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Quelle: imago images/Fredric Kern

Fußball-Europameisterschaft

Was die DFB-Elf über Deutschland aussagt

Das Abschneiden deutscher Fußball-Nationalmannschaften wurde immer wieder als Gradmesser deutscher Befindlichkeiten genutzt. Die aktuelle DFB-Elf lässt in der Hinsicht noch reichlich Deutungsspielraum übrig. Von Ilja Behnisch

Werner Schulze-Erdel müsste man sein. Zumindest, um es ganz genau zu wissen. Rund 2.700 Mal hat der heute 76-Jährige die TV-Sendung "Familien-Duell" moderiert, in der er zu seinen Kandidaten immer und immer wieder "Wir haben 100 Menschen gefragt …", sagte und damit Momente für die Ewigkeit schuf. "Wir haben 100 Menschen gefragt: Nennen Sie einen Raum mit viel Beinfreiheit", lautete es dann etwa, worauf eine Kandidatin ein zeitlos schnödes wie schönes "Spanien" antwortete.

Nun befand sich "Spanien" überraschenderweise nicht unter den in der Show gesuchten zehn Top-Antworten. Fußball allerdings wäre wohl sicher darunter. Sofern die Aufforderung lauten würde: "Nennen Sie etwas, das sie mit Deutschland verbinden."

König Fußball regiert zwar die ganze Welt, in Deutschland aber unter besonderer Zustimmung. Der deutsche Fußball-Bund (DFB) ist mit fast 7,4 Millionen Mitgliedern der größte Sportverband des Planeten. Die Fußball-Stadien zwischen Hamburg und München sind so gut besucht wie nirgends sonst auf der Welt. Und die deutsche Nationalmannschaft zählt mit ihren drei Europa- und vier Weltmeister-Titeln zu den erfolgreichsten Teams überhaupt.

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"Wir sind wieder wer!"

Die enorme Bedeutung, die dem Fußball hierzulande beigemessen wird, führt auch dazu, dass er fortwährend als Projektionsfläche zur Beschreibung gesellschaftlicher Entwicklungen hergenommen wird. Es ist, als würde sich Deutschland alle zwei Jahre im Juni/Juli, immer zu Welt- oder Europameisterschaft, den Spiegel vor das Gesicht halten und fragen: Wer sind wir eigentlich?

Nun muss man an dieser Stelle auch die Henne-und-Ei-Frage stellen. Denn begonnen hat das alles 1954 mit dem "Wunder von Bern", dem ersten WM-Titel in der Geschichte des DFB. Neun Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs und fünf Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland siegte die Mannschaft von Sepp Herberger im Finale gegen die haushohen Favoriten aus Ungarn mit 3:2 und in der Heimat war man sich schnell einig: "Wir sind wieder wer!" Aber war man wieder wer, weil man ein Finale im Fußball gewann? Oder gewann man ein Finale im Fußball, weil man wieder wer war?

Zwanzig Jahre später jedenfalls wiederholte sich das Ganze. Zur Heim-WM 1974 war Deutschland ein anerkannter Teil der internationalen Gemeinschaft, spätestens nachdem ein halbes Jahr zuvor sowohl die Bundesrepublik als auch die Deutsche Demokratische Republik den Vereinen Nationen beigetreten waren. Wobei hiermit vermerkt sei, dass die Geschichte des deutschen Fußballs fast immer die Geschichte des westdeutschen Fußballs meint. Den Spagat zu bewältigen, der hinter dieser Feststellung steckt, muss aber Gegenstand eines anderen Textes sein.

Immerhin trafen bei der Weltmeisterschaft 1974 beide deutschen Nationalmannschaften aufeinander. So viel sei vermerkt. Und während die DDR das direkte Duell mit 1:0 für sich entschied, gewann die BRD das letzte Turnier-Spiel und damit den Titel. Schiedlich-friedlich, könnte man sagen, und es würde gut passen zum Bild, dass die (West-)Deutschen damals von sich, ihrem Fußball und dem Standing in der Welt gehabt haben dürften.

