraut, oder?
Das ist die absolute Grundvoraussetzung, um überhaupt erfolgreich in der Akademie arbeiten zu können. Das, was wir machen, wird oben gesehen, wertgeschätzt und auch genutzt. Junge Spieler bekommen Einsätze in der ersten Mannschaft. Natürlich spielen da auch die aktuelle Situation und Ligazugehörigkeit mit rein, aber es war schon immer so. Ich bin schon so lange mit dabei und hatte immer das Gefühl, dass die Akademie einen großen Stellenwert hat. Ohne das macht es am Ende auch keinen Sinn.
Als Staffelmeister der Liga Nord/Nordost sind Sie in der Finalrunde gegen die anderen Staffelmeister im Halbfinale gegen Borussia Dortmund gescheitert. Ist der BVB dann doch noch eine Nummer größer?
Nö. (lacht) Das würde ich so nicht beantworten. Erst recht nicht, wenn man sich beide Spiele anschaut. Ich bin weit weg davon zu sagen, dass sie unverdient weitergekommen sind. Irgendwo haben sie Dinge besser gemacht als wir. Aber die Spiele haben gezeigt, dass wir nicht nur mithalten können, sondern phasenweise auch besser waren. Wir haben eben eine andere Spielanlage als Dortmund. Ob besser oder schlechter darf man nicht immer nur mit dem Ballbesitz begründen. Das sind einfach unterschiedliche Herangehensweisen. Und dann waren es Nuancen, in denen der Gegner etwas besser war. Aber ich hatte nie den Eindruck, dass Dortmund zu groß für uns war. Und viel knapper als Elfmeterschießen hätte es ja auch nicht sein können.
Was ist Ihnen wichtig, Ihren Jugendspielern charakterlich und menschlich mitzugeben?
Es entwickelt sich bei den einzelnen Spielern immer mehr in die Richtung, vor allem an sich selbst zu denken. Das ist nachvollziehbar, alle wollen den Schritt nach oben zu den Profis schaffen. Da kommt es ganz schnell zu einem – wie wir es nennen – "Ich-AG-Verhalten". Ich will aber, dass man sich gegenseitig etwas gönnen kann und ein Mannschaftsgefühl entsteht. Dinge wie Respekt und Hilfsbereitschaft sind wichtig – eben all das, wo es nicht nur um die eigene Karriere geht. Das sollen sie bei uns mitnehmen.
Manchmal ist die Gefahr, dass das hinten raus so ein bisschen verloren geht, wenn die Spieler älter werden und der Blick sehr auf sich selbst gerichtet ist. Aber diese Dinge zu erhalten und immer wieder einzufordern, finde ich sehr wichtig. Wenn sie das lernen und beibehalten, ist das unabhängig vom Sport eine wichtige menschliche Komponente.
Das andere ist, dass sie lernen, Widerstände zu überwinden. Auch das ist für das Leben neben dem Fußball extrem wichtig. Durch diesen Leistungssport, wie wir ihn betreiben, kommst du nicht drumherum, durch solche Momente zu gehen. Sei es, dass man nicht aufgestellt wird, Niederlagen einzustecken, oder eben ein Halbfinale in einem Elfmeterschießen zu verlieren. Diese negativen Momente will keiner und wir fordern sie nicht bewusst ein. Aber sie sind nicht zu verhindern. Die Spieler gehen aus solchen Momenten stark raus, wenn man es im Nachhinein gut einordnet. Das macht einen fürs Leben stärker.
Sie blicken auf 17 Jahre Nachwuchsarbeit bei Hertha BSC zurück. Wie hat sich die Arbeit mit den Jugendlichen in den letzten Jahren verändert?
Ich glaube, dass die Jungs mittlerweile aufgeklärter sind und ein Stück weit auch mehr von den Trainern erwarten. Sie wollen nicht mehr einfach nur kicken, sondern mehr Ideen und Lösungen mit an die Hand bekommen. Da muss man gut aufpassen, weil dieser Trend auch gefährlich ist und dazu führen kann, dass die Jungs ihre Selbstständigkeit verlieren. Bei Widerständen geht der Blick dann direkt nach draußen zum Trainer in der Hoffnung, dass der schon wissen wird, was zu tun ist. Das beißt sich mit einer nachhaltigen Entwicklung.
