Zweieinhalb Wochen vor Saisonstart
Hertha BSC will sich im Trainingslager den nötigen Feinschliff für die neue Saison unter Trainer Cristian Fiél holen. In Österreich werden die Berliner ihr Spiel mit wie gegen den Ball weiter ausarbeiten müssen – und den Ernstfall ohne Fabian Reese proben. Von Marc Schwitzky
Nur noch 17 Tage bleiben Fußball-Zweitligist Hertha BSC bis zum Saisonstart – am 3. August begrüßen die Berliner den SC Paderborn im heimischen Olympiastadion. Zweieinhalb Wochen, um noch an möglichst vielen Details im System von Neu-Trainer Cristian Fiél zu schrauben. Der 44-Jährige hat keine leichte Aufgabe vor sich, soll in der anstehenden Saison möglichst weit oben und um den Aufstieg mitspielen.
Vor der Spielzeit 2024/25 hat Fiél – im Vergleich zu Vorgänger Pal Dardai vor einem Jahr - den vermeintlichen Luxus, vor allem an Details mit seiner Mannschaft arbeiten zu können, die zu großen Teilen so bestehen bleiben könnte und in den bisherigen Testspielen vielversprechende Ansätze gezeigt hatte. Die Spielidee des Deutsch-Spaniers ist bereits klar ersichtlich.
Dennoch bleibt viel Arbeit, um den letztjährigen Tabellenneunten der 2. Bundesliga zu einem Aufstiegsaspiranten zu formen. Im anstehenden Trainingslager in Österreich will Herthas neues Trainerteam den Grundstein dafür legen.
Mit dem 4-3-3 hat Trainer Fiél seine Wunschformation bereits erfolgreich bei Hertha implementiert. Zudem kann er auf der Grundlagenarbeit Dardais aufbauen und große Teile der bisherigen Mannschaftsachse übernehmen – auch wenn der Verbleib von ein paar Spielern noch nicht sicher ist. Tjark Ernst bleibt der Stammtorhüter, Marc Oliver Kempf ist ebenfalls gesetzt – und könnte, da er gut zu Fiéls Fußball passt, so wichtig wie noch nie werden. Auch Außenverteidiger Michal Karbownik dürfte unter dem neuen Übungsleiter aufblühen. Linksaußen Fabian Reese und Mittelstürmer Haris Tabakovic werden, sofern sie denn in Berlin bleiben, wieder absolut gesetzt sein.
Doch um jene Spieler herum wird sich eine neue Achse finden. Das beginnt bereits in der Viererkette. Kapitän Toni Leistner ist in seinem letzten Vertragsjahr nicht mehr gesetzt, er kann das hohe Tempo im neuen Fiél-Fußball nicht mitgehen. Hier wird Herthas Trainer eine andere Lösung finden müssen – mit Marton Dardai, Linus Gechter und Pascal Klemens stehen mehrere Varianten bereit. Auch rechts hinten muss sich Fiél entscheiden, ob Jonjoe Kenny, Deyovaisio Zeefuik oder Leih-Rückkehrer Julian Eitschberger den Vorzug erhält.
Das zentrale Mittelfeld stellt sich mit Diego Demme, Michael Cuisance und Kevin Sessa komplett neu auf. Die drei Neuverpflichtungen könnten sogleich das Stamm-Trio werden, doch Eigengewächs Ibrahim Maza hat ebenfalls Startelfansprüche. Hier muss Fiél die richtige Mischung für die Balance aus Defensive und Offensive finden. Auch auf der rechten Außenstürmer-Position wird eine Entscheidung fallen: mit Marten Winkler, Palko Dardai und Derry Scherhant ringen gleich drei Spieler um jenen Platz.
Im Trainingslager wird sich vorerst die erste Elf der Blau-Weißen entscheiden – das Trainerteam wird also genau hinschauen, wer sich für die Achse empfiehlt. Zudem ist die Kapitänsfrage noch nicht geklärt.
Bereits genannter Fabian Reese ist ein elementarer Baustein in jener Berliner Achse. Mit 30 direkten Torbeteiligungen in der Vorsaison hat sich der 26-jährige Flügelspieler nahezu unersetzlich gezeigt – der Fußball von Ex-Trainer Dardai basierte auf den Ideen und Läufen Reeses. Durch sein herausragendes erstes Jahr bei Hertha hat sich Angreifer auch für höhere Aufgaben in der 1. Bundesliga empfohlen – noch immer wird ein Wechsel Reeses heiß gehandelt.