Multikulti oder Nationalismus?

Die 68er hatten Einzug gehalten. Ein freies, fast schon lockeres Deutschland gab den geschätzten Gastgeber. Die Stars der Mannschaft, ob Franz Beckenbauer, Paul Breitner oder Gerd Müller, waren nach Kriegsende geboren und entweder apolitisch (Müller), Weltbürger (Beckenbauer) oder zumindest fürs Fotoshooting links (Breitner mit der Mao-Bibel). Eine Mannschaft, die schon zwei Jahre zuvor, bei der gewonnenen Europameisterschaft 1972, furios agierte und Deutschland auf und neben dem Platz frei und spielerisch erschienen ließ.

Weitere 18 Jahre später dann der dritte WM-Titel, im Wiedervereinigungsjahr 1990. Franz Beckenbauer, nun Teamchef, wagte hernach eine historische Prognose und wähnte den deutschen Fußball auf Jahre hinaus unschlagbar. Jetzt, da auch die ostdeutschen Edel-Kicker dazukommen würden. Der Jubel über den Titel von Rom war gesamtdeutsch und getragen von einer historischen Euphorie, in deren Zuge man in Deutschland an Vieles glaubte, auch an blühende Landschaften.

Beckenbauer sollte sich getäuscht haben. Wie zum Ausgleich organisierte er als OK-Chef die Heim-WM 2006 - das sogenannte Sommermärchen, dessen vermeintliches Revival nun, 18 Jahre später, so oft in der Hoffnung bemüht wird, erneut ein fröhliches, gastfreundliches Deutschland zu erleben - in dieser Hinsicht nur übertroffen vom Sommer 2014, dem Sommer des vierten WM-Titels von Brasilien. Ein Titel, leichtfüßig errungen von einer multikulturellen Mannschaft für ein leichtfüßig, multikulturelles Land. So schien es.

Dem gegenüber stehen Studien, die besagen, dass der Nationalismus in Deutschland nach dem Sommermärchen von 2006 zugenommen hat. Dem gegenüber steht eine Umfrage aus dem Sommer 2024, die besagt, dass "21 Prozent der Deutschen es besser fänden, wenn wieder mehr Spieler mit weißer Hautfarbe in der deutschen Nationalmannschaft spielen würden." Beides eindrucksvoll nachzuspüren in der ARD-Dokumentation "Einigkeit und Recht und Vielfalt" [daserste.de].

2:0-Sieg im Achtelfinale

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Mit einem 2:0-Sieg über Dänemark hat die deutsche Fußball-Nationalmannschaft das Viertelfinale bei der Heim-EM erreicht. Kai Havertz und Jamal Musiala haben die Partie, die zunächst wegen eines Unwetters unterbrochen wurde, entschieden.

Man mag es kaum glauben, wenn man dieser Tage auf die Fanmeilen in ganz Deutschland schaut. Man mag es kaum glauben, wenn man sich umhört bei denen, die zur EM zu Gast sind in diesem Land und sich so willkommen fühlen. Man mag es kaum glauben, wenn man derzeit durch Berlin läuft - rund um die Spiele der deutschen Mannschaft, weil so viele Schwarz-Rot-Gold tragen dann. Ob alt, ob klein. Ob mit türkischen, nigerianischen oder Brandenburger Wurzeln. Und vielleicht ist es genau das, diese Ambivalenz, die Deutschland 2024 mit seiner Nationalmannschaft verbindet. Die ja auch zwischen wahnsinnig brillant und wahnsinnig anfällig changiert.

Man müsste Werner Schulze-Erdel sein und sagen können: "Wir haben 100 Menschen gefragt: Nennen Sie etwas, das sie mit der Fußball-Europameisterschaft 2024 verbinden." Immerhin: Spanien, so sieht es derzeit aus, hätte dieses Mal ganz gute Chancen, eine Top-Antwort zu sein.

Sendung: rbb|24 Inforadio, 02.07.2024, 09:15 Uhr

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