Sprechen wir mal über Druck. Die Jugendlichen sind in einer emotionalen Extremsituation, wenn es um den Sprung in den Profibereich geht. Wie nehmen Sie das als Trainer wahr und wie tragen sie dem auch Rechnung?
Also diese Drucksituationen sind auf jeden Fall da und sie sind auch mehr geworden. Es fängt bei den Jungs immer früher an, dass sie zu kleinen Superstars werden. Die Social-Media-Plattformen befördern das. Früher musstest du erst einmal wirklich was erreichen, um in der Öffentlichkeit für Aufmerksamkeit zu sorgen. Heute passiert das früher – auch durch die Berater und das familiäre Umfeld, die ebenfalls einen gewissen Druck auf die Jungs ausüben. Das muss ich als Trainer mit ihnen dann immer wieder vernünftig einordnen. Druck an sich wollen wir aber natürlich gar nicht verhindern. Letztendlich kann das auf dem Weg auch der ausschlaggebende Unterschied sein. Da zählt nicht nur das Talent, sondern ob man dieses auch unter Druck auf den Platz bekommt.
Sie sind Berliner und in Reinickendorf aufgewachsen. Aber Sie sind elterlicherseits auch Britisch und bayerisch geprägt. Was überwiegt?
Kann ich so nicht sagen. Ich würde sagen das Bayerische und Berlin sind der Alltag und das Britische verbinde ich in erster Linie mit Freizeit. Wir haben in Wales jedes Jahr Urlaub gemacht, weil die Großeltern dort leben.
Wurde Ihnen der Fußball von den Eltern in die Wiege gelegt?
Nur von meinem Vater. Der war ein völlig verrückter Fußballer und hat meine zwei Brüder genauso angesteckt. Meine Mutter musste dann zwangsweise mit dabei sein und hat irgendwann auch Gefallen daran gefunden.
Sie haben in diesem Jahr gegen Union Berlin im Elfmeterschießen den A-Junioren-Pokal gewonnen. Es war also ein knappes Ergebnis. Steht das auch dafür, dass der Rivale aus Köpenick in der Nachwuchsarbeit aufholt?
Definitiv. Auch das neuerrichtete Nachwuchsleistungszentrum gibt das klare Signal, dass dort richtig was passiert. Ich glaube trotzdem, dass es noch ein bisschen dauert, bis es entsprechend gelebt wird. Die fangen ja nicht von heute auf morgen an, alle möglichen Spieler für Millionen zu kaufen. Es braucht Zeit, bis sie näher herankommen. Bislang geht es noch – wir haben dreimal gegen sie gespielt und sie dreimal besiegt.
Marco Grote hat als Amtskollege von Ihnen auf Seiten von Rivale von Union Berlin deutschlandweite Bekanntheit erlangt, weil er zweimal interimsmäßig von den Junioren hochgegangen ist zu den Profis. Zuletzt im Frühling, um den Abstieg zu verhindern. Haben Sie ihm dabei die Daumen gedrückt?
Absolut. Wir kennen uns jetzt nicht gut, aber allein durch die paar Begegnungen, die man hatte, hat man sich schätzen gelernt. Grundsätzlich gönne ich einem Trainerkollegen nie Misserfolg, egal, wo er arbeitet. Deshalb habe ich mich auch gefreut, dass es am Ende mit dem Klassenerhalt geklappt hat.
Können auch Sie sich diesen Schritt vorstellen, einmal von den Junioren zu den Profis hochzugehen? Der Trainerstuhl von Hertha ist ja immer mal wieder frei.
Ich kann mir grundsätzlich vieles vorstellen. Vor einem Jahr habe ich auch meine Pro-Lizenz gemacht. Und die habe ich nicht gemacht, um ewig im Akademiebereich zu bleiben. Aber da steckt weder ein konkreter Plan noch eine klare Idee dahinter. Ich bin, was die mittel- und langfristige Zukunft angeht, immer offen für vieles.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Shea Westhoff, rbb Sport. Es wurde für die Online-Fassung gekürzt und redigiert. Die komplette Fassung hören Sie hier.
Sendung: rbb24 Inforadio, 03.06.2024, 10:45 Uhr
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