Fußball-Europameisterschaft
Die Europameisterschaft ist vorbei, lang lebe die Europameisterschaft. Denn neben aller Freude, die das Turnier vielen Menschen gebracht hat, lässt sich auch sportlich einiges in den Alltag retten. Von Ilja Behnisch
Liebe Traditionalisten, Sie müssen jetzt ganz stark sein, denn im Folgenden geht es um: Learnings. Und nein, man kann eben nicht einfach "Erkenntnisse" schreiben, wenn es darum gehen soll, was die nun vergangene Europameisterschaft denn mitzugeben hat in den fußballerischen Alltag von, sagen wir mal, Hertha BSC und Union Berlin zum Beispiel. Denn Erkenntnisse klingt nach "könnte man mal machen". Learnings hingegen nach "muss man so machen!". Viel zwingender also. Und zwingend ist gut. Zumindest im Fußball.
Wobei die Beschränkung auf Hertha und Union allein der Bequemlichkeit dient. Denn Learnings lassen sich natürlich beliebig, Achtung, skalieren. Weshalb man sich schon darauf freuen darf, dass demnächst irgendein Kreisliga-Trainer seine Mannschaft mit Aussagen folgender Größenordnung überrascht: "So wie Spanien im Finale gegen England!"
Nun hat mit Spanien die entschieden stärkste Mannschaft triumphiert bei dieser Europameisterschaft. Oder um es mit den Worten des Fußball-Gelehrten und Ex-Nationalspielers Lukas Podolski zu sagen: "Manchmal gewinnt der Bessere." Ob die Spanier dabei auch noch über die besten Einzelspieler verfügten, wie ihr Trainer Luis de la Fuente befand, oder ob dieses Zeugnis nicht eher den Engländern, Franzosen, Portugiesen oder gar Deutschen zustünde, darüber ließe sich trefflich streiten. Und es wäre zugleich ganz egal. Denn, und das ist Learning Nummer eins: Fußball bleibt ein Mannschaftssport und ist doch mehr als "11 Freunde müsst ihr sein".
Neben den Überraschungsteams wie Georgien, Österreich oder der Türkei war EM-Sieger Spanien neben aller individueller Klasse auch deshalb so stark, weil jeder Spieler zu jeder Zeit wusste, was er zu tun hatte. Bei den Spanien war dabei das Resultat einer eineinhalb Jahre andauernden Zusammenarbeit von Trainer und Team zu bestaunen. Eine Zusammenarbeit, an deren Beginn im März 2023 eine 0:2-Niederlage in Schottland stand. Mit fast identischem Kader. In einem EM-Qualifikationsspiel wohlgemerkt. Nicht in einem unbedeutenden Testspiel.
"Wenn man die Spanier sieht durch ein ganzes Turnier, da gibt es einen Plan für jede Phase des Spiels. Ob der Gegner hoch anläuft, tief anläuft, ob die selbst hoch anlaufen, selbst tief dann stehen", sagte Bo Svensson nun im Trainingslager von Union Berlin und nach seiner Vorstellung von gemeinsamem Spiel befragt.
Es ist das, was Julian Nagelsmann auch für seine deutsche Elf im Kopf hatte, als er im März dieses Jahres begann, von klaren Rollenprofilen für die Mannschaft zu sprechen. Es ist das, was viele Bundesliga-Trainer meinen, wenn sie von Entwicklungen, Prozessen und noch zu findenden Automatismen sprechen. Und das war es auch, was Union unter Urs Fischer so stark gemacht hat und bis auf Platz vier in der Bundesliga brachte.
Eine gemeinsame Idee, so Bo Svensson weiter, führe dazu, dass die Spieler "schneller spielen" könnten, weil "viele Spieler nehmen die gleiche Situation gleich wahr".
Die hohe Kunst nun ist es, herauszufinden, wie komplex eine gemeinsame Idee zum jeweiligen Zeitpunkt sein darf. Deutschland etwa, das einen ähnlichen, spielerischen Ansatz wie Spanien verfolgte, hängt noch ein gutes Stück hinterher in der Entwicklung.
Womit wir wieder bei Union Berlin sind. Ausgerechnet in der Saison der ersten Champions League-Teilnahme hatte sich der Klub in der vorigen Spielzeit in jeder Hinsicht vergaloppiert. Der Kader gab plötzlich nicht mehr für jede Position genügend Alternativen oder gar überhaupt Qualität her. Zudem schien es plötzlich gleich mehrere Ideen zu geben innerhalb der Mannschaft, wie Fußball denn nun genau auszusehen habe. Ein Köpenicker EM-Learning dürfte also sein, dass es wieder eine gemeinsame, demütige Vorstellung davon braucht, wie Union-Fußball auszusehen hat. Die gute Nachricht für alle Fans: Mit Bo Svensson scheint man dafür genau den richtigen Trainer verpflichtet zu haben.
Ein weiteres EM-Learning dürfte eher Stadtrivale Hertha BSC betreffen. Zwar hat Ex-Bundestrainer Rudi Völler schon vor 20 Jahren zu Protokoll gegeben, es gäbe keine Kleinen mehr. Inzwischen hat diese Erkenntnis aber tatsächlich auch die Kleinen erreicht. Ob Slowenien, die Slowakei oder Georgien — sie alle verteidigten bei dieser EM auf hohem Niveau. Taktisch diszipliniert, jederzeit mannschaftlich geschlossen. Den Aufstiegskandidaten Hertha BSC werden in der kommenden Zweitliga-Saison ähnliche Bollwerke erwarten.
Die engen, taktischen Korsette der Europameisterschafts-Defensiven ließen sich zumeist nur über herausragende Einzelaktionen lösen. Vielleicht also sollte Hertha trotz der unbedingten Kader-Aufwertung durch die Neuzugänge Cuisance, Demme und Sessa eine Anfrage einreichen beim Berliner Senat. So etwas wie den "Reese-Rubel". Damit Fabian Reese, DER Unterschieds-Spieler der Hertha schlechthin, den Klub nicht doch noch oder tatsächlich Richtung Bundesliga verlässt.
Ansonsten, ließe sich noch festhalten, sind bei der EM vor allem in der Gruppenphase Eigentore satt gefallen. Wobei das wohl weniger ein Learning ist, als eine Erkenntnis. Sie wissen schon.
Sendung: rbb|24, 15.07.2024, 19:15 Uhr
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