Ob Reese bleibt, wird bis Ende August – dann schließt das Transferfenster – ein Thema sein. Gegebenenfalls wird Hertha in der kommenden Saison ohne den Unterschiedsspieler auskommen müssen. Den Ernstfall kann Fiél nun im Trainingslager proben, denn Reese reist nicht nach Österreich mit. Der Leistungsträger hat sich beim Testspiel gegen Energie Cottbus am Dienstagabend eine Sprunggelenksverletzung zugezogen und wird bis auf Weiteres ausfallen. Ein schwerer Schlag für Hertha, doch auch die Chance, den eigenen Fußball unabhängiger von Reese zu gestalten – hierfür werden die drei Testspiele gegen die NEC Nijmegen, Huddersfield Town und Cardiff City wichtige Übungsflächen sein.
"Ein Teil wird das Gegenpressing sein. Wir wollen nach Ballverlust sofort wieder da sein und den Ball zurückerobern", gab Fiél als Trainingsinhalt für die neun Tage in Österreich vor. Bereits in den vergangenen Testspielen war zu erkennen, wie hochstehend und aggressiv Hertha nach Ballverlust den Gegner attackiert. Das klappte bereits auffällig gut – allerdings nur in Phasen.
Dabei ist das Gegenpressing ein überaus wichtiges Werkzeug im Spielstil Fiéls, da seine Mannschaft sehr hoch steht, viel Risiko eingeht und deshalb bei Ballverlust große Lücken offenbaren kann. Das sofortige Stören des Gegners ist daher von größter Bedeutung, da jene Lücken geschlossen, beziehungsweise das hohe Aufrücken nicht bestraft wird. Deshalb reicht ein ordentliches Gegenpressing im Fiél-Fußball noch nicht – um defensiv stabil zu sein, muss es durchgängig exzellent ausgeführt werden.
Für Fiél geht es in der Defensivarbeit darum, das alle Spieler ein Verantwortungsgefühl für die Aufgaben gegen den Ball entwickeln. "Das muss in die Köpfe." Entscheidend sei dabei auch die vernünftige Übergabe von Mittelfeld zur Abwehr, bricht ein gegnerischer Spieler einmal durch. Hier braucht es den richtigen, handlungsschnellen Zugriff. In der vergangenen Saison hatten Herthas Gegner viel zu große Freiräume vor dem Sechzehner, weil die defensiven Mittelfeldspieler und Verteidiger der Berliner keine gute Abstimmung hatten. Im eigenen Rückraum klaffte daher oft ein riesiges Loch, wodurch eine Vielzahl an Gegentoren zustande kam.
Auch in den Testspielen unter Fiél sind hier noch Probleme zu erkennen. Hertha muss noch mehr zweite Bälle vor dem eigenen Sechzehner gewinnen, um Druckphasen des Kontrahenten früher zu beenden. Auch gegnerische Läufe in den Zehnerraum bereiten dem Hauptstadtklub noch große Schwierigkeiten - das hat zuletzt Energie Cottbus im Testspiel entblößt.
Hier wird es vor allem auf Diego Demme ankommen. Der Routinier ist auf der "Sechs" zu Hause und dementsprechend genau für diesen Raum zuständig. Er bringt Qualitäten mit, über die kein anderer Hertha-Spieler verfügt - besonders im defensiven Gespür. Demme wurde erst vor zehn Tagen verpflichtet, konnte noch wenig mit dem Team trainieren. Ihm sollte das Trainingslager gut tun, um eine Verbindung zu seinen Mitspielern auf dem Feld aufzubauen - davon hängt die defensive Gesamtstatik bei Hertha ab.
Herthas Spielaufbau unter Fiél präsentiert sich bereits äußerst variabel und schwer ausrechenbar. Hier zeigen die Berliner ein deutlich anderes Gesicht als noch unter Pal Dardai – es geht sehr viel durchdachter und moderner zu. So gelingt es den Blau-Weißen sichtlich eleganter und stringenter, den Ball in die gegnerische Hälfte zu bringen.
Doch im letzten Angriffsdrittel hakt es noch ein wenig. Die Abstimmung zwischen den Spielern ist noch nicht ausgereift, weshalb es immer wieder zu mangelnder Präzision kommt. Hier wird das Trainerteam in den kommenden Tagen ansetzen müssen, denn besonders gegen tiefstehende Gegner braucht es noch mehr Lösungen vor dem Strafraum. "Durch die vielen Testspiele war bislang noch nicht so viel Zeit, weshalb wir im Trainingslager noch ein paar neue Inhalte hineinbringen wollen. Es wird auf jeden Fall um den Ball gehen", ließ Fiél bereits für das Trainingslager durchscheinen.
Klare Angriffsmuster mit noch mehr Stationen sind ein Mittel, aber auch eine bessere Strafraumbesetzung. Zu oft stand der Berliner Mittelstürmer in den Testspielen einsam im gegnerischen Sechzehner, sodass Zuspiele schwerfielen. Hertha wird daran arbeiten müssen, noch mehr Spieler in schussbereite Positionen zu bringen.
Sendung: rbb24 Inforadio, 17.07.2024, 22 Uhr
Beitrag von Marc Schwitzky